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Fahrtenbuchauflage beim Geschwindigkeitsverstoß, oder: Rechtzeitige Anhörung des Fahrzeughalters

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Heute im „Kessel Buntes“ dann mal wieder zwei Entscheidungen aus dem Verkehrsverwaltungsrecht.

Zunächst der OVG Hamburg, Beschl. v. 23.09.2021 – 4 Bs 140/20, der sich mit § 31a StVZO befasst, also Fahrtenbuchproblematik. Der Antragsteller des Verfahrens ist Halter eines Fahrzeugs, mit dem am 05.07.2020 ein Geschwindigkeitsverstoß begangen wurde. Das Frontfoto von dem Verstoß zeigt eine weibliche Person. Auf das Anhörungsschreiben mit Foto an seine aktuelle Meldeanschrift und eine Erinnerung hat der Antragsteller nicht reagiert. Auf eine Ladung als Zeuge erschien er nicht. Das Bußgeldverfahren wurde dann eingestellt, weil die Feststellung des Täters unmöglich war.

Die Verwaltungsbehörde legte dem Antragsteller die Führung eines Fahrtenbuches für sechs Monate auf und ordnete die die sofortige Vollziehung der Maßnahme an. Der Antragsteller hat vorläufigen Rechtsschutz mit dem Ziel beantragt, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs wiederherzustellen. Das hat das VG abgelehnt. Die Beschwerde blieb beim OVG erfolglos.

Das OVG schreibt man wieder – wie die VG häufig viel. Daher hier nur die Leitsätze zu dem Beschluss:

  1. Die Behörde trägt die materielle Beweislast für die rechtzeitige Anhörung des Fahrzeughalters. Es obliegt ihr, den vollen Beweis über den Zugang eines Schriftstücks zu erbringen, da dessen Nichterhalt eine sog. negative Tatsache darstellt, die ihrerseits eines Beweises nicht zugänglich ist. Dies ergibt sich für ein Schreiben aus den allgemeinen Beweislastregelungen über den Zugang von Willenserklärungen.

  2. Der Zugang eines mit einfachem Brief bei der Post aufgegebenen Schriftstücks kann nicht im Wege der Beweiserleichterung des Prima-facie-Beweises nachge-wiesen werden.

  3. Das Gericht kann im Wege der Würdigung der Umstände des Einzelfalles nach § 108 Abs. 1 VwGO zu der Überzeugung gelangen, dass ein abgesandtes Schrift-stück den Adressaten erreicht hat.

Pflichti II: Pflichtverteidiger im beschleunigten Verfahren, oder: Vorherige Anhörung des Beschuldigten erforderlich

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt dann wieder von einem LG. Und zwar hat das LG Dessau-Roßlau im LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 21.08.2020 – 3 Qs 117/20 – zur jetzt auf jeden Fall auch im beschleunigten Verfahren erforderlichen Anhörung des Beschuldigten vor einer Pflichtverteidigerbestellung Stellung genommen. Folgender Sachverhalt:

Der Angeklagte wurde zuletzt am 16.08.2017 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung für die Dauer von vier Jahren zur Bewährung ausgesetzt wurde. Am 15.05.2020 beantragte die Staatsanwaltschaft beim AG die Entscheidung im beschleunigten Verfahren gegen den Angeklagten. Mit Beschluss des AG wurde dem Angeklagten gemäß § 140 Abs. 2 StPO aufgrund der Schwere der Tat und weil Bewährungswiderruf droht, Rechtsanwalt R. als notwendiger Verteidiger bestellt. Zugleich wurde Hauptverhandlungstermin auf den 30.09.2020 bestimmt und der Angeklagte zu diesem Termin geladen. Eine Frist zur Benennung eines Verteidigers wurde ihm nicht gesetzt.

Mit Schriftsatz vom 09.06.2020, beim Amtsgericht eingegangen am selben Tage, zeigte sich Rechtsanwalt F. als Wahlverteidiger an und beantragte für den Angeklagten, Rechtsanwalt R: zu entpflichten und ihn als Pflichtverteidiger beizuordnen. Im Falle der Beiordnung lege er das Wahlmandat nieder. Zur Begründung führt er aus, dass dem Angeklagten kein rechtliches Gehör zur Person des Verteidigers gewährt worden sei.

