Schlagwort-Archive: Coronapandemie

Pflichti II: Kein Sicherungsverteidiger wegen Corona-Pandemie, oder: Aber Rechtsmittel zulässig

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um den OLG Hamm, Beschl. v. 05.05.2020 – 4 Ws 94/20. Den hat der Kollege Urbanzyk aus Coesfeld erstritten.

In dem Verfahren, in dem der Kollege tätig war – Vorwur der sexuellen Nötigung – ist ein Sicherungsverteidiger beantragt worden (jetzt § 144 StPO). Begründet worden ist das mit der Corona-Pandemie und dem Risiko, dass ggf. Verfahrensbeteiligte, also auch der Verteidiger, nicht (weiter) an der Hauptverhandlung teilnehmen können. Das hat das LG abgelehnt. Dagegen die sofortige Beschwerde, die das OLG zurückgewiesen hat. Hier die Begründung, wobei es mir um die Ausführungen des OLG zur Zulässigkeit des Rechtsmittels geht:

„Der Senat nimmt gleichfalls Bezug auf die zutreffenden Erwägungen in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft. Ohne weitere Anhaltspunkte (etwa konkrete Krankheitsverdachtsfälle im näheren Umfeld des ersten Pflichtverteidigers o.ä.) ergibt sich derzeit aus der Ansteckungsgefahr mit der Covid-19-Erkrankung kein Risiko, welches nennenswert über das allgemeine Risiko, dass Verfahrensbeteiligte krankheitsbedingt an der Hauptverhandlung nicht teilnehmen können, hinausgeht. Die Zahl der Infektionen bzw. Neuinfektionen war und ist – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – sehr gering. Zudem bestünde selbst im Falle einer Infektion angesichts des meist milden Krankheitsverlaufs und – nach derzeitigem Stand – nach dem Ablauf von zwei Wochen nach einer Infektion nicht mehr bestehender Ansteckungsgefahr eine erheblich überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass die Hauptverhandlung bei krankheitsbedingtem Ausfall einzelner Hauptverhandlungstage immer noch innerhalb der Fristen des § 229 StPO fortgesetzt werden kann.

Ergänzend bemerkt der Senat, dass das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde nach § 144 Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. § 142 Abs. 7 StPO auch in den Fällen statthaft ist, in denen die erstmalige Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers (Sicherungsverteidigers) abgelehnt wurde. Zwar spricht die Einordnung der Regelung über die Geltung des § 142 Abs. 7 StPO als S. 2 von § 144 Abs. 2 StPO zunächst einmal dafür, dass sich der Verweis auch nur auf Rechtsmittel gegen Entscheidungen nach § 144 Abs. 2 S. 1 StPO (also die Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers) bezieht. Abgesehen davon, dass kein vernünftiger Grund erkennbar ist, warum die Bestellung oder Nichtbestellung eines (ersten) Pflichtverteidigers nach § 142 Abs. 7 StPO sowie die Aufhebung der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers, nicht aber die Bestellung oder Ablehnung der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers mit dem Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde anfechtbar sein soll, geht der Gesetzgeber selbst von einer entsprechenden Anfechtbarkeit aller dieser Fälle aus (BT-Drs. 19/13829 S, 50; vgl. auch: Beck-OK-StPO-Krawczyk, 36. Ed., § 144 Rdn. 12).

Der Angeklagte hat auch ein Rechtsschutzinteresse bzgl. eines Rechtsmittels gegen die Nichtbestellung eines Sicherungsverteidigers. § 144 Abs. 1 StPO dient nicht nur dem öffentlichen Interesse der Verfahrenssicherung im Sinne einer effektiven Strafrechtspflege, sondern auch dem Interesse des Angeklagten an der Wahrung des Beschleunigungsgrundsatzes (vgl. BT-Drs. 19/13829 S, 49 f.).“

Corona III: Kommissarische Vernehmung wegen Coronapandemie, oder: Nach Fristhemmung widersprüchlich?

