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Pflichti I: Pflicht zur Bestellung eines Verteidigers, oder: Ausdrücklicher Antrag nicht erforderlich, sagt der BGH

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Heute stelle ich dann wieder drei Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfargen vor. Nun nicht ganz, denn bei einer geht es nicht um einen Pflichtverteidiger, sondern um einen gemeinschaftlichen Nebenklagebeistand. Passt aber.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 04.06.2021 – 2 BGS 254/21, also ein Ermittlungsrichterbeschluss. Ergangen ist der Beschluss in einem Ermittlungsverfahren des GBA wegen des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§§ 129a Abs. 1 Nr. 1 und 5, 129b Abs. 2 Satz 1, 2 StGB). Am 22.04.2021 wurden die Wohnräume des Beschuldigten und unter Hinzuziehung einer Psychologin des BKA im Einverständnis des Beschuldigten auch das „Pflegezimmer im Klinikum G“, in dem sich ser Beschuldigte als Patient aufhielt durchsucht. Hierbei wurden verschiedene Datenträger beschlagnahmt. Im Zuge der Durchsuchung seines „Pflegezimmers“ wurde der Beschuldigte nach Eröffnung des Tatvorwurfs über sein Schweige- und Konsultationsrecht, nicht hingegen nach § 136 Abs. 1 Satz 5 StPO belehrt. Der Beschuldigte „forderte“ hierauf einen Rechtsanwalt. Im Vermerk der zuständigen POK-in heißt es: „[Dies] wurde ihm gewährt.“ Zudem wird ausgeführt, dass der Beschuldigte  angegeben habe, „eine Vernehmung nur in Anwesenheit eines Rechtsbeistandes durchführen“ zu wollen; bis zum Eintreffen eines noch zu bestellenden Rechtsanwalts habe er „dem Fortgang der Maßgaben“ zugestimmt. Der Anruf in einem Rechtsanwaltsbüro blieb ohne Erfolg.

In der Folgezeit äußerte sich der Beschuldigte wiederholt – im Rahmen von „mehreren Gesprächen“ mit den Polizeikräften nach Hinweisen auf sein Schweigerecht – auch zur Sache. Mit Beschluss vom 25.4.2021 ordnete das AG die einstweilige Unterbringung des Beschuldigten „in dem abgeschlossenen Teil des Fachklinikum G. bis zum Ablauf des 5. Juni 2021“ an. DerB wurde dort medikamentös behandelt. Am 4.6.2021 erfolgte eine telefonische Rücksprache des Ermittlungsrichters zur Frage der Pflichtverteidigerbestellung mit dem GBA. Dem GBA wurde nahegelegt, einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu stellen, anderenfalls sei beabsichtigt, von Amts wegen die gerichtliche Bestellung eines Rechtsanwalts oder einer Rechtsanwältin zu prüfen. Der GBA nahm Stellung und führte u.a. aus, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers zum jetzigen Zeitpunkt nicht geboten sei. Ein Antrag gem. § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO liege nicht vor, und auch die Voraussetzungen des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 3 StPO seien nicht erfüllt.

Der BGH hat das anders gesehen und einen Pflichtverteidiger bestellt. Er begründet das – recht umfassend -, und zwar u.a. so:

„a) Für dieses Normverständnis spricht zunächst der Gesetzeswortlaut.

aa) Nach den Maßgaben des neugefassten § 141 Abs. 2 Satz 1 StPO wird dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung, „unabhängig“ von dessen Antrag ein Pflichtverteidiger bestellt. Dieser ausdrückliche Hinweis auf die fehlende Antragsnotwendigkeit gewinnt auch dadurch an Gewicht, dass an dieser Stelle des Regelungsgefüges des Rechts der notwendigen Verteidigung lediglich der Zeitpunkt für die Bestellungsentscheidung bestimmt wird, und die formalen Fragen systematisch § 142 StPO überantwortet werden. Denn hiermit wird erkennbar zum Ausdruck gebracht, dass der Zeitpunkt der gerichtlichen Bestellungsentscheidung nicht von prozessualen Erwirkungshandlungen der Staatsanwaltschaft oder des Beschuldigten abhängig ist und diese nicht – gerichtlich unkontrolliert – zu deren Disposition steht.