Das AG hat den Antrag zurückgewiesen, da dem Angeklagten bereits ein Pflichtverteidiger bestellt worden sei. Eine vorige Anhörung des Angeklagten sei aufgrund der Eilbedürftigkeit des beschleunigten Verfahrens nicht erfolgt, da andernfalls die Bestellung nicht wie gesetzlich gefordert „bei Antragzustellung“ hätte erfolgen können. Insofern sei eine Ausnahme vom Soll-Tatbestand des § 142 StPO gerechtfertigt gewesen. Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte Erfolg:

„Die gem. §§ 143a Abs. 4, 311 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung des Pflichtverteidigerwechsels des Angeklagten ist begründet.

Dem Angeklagten war gemäß § 143a Abs. 2 Nr. 1. Alt. 2 StPO Rechtsanwalt F., unter Entpflichtung von Rechtsanwalt R., als neuer Pflichtverteidiger beizuordnen.

Durch das Amtsgericht Zerbst wurde dem Angeklagten mit Zustellung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf Durchführung eines beschleunigten Verfahrens Rechtsanwalt R. beigeordnet, ohne dass ihm hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wurde, wie es § 142 Abs. 5 StPO verlangt. Zweckmäßiger Weise wird diese Frist in den Fällen des § 141 II Nr. 4 StPO mit der Zustellung des Antrags verbunden (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt 2020, § 142, Rn. 34).

Bei § 142 StPO handelt es sich nach Gesetzesänderung auch nicht mehr um eine Soll-Vorschrift, von der wegen des beschleunigten Verfahrens eine Ausnahme möglich gewesen wäre. Vielmehr hat die Anhörung ausnahmslos zu erfolgen und ist allenfalls dann entbehrlich, wenn ein Beschuldigter bereits einen bestimmten Verteidiger benannt hat, was hier nicht zutrifft. Dem Angeklagten wurde schlicht gar keine Frist zur Benennung eines Verteidigers eingeräumt. In diesem Falle, muss ein Verteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 StPO erst Recht anwendbar sein.

Der Antrag auf Auswechslung wurde auch innerhalb der dreiwöchigen Frist des § 143a Abs. 2 Nr. 1 StPO gestellt.

Auch ein wichtiger Grund steht dem Wechsel weiter nicht entgegen. Die Tatsache, dass Rechtsanwalt F. am anberaumten Termin nicht zur Verfügung steht, lässt hier keine andere Beurteilung zu, wobei die Kammer die Regelung des § 142 Abs. 5 S. 3 StPO nicht übersehen hat. Dass die Anhörungs- und Mitbestimmungsrechte des Angeklagten hinsichtlich seines Pflichtverteidigers unberücksichtigt blieben, wiegt vorliegend schwerer als die Terminkollision des Amtsgerichts und des Verteidigers. Hätte das Amtsgericht dem Angeklagten sogleich Rechtsanwalt F. benennen fassen, wären dahingehende Terminsabsprachen möglich gewesen.“

Die Frage war zum alten Recht nicht unbestritten, u.a. Meyer-Goßner/Schmitt sah eine vorherige Anhörung als nicht erforderlich an. Der Streit hat sich dann wohl erledigt.