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und die dritte Entscheidung, die ich heute vorstelle, kommt mit dem LG Halle, Beschl. v. 01.04.2020 -2 KLs 901 Js 37391/18 (13/18) – vom LG Halle. Er lässt mich ein wenig ratlos zurück. Denn:

Das LG befindet sich in laufender Hauptverhandlung. Die wird nach dem letzten Hauptverhandlungstermin am 11.03.2020 gem. § 229 Absatz 1 StPO unterbrochen. Nach Inkrafttreten des § 10 EGStPO beschließt die Strafkammer dann am 30.03.2020 mit Wirkung ab 30.03.2020 die Hemmung der Unterbrechungsfrist der Hauptverhandlung gem. § 10 Satz 1, 1. Halbs. EGStPO gehemmt. So weit, so gut. Bis dahin noch alles nachvollziehbar. Aber dann beschließt sie am 01.04.2020 die kommissarische Vernehmung einer Zeugin gem. § 223 Abs. 1 StPO mit der Begründung „nicht zu beseitigendes Hindernis von ungewissser Dauer“:

„Die Entscheidung folgt aus § 223 Abs. 1 StPO. Es besteht mit der gegenwärtigen Coronaepedemie ein nicht zu beseitigendes Hindernis von ungewisser Dauer. Die Zeugin ist Mutter zweier schuldpflichtiger Kinder und musste aufgrund der gegenwärtigen Lage bereits einmal abgeladen werden. So sieht die Zweite Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 des Landes Sachsen-Anhalt vom 24. März 2020 in § 18 Absatz 1 bereits vor, physische Kontakte zu anderen Personen auf ein absolutes Minimum zu beschränken. Die Zeugin lebt gegenwärtig in Hamburg. Sie hat bereits einmal vor der Polizei und in dem abgetrennten Verfahren gegen den ehemaligen Mitangeklagten pp. vor der Kammer ausgesagt. Das Verfahren gegen den jetzigen Angeklagten musste seinerzeit abgetrennt werden, weil dieser zwar zum anberaumten Hauptverhandlungstermin erschien, sich dann aber darauf berief, nicht rechtzeitig geladen worden zu sein.

Die Verurteilung gegen den ehemaligen Mitangeklagten pp. wegen Bestechlichkeit unter Beteiligung des jetzigen Angeklagten erwuchs zum Teil in Rechtskraft. Die Zeugin hatte seinerzeit zur Rolle des pp. ausgesagt, wie auch aus den Urteilsgründen zu entnehmen ist.

Der Angeklagte ist zum Hauptverhandlungstermin am 30. März 2020 nicht erschienen. Er legte wie bereits zweimal zuvor eine ärztliche Bescheinigung über eine Erkrankung und eine damit verbundene Verhandlungsunfähigkeit und jetzt bestehende Reiseunfähigkeit vor. Auf telefonische Nachfrage in der Arztpraxis wurde zunächst mitgeteilt, dass der Angeklagte sich dort nur telefonisch gemeldet habe. Später teilte die behandelnde Ärztin dann in einem weiteren Telefonat mit dem Vorsitzenden abweichende von der ursprünglichen Auskunft mit, dass der Angeklagte bei ihr vorstellig geworden sei. Er habe seine Krankheitssymptome geschildert, sie habe ihn zwar untersucht, aber kein Fieber gemessen, ihre Diagnose erstellt und dem Angeklagten Bettruhe verordnet.

Geht man davon aus, dass die gegenwärtige Lage eine Nachsicht gegenüber dem Angeklagten bei der Frage der Zumutbarkeit des Erscheinens vor Gericht gebietet, so muss dies auch der Zeugin pp. zugestanden werden, zumal sich der Angeklagte bisher noch nicht bestreitend zur Sache in der Hauptverhandlung eingelassen hat. Auch die Amtsaufklärungspflicht gebietet in der Gesamtschau zur Zeit nicht das persönliche Erscheinen der Zeugin.“

Ratlos? Ja, denn ich verstehe das widersprüchliche Verhalten nicht. Einerseits Hemmung, andererseits aber auch kommissarische Vernehmung. Da habe ich erhebliche Zweifel, ob das so geht. Vor allem frage ich mich: Müssen denn nicht im Zeitpunkt der offenbar geplanten Verlesung der Aussage der Zeugen in der demnächst fortgeführten Hauptverhandlung nach § 251 Abs. 2 Nr. StPO demnächst noch die Voraussetzungen für die Anordnung der kommissarischen Vernehmung pp. vorliegen? Eine ganz interessante Frage, die ich bejahen würde, mit der Folge, dass dann neu über das Vorliegen befunden werden müsste. Und wenn die Voraussetzungen nicht (mehr) vorliegen, muss die Zeugin in der Hauptverhandlung vernommen werden.

Im Moment kann man da allerdings nicht viel tun. § 305 Satz 1 StPO lässt grüßen. Man kann Beschwerde einlegen, das wird aber im Zweifel nicht viel bringen.