bb) Der Wortlaut der gesetzlichen Zuständigkeitsregelung aus § 142 Abs. 3 StPO enthält keinen Hinweis auf die Notwendigkeit des Antrags eines Verfahrensbeteiligten. Auch die in § 142 Abs. 1 und 2 StPO geregelten Antragsbefugnisse von Beschuldigtem und Staatsanwaltschaft lassen keinen zwingenden Schluss darauf zu, dass daneben eine gerichtliche Bestellung unabhängig von solchen prozessualen Erwirkungshandlungen ausgeschlossen sein soll.

b) Ferner erhellt eine systematische Betrachtung, dass das Recht der notwendigen Verteidigung auch ansonsten gerichtliche Entscheidungen nicht zwingend an prozessuale Erwirkungshandlungen bindet (vgl. § 141 Abs. 3, §§ 143, 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, § 144 StPO). Systematische Friktionen sind durch die von Amts wegen bestehende Zuständigkeit des Ermittlungsrichters nicht zu besorgen.

aa) Diese Pflicht des Ermittlungsrichters berührt keine ureigenen Belange der Staatsanwaltschaft. Dies gilt namentlich für Zuständigkeitsfragen. Im Ermittlungsverfahren ist nunmehr nach § 142 Abs. 3 Nr. 1 und 2 StPO allein noch zuständig der Ermittlungsrichter; erst mit Erhebung der Anklage geht die Zuständigkeit über auf den Vorsitzenden des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO). Das Wahlrecht der Staatsanwaltschaft aus § 141 Abs. 4 StPO a.F. besteht nicht mehr (vgl. hierzu noch BGH [ER], Beschluss vom 9. September 2015 – 3 BGs 134/15, NJW 2015, 3383, 3384).“

Den Rest dieser Entscheidung bitte selbst im Volltext lesen.

Zur Entscheidung zwei kurze Anmerkungen:

  1. M.E. eine zutreffende Entscheidung, die deutlich darauf hinweist, dass bei der Neuregelung der Schutz des Beschuldigten im Vordergrund stand und irgendwelche „prozessualen Erwirkungshandlungen der Staatsanwaltschaft“ und/oder Gerichts für die Bestellung eines Pflichtverteidigers ohne Bedeutung sind. Wenn die Voraussetzungen für die Bestellung vorliegen, ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Damit sollte das teilweise immer noch anzutreffende „Herumgeeiere“ in der Praxis nun aber endgültig erledigt sein.
  1. Im Übrigen: Für mich ist es nicht nachvollziehbar, warum der GBA die Äußerungen des Beschuldigten, der einen Rechtsanwalt „forderte“ und angegeben hat, „eine Vernehmung nur in Anwesenheit eines Rechtsbeistandes durchführen“ zu wollen, nicht als ausdrücklichen Antrag angesehen hat. Ich räume ein: Der wäre natürlich lästig gewesen.

Pflicht II: Nachträgliche Bestellung +, oder: Antrag des Betroffenen erforderlich?

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, stammt vom LG Frankenthal. Das hat im LG Frankenthal, Beschl. v. 16.06.2020 – 7 Qs 114/20 – noch einmal zur nachträglichen Bestellung des Pflichtverteidigers und zu den Bestellungsvoraussetzungen nach neuem Recht Stellung genommen.

Das AG hatte den Antrag der Kollegin Kosian, die mir den Beschluss geschickt hat, sie als Pflichtverteidigerin beizuordnen zurückgewiesen, da zum einen die nachträgliche, rückwirkende Bestellung für das aufgrund der Einstellung durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 170 Abs. 2 StPO abgeschlossene Ermittlungsverfahren unzulässig und ausgeschlossen sei; zum anderen läge zwar ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 141 Abs. 1 Nr. 2 StPO vor, jedoch habe der damalige Beschuldigte vor der Beschuldigtenvernehmung nicht beantragt, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen; vor der Vernehmung sei kein ausdrücklicher Verzicht des Beschuldigten protokolliert.