Anhörung im Strafvollstreckungsverfahren, oder: Wenn der Wahlanwalt nicht anwesend ist

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Die zweite Tagesentscheidung kommt vom KG. Sie ist im Vollstreckungsverfahren ergangen. Die Strafvollstreckungskammer hat gegen den Veurteilten, der durch Urteil des LG Berlin am 08.05.1998 u.a. wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung und vorsätzlicher Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt und dessen anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, die Fortdauer der Sicherungsverwahrung angeordnet. Dagegen hat der Verurteilte Beschwerde eingelegt, mit der er – so das LG – der angeordneten Fortdauer der Sicherungsverwahrung „sachlich nichts entgegengesetzt, sondern lediglich über seinen Wahlverteidiger das Verfahren der Strafvollstreckungskammer kritisiert“ hat. Das hatte beim KG keinen Erfolg. Das weist im KG, Beschl. v. 26.11.2018 – 2 Ws 188/18 – das Rechtsmittel zurück:

„a) Die Strafvollstreckungskammer durfte trotz des erneuten Ausbleibens des Sicherungsverwahrten (und des von ihm gewählten Verteidigers) im Anhörungstermin vom 22. August 2018 über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung entscheiden.

Es lag zwar kein Absehensgrund im Sinne des § 454  Abs. 1 Satz 4 StPO vor, jedoch konnte die Strafvollstreckungskammer aufgrund des Verhaltens des Beschwerdeführers davon ausgehen, dass er auf eine Anhörung berechtigterweise verzichtet (vgl. OLG Hamm NStZ 2011, 119; Senat, Beschluss vom 19. Dezember 2011 – 2 Ws 564/11 –), jedenfalls aber das Recht auf Anhörung verwirkt hat. Die Verweigerung der Vorführung zum Anhörungstermin beruht nicht auf einem von der Strafvollstreckungskammer zu berücksichtigen und ggf. zu behebenden wichtigen und nachvollziehbaren Grund (vgl. hierzu OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 2003, 59). Vielmehr ergibt sich aus dem Verhalten des Beschwerdeführers, dass er zu einer Teilnahme am Termin – wie schon bei früheren Anhörungen – nicht bereit war.

Für die Ladung eines Sicherungsverwahrten zu der durch §§ 463 Abs. 3, 454 Abs. 1 Satz 3 StPO vorgeschriebenen mündlichen Anhörung sieht das Gesetz keine bestimmte Frist vor. Der Anspruch des Verurteilten auf rechtliches Gehör, dem die Anhörung dient, ist dann erfüllt, wenn ihm ausreichend Zeit bleibt, den Termin wahrzunehmen (vgl. BVerfG NJW 1958, 1436; KG, Beschluss vom 21. Februar 2002 – 5 Ws 96/02 –, juris). Dies war hier der Fall.

Der Beschwerdeführer und sein Pflichtverteidiger sind bereits am 2. August 2018 formlos  zum Anhörungstermin am 22. August 2018 geladen worden.

Dem Pflichtverteidiger lag das 39 Seiten umfassende Gutachten der Sachverständigen Dr. pp. vom 23. Juli 2018 spätestens am 6. August 2018 vor. Der Wahlverteidiger, der sich für den aktuellen Vollstreckungsabschnitt zuvor nicht förmlich gemeldet hatte, sondern lediglich (vergeblich) darum gebeten hatte, ihn anstelle des bisherigen Pflichtverteidigers zu bestellen, wurde durch den Beschwerdeführer spätestens am 15. August 2018 über den Anhörungstermin informiert.

Das 39 Seiten umfassende Gutachten der Sachverständigen Dr. pp. und die (formlose) Ladung zum Anhörungstermin erhielt der Wahlverteidiger am 17. August 2018. Mit Schriftsatz vom 20. August 2018 teilte er der Strafvollstreckungskammer mit, er sei im Hinblick auf seine Mitwirkung an Hauptverhandlungen nicht in der Lage, das Gutachten der Sachverständigen vor dem Anhörungstermin, der am Terminstag erst auf 12 Uhr angesetzt war, zu besprechen. Der Beschwerdeführer hatte das Gutachten bereits zuvor (mit Schreiben vom 6. August 2018 von seinem Pflichtverteidiger erhalten).

Der Verurteilte lehnte seine Vorführung zum Anhörungstermin ab, sein Wahlverteidiger erschien – wie zuvor angekündigt – nicht. Der Anhörungstermin vor der Strafvollstreckungskammer fand deshalb lediglich in Anwesenheit der Sachverständigen, eines Mitarbeiters der Vollzugsanstalt und des Pflichtverteidigers statt. Letzterer hatte zuvor mit Schriftsatz vom 6. August 2018, den er auch dem Beschwerdeführer übersandt hatte, beantragt, die Sicherungsverwahrung für erledigt zu erklären.

