Pflicht II: Nachträgliche Bestellung +, oder: Antrag des Betroffenen erforderlich?

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, stammt vom LG Frankenthal. Das hat im LG Frankenthal, Beschl. v. 16.06.2020 – 7 Qs 114/20 – noch einmal zur nachträglichen Bestellung des Pflichtverteidigers und zu den Bestellungsvoraussetzungen nach neuem Recht Stellung genommen.

Das AG hatte den Antrag der Kollegin Kosian, die mir den Beschluss geschickt hat, sie als Pflichtverteidigerin beizuordnen zurückgewiesen, da zum einen die nachträgliche, rückwirkende Bestellung für das aufgrund der Einstellung durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 170 Abs. 2 StPO abgeschlossene Ermittlungsverfahren unzulässig und ausgeschlossen sei; zum anderen läge zwar ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 141 Abs. 1 Nr. 2 StPO vor, jedoch habe der damalige Beschuldigte vor der Beschuldigtenvernehmung nicht beantragt, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen; vor der Vernehmung sei kein ausdrücklicher Verzicht des Beschuldigten protokolliert.

Dagegen die Beschwerde der Kollegin. Das LG hat – zutreffend – aufgehoben:

„Die sofortige Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft und auch sonst zulässig; insbesondere ist die Beschwer des Beschuldigten nicht dadurch entfallen, dass das Ermittlungsverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde und die Beiordnung rückwirkend erfolgen muss. Entgegen der Auffassung einiger Oberlandesgerichte erachtet die Kammer eine rückwirkende Verteidigerbestellung auch nach Verfahrensabschluss zumindest in denjenigen Fällen für möglich (und nicht etwa für prozessual überholt), in denen der entsprechende Beiordnungsantrag noch rechtzeitig vor dem Verfahrensende bei Gericht gestellt wurde. Der Hinweis, dass die §§ 140 ff. weder dem Kosteninteresse des Verteidigers noch des Beschuldigten dienen, übergeht Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, der ausdrücklich den mittellosen Beschuldigten erwähnt und somit auch das Kosteninteresse des Beschuldigten in seinen Schutzzweck aufnimmt. Zudem würde die Versagung einer rückwirkenden Bestellung trotz rechtzeitigen Beiordnungsantrags dazu führen, dass der mittellose Beschuldigte auf Verteidigung – trotz Vorliegens der Voraussetzungen notwendiger Verteidigung – verzichten müsste, also nicht nur auf Kostenerstattung, da Rechtsanwälte in Kenntnis einer Versagung rückwirkender Bestellungen in der Endphase eines Verfahrens nicht mehr zur Übernahme der Verteidigung mittelloser Beschuldigter bereit wären“ (vgl. MüKo § 141 Rn. 9 unter Verweis auf die Rechtsprechung zahlreicher Landgerichte) bzw. zumindest effektiv keine Tätigkeit zugunsten ihres Mandanten entfalten würden. Im Ergebnis geht die Verzögerung der Bescheidung von Beiordnungsanträgen daher mit einer erheblichen Belastung des Beschuldigten einher, welche so nicht hinzunehmen ist.

Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.

Die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO n. F. sind erfüllt – es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor (Tatvorwurf der schweren Brandstiftung nach § 306 Abs. 1 Nr. 1 StGB), dem Beschuldigten wurde der Tatvorwurf eröffnet und er hatte seinerzeit noch keinen Verteidiger. Soweit die Staatsanwaltschaft annimmt, es sei erforderlich, dass der darüber hinaus gebotene Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung seitens des Beschuldigten sofort nach der Belehrung und noch vor dessen Erstvernehmung gestellt werden müsse, vermag die Kammer dem nicht beizupflichten. Der Wortlaut trägt diese Auslegung nicht – „nach Belehrung“ erfolgt eine Antragstellung auch dann, wenn sie Tage, Wochen oder Monate später gestellt wird. Ein endgültiger Verzicht auf die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Vorverfahren kann der vorliegenden Erklärung des Beschwerdeführers sicherlich nicht entnommen werden, zumal an der Wirksamkeit eines solchen in Anbetracht seiner intellektuellen Ausstattung (Minderbegabung) ohnedies erhebliche Zweifel geboten wären. Wieso es dem Beschuldigten nur vor der ersten Vernehmung möglich sein sollte, eine Pflichtverteidigung für das Ermittlungsverfahren, in welchem möglicherweise noch zahlreiche weitere, ebenso belastende Vernehmungen folgen, herbeizuführen, ist unerfindlich und entspricht aus Sicht des Gerichtes gerade nicht der ratio legis.

Auch § 141 Abs. 2 S. 3 StPO n. F. steht im vorliegenden Fall der Beiordnung nicht entgegen. Die Möglichkeit, von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO, demzufolge einem Beschuldigten unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, wenn er dies ausdrücklich beantragt. Einen solchen Antrag (welcher konkludent die Erklärung beinhaltet, im Falle einer Bestellung das Wahlmandat niederzulegen) hat die Verteidigerin hier am 01.04.2020 für den Beschuldigten gestellt. Zu diesem Zeitpunkt hätte mithin unverzüglich – also insbesondere: vor Verfahrenseinstellung! – ihre Beiordnung erfolgen müssen.“

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