Dagegen die Beschwerde der Kollegin. Das LG hat – zutreffend – aufgehoben:

„Die sofortige Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft und auch sonst zulässig; insbesondere ist die Beschwer des Beschuldigten nicht dadurch entfallen, dass das Ermittlungsverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde und die Beiordnung rückwirkend erfolgen muss. Entgegen der Auffassung einiger Oberlandesgerichte erachtet die Kammer eine rückwirkende Verteidigerbestellung auch nach Verfahrensabschluss zumindest in denjenigen Fällen für möglich (und nicht etwa für prozessual überholt), in denen der entsprechende Beiordnungsantrag noch rechtzeitig vor dem Verfahrensende bei Gericht gestellt wurde. Der Hinweis, dass die §§ 140 ff. weder dem Kosteninteresse des Verteidigers noch des Beschuldigten dienen, übergeht Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, der ausdrücklich den mittellosen Beschuldigten erwähnt und somit auch das Kosteninteresse des Beschuldigten in seinen Schutzzweck aufnimmt. Zudem würde die Versagung einer rückwirkenden Bestellung trotz rechtzeitigen Beiordnungsantrags dazu führen, dass der mittellose Beschuldigte auf Verteidigung – trotz Vorliegens der Voraussetzungen notwendiger Verteidigung – verzichten müsste, also nicht nur auf Kostenerstattung, da Rechtsanwälte in Kenntnis einer Versagung rückwirkender Bestellungen in der Endphase eines Verfahrens nicht mehr zur Übernahme der Verteidigung mittelloser Beschuldigter bereit wären“ (vgl. MüKo § 141 Rn. 9 unter Verweis auf die Rechtsprechung zahlreicher Landgerichte) bzw. zumindest effektiv keine Tätigkeit zugunsten ihres Mandanten entfalten würden. Im Ergebnis geht die Verzögerung der Bescheidung von Beiordnungsanträgen daher mit einer erheblichen Belastung des Beschuldigten einher, welche so nicht hinzunehmen ist.

Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.

Die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO n. F. sind erfüllt – es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor (Tatvorwurf der schweren Brandstiftung nach § 306 Abs. 1 Nr. 1 StGB), dem Beschuldigten wurde der Tatvorwurf eröffnet und er hatte seinerzeit noch keinen Verteidiger. Soweit die Staatsanwaltschaft annimmt, es sei erforderlich, dass der darüber hinaus gebotene Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung seitens des Beschuldigten sofort nach der Belehrung und noch vor dessen Erstvernehmung gestellt werden müsse, vermag die Kammer dem nicht beizupflichten. Der Wortlaut trägt diese Auslegung nicht – „nach Belehrung“ erfolgt eine Antragstellung auch dann, wenn sie Tage, Wochen oder Monate später gestellt wird. Ein endgültiger Verzicht auf die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Vorverfahren kann der vorliegenden Erklärung des Beschwerdeführers sicherlich nicht entnommen werden, zumal an der Wirksamkeit eines solchen in Anbetracht seiner intellektuellen Ausstattung (Minderbegabung) ohnedies erhebliche Zweifel geboten wären. Wieso es dem Beschuldigten nur vor der ersten Vernehmung möglich sein sollte, eine Pflichtverteidigung für das Ermittlungsverfahren, in welchem möglicherweise noch zahlreiche weitere, ebenso belastende Vernehmungen folgen, herbeizuführen, ist unerfindlich und entspricht aus Sicht des Gerichtes gerade nicht der ratio legis.

Auch § 141 Abs. 2 S. 3 StPO n. F. steht im vorliegenden Fall der Beiordnung nicht entgegen. Die Möglichkeit, von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO, demzufolge einem Beschuldigten unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, wenn er dies ausdrücklich beantragt. Einen solchen Antrag (welcher konkludent die Erklärung beinhaltet, im Falle einer Bestellung das Wahlmandat niederzulegen) hat die Verteidigerin hier am 01.04.2020 für den Beschuldigten gestellt. Zu diesem Zeitpunkt hätte mithin unverzüglich – also insbesondere: vor Verfahrenseinstellung! – ihre Beiordnung erfolgen müssen.“