Schlagwort-Archive: Eigenmächtige Abwesenheit

Rechtsmittel I: Eigenmächtig abwesend und Revision, oder: Wenn der BGH eine Fortbildung macht

entnommen wikimedia.org
Urheber Photo: Andreas Praefcke

Und weiter geht es. Heute mit Entscheidungen zum Rechtsmittelrecht. Und da stelle ich als erstes den BGH, Beschl. v. 19.08.2021 – 4 StR 410/20. Der BGH nimmt mal wieder zur ausreichenden Begründung der Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) Stellung.

Er beginnt mit einem gerügten Verstoß gegen §§ 230, 231 Abs. 2 StPO – eigenmächtige Abwesenheit des Angeklagten. Da reicht dem BGH der Revisionsvortrag nicht:

„Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dem Angeklagten nachzuweisen, dass sein Ausbleiben auf Eigenmächtigkeit beruht. Dabei entscheidet das Revisionsgericht auf Grundlage der Tatsachen, die ihm zum Entscheidungszeitpunkt bekannt und die erforderlichenfalls im Wege des Freibeweises festzustellen sind. Dagegen spielt nach der Rechtsprechung keine Rolle, ob anhand der dem Tatrichter bekannten Tatsachen Eigenmächtigkeit anzunehmen war; eine Bindung an die vom Tatrichter festgestellten Tatsachen besteht nicht (BGH, Urteil vom 26. Juni 1957 ? 2 StR 182/57, BGHSt 10, 304; Urteil vom 26. Juli 1961 ? 2 StR 575/60, BGHSt 16, 178, 180; Beschluss vom 8. Januar 1997 ? 5 StR 625/96; Beschluss vom 6. Juni 2001 ? 2 StR 194/01 Rn. 7; Beschluss vom 27. Juni 2018 ? 1 StR 616/17 Rn. 14 ff.; offengelassen in BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 ? 3 StR 282/11; missverständlich BGH, Beschluss vom 12. Januar 2012 ? 1 StR 474/11; für Bindung des Revisionsgerichts an die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Tatrichters Becker in LR-StPO, 27. Aufl., § 231 Rn. 44; Maatz, DRiZ 1991, 200).

Von diesem Prüfungsmaßstab des Revisionsgerichts unberührt bleiben die Erfordernisse des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Denn der Frage, nach welchen Grundsätzen die der Rüge zugrunde liegenden Tatsachen zu ermitteln sind, geht stets die auf Grund der Rechtfertigungsschrift vorzunehmende Prüfung des Revisionsgerichts voraus, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn von den behaupteten Tatsachen ausgegangen wird. Um eine erste Nachprüfung aufgrund der Revisionsbegründung zu ermöglichen, gehört daher bei einer auf die Verletzung von §§ 230, 231 Abs. 2 StPO gestützten Verfahrensrüge zu den Darlegungspflichten die Behauptung, dass der Angeklagte der Hauptverhandlung nicht eigenmächtig ferngeblieben sei, und die Erläuterung dieser Behauptung (vgl. BGH, Urteil vom 25. Juli 1973 ? 2 StR 20/73; Beschluss vom 10. April 1981 ? 3 StR 236/80 Rn. 7; Urteil vom 6. März 1984 ? 5 StR 997/83 Rn. 4; Beschluss vom 29. April 2015 ? 1 StR 235/14 Rn. 25).

c) Daran gemessen genügt das Revisionsvorbringen im vorliegenden Fall nicht den Darlegungsanforderungen zur fehlenden Eigenmächtigkeit.

Zwar lässt sich der Verfahrensrüge noch entnehmen, der Angeklagte sei erkrankt und habe sich am geplanten Rückreisetag in stationäre Behandlung der neurologischen Abteilung einer Klinik in G. im Kosovo begeben.

Jedoch reicht dieses Revisionsvorbringen als Behauptung, der Angeklagte sei der Hauptverhandlung nicht eigenmächtig ferngeblieben, nicht aus. Das Vorbringen ist unsubstantiiert, da nicht mitgeteilt wird, dass der Krankenhausaufenthalt gerade zu dem betreffenden Zeitpunkt medizinisch geboten und der Angeklagte dadurch zwingend gehindert war, an diesem Tag die Rückreise nach Deutschland anzutreten. Die Revisionsbegründung hätte sich näher zum Anlass der Aufnahme in das Krankenhaus verhalten müssen, namentlich dazu, ob die Aufnahme einer unaufschiebbaren Untersuchung oder Behandlung diente, sowie darlegen müssen, wie sich der Gesundheitszustand des Angeklagten auf seine Reisefähigkeit auswirkte. Dies lässt sich weder dem Tatsachenvortrag noch der rechtlichen Wertung in den Revisionsbegründungsschriften entnehmen.“

Und auch im Übrigen hat es mit der Begründung gehapert:

„2. Auch die weiteren Verfahrensrügen greifen nicht durch.

a) Die Verfahrensrüge, mit der eine Verletzung von § 244 Abs. 2 StPO im Hinblick auf den Antrag gerügt wird, eine näher bezeichnete Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft beizuziehen und darin befindliche Unterlagen auswerten zu lassen, ist bereits unzulässig. Die Rüge enthält weder eine Tatsachenbehauptung noch gibt sie ein konkretes Beweismittel an, zu dessen Erhebung sich das Landgericht hätte gedrängt sehen müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2012 ? 1 StR 407/12 Rn. 27; Urteil vom 10. Dezember 1997 ? 3 StR 389/97; Urteil vom 25. April 1991 ? 4 StR 582/90).

b) Auch die Rüge, das Landgericht habe § 338 Nr. 8 StPO durch die Ablehnung eines Unterbrechungsantrags vom 24. April 2020 verletzt, ist nicht zulässig erhoben, weil eine Übersetzung des dem Antrag beigefügten Attests in albanischer Sprache nicht vorgelegt worden ist. Schriftliche Eingaben in fremder Sprache sind grundsätzlich unbeachtlich (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Juli 1981 ? 1 StR 815/80; vom 13. September 2005 ? 3 StR 310/05; vom 9. Februar 2017 ? StB 2/17 Rn. 9; Beschluss vom 30. November 2017 ? 5 StR 455/17). Eine Pflicht zur Übersetzung von Amts wegen ergibt sich vorliegend auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (vgl. EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2015 ? C-216/14 [Gavril Covaci], NJW 2016, 303) schon deshalb nicht, weil diese Entscheidung nur den nichtverteidigten Beschuldigten betrifft (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2017 ? StB 2/17 Rn. 10; vom 30. November 2017 ? 5 StR 455/17; Allgayer in BeckOK GVG, 12. Ed. Stand: 15. Februar 2021, § 184 Rn. 5).

c) Dasselbe gilt für die Rüge der Verletzung von § 338 Nr. 3 StPO durch die Ablehnung eines Befangenheitsantrags, der sich seinerseits auf die Zurückweisung des Unterbrechungsantrags stützt. Für die Beurteilung des Befangenheitsantrags ist wiederum das Attest von Bedeutung, so dass eine Übersetzung in die deutsche Sprache hätte vorgelegt werden müssen.

d) Den übrigen Verfahrensbeanstandungen bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts der Erfolg versagt.“

Es ist immer schlecht, wenn der BGH eine Fortbildung im Revisionsrecht macht.