Nach allem hätte der Beschwerdeführer – dem zudem auf Antrag seines Pflichtverteidigers ein Einzeltransport bewilligt worden war – zum Anhörungstermin ohne weiteres erscheinen können. Dass der Wahlverteidiger, ohne seine Verhinderung näher zu belegen, nicht erschienen ist, hinderte die Strafvollstreckungskammer nicht zu entscheiden, weil der Beschwerdeführer ausreichend verteidigt war. Ein vertiefter Besprechungsbedarf bestand hinsichtlich des aktuellen Gutachtens der Sachverständigen ohnehin nicht, weil es lediglich eine nach Aktenlage gefertigte Fortschreibung des letzten Gutachtens darstellt, da der Beschwerdeführer sich erneut geweigert hatte, mit der Sachverständigen zu sprechen.

b) Seit der letzten Entscheidung des Senats sind keine maßgeblichen Veränderungen eingetreten, weshalb er auf die Gründe seines Beschlusses vom 31. Januar 2018 – 2 Ws 206/17 – weitgehend Bezug nehmen kann. Nach den Stellungnahmen der Einrichtung für den Vollzug der Sicherungsverwahrung vom 12. April 2018 und vom 14. Mai 2018 war auch im weiteren Vollzugsverlauf keine Zusammenarbeit mit dem Untergebrachten möglich. Er verharrt in seiner Verweigerungshaltung und nimmt kein Behandlungsangebot wahr; insbesondere führt er keine Gespräche mit dem zuständigen Psychologen, weil er darin eine Zwangstherapie sieht. Wie schon zuvor festgestellt, bestehen erhebliche Defizite seiner sozialen und alltagspraktischen Kompetenzen (Reinlichkeit, Ordnung im Wohnraum, Einkäufe im Rahmen von Ausführungen). Die Vollzugsanstalt beurteilt die Prognose aufgrund der Ablehnung jeder Betreuung und Therapie als weiterhin ungünstig. Auch an der Einschätzung der Sachverständigen zur fortbestehenden Gefährlichkeit des Beschwerdeführers hat sich ausweislich ihres aktuellen Gutachtens vom 23. Juli 2018 nichts geändert.“

Pflichti II: Pflichtverteidigertausch, oder: Der Wahlanwalt muss auch (noch) wollen

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Auch die zweite „Pflichtverteidigerentscheidung“ des heutigen Tages betrifft eine Rücknahmeproblematik (vgl. dazu auch schon den KG, Beschl. v. 21.04.2016 – 2 Ws 122/16 und Pflichti I: Mal einfach eben so den zweiten Pflichtverteidiger entpflichten geht nicht………..). Der Beschluss kommt ebenfalls vom KG und betrifft die Frage der Rücknahme der Pflichtverteidigerbestellung nach Wahl eines anderen Verteidigers nach § 143 StPO. Dazu sagt das KG im KG, Beschl. v.  30.06.2016 – 3 Ws 309 und 310/16: Die Rücknahme der Bestellung eines Rechtsanwaltes als Pflichtverteidiger setzt jedenfalls voraus, dass der Wahlverteidiger zum Zeitpunkt der Rücknahme der Bestellung noch mandatiert ist sowie dauerhaft und nicht nur punktuell zur Übernahme der Verteidigung des Angeklagten bereit und in der Lage ist. Denn:

„Nach § 143 StPO ist grundsätzlich die Bestellung eines Pflichtverteidigers zurückzunehmen, wenn ein anderer Verteidiger gewählt wird und dieser die Wahl annimmt. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz liegt dann vor, wenn ein unabweisbares Bedürfnis dafür besteht, den Pflichtverteidiger neben dem Wahlverteidiger tätig bleiben zu lassen (vgl. Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 5. März 2014 – 1 Ws 18/14 – m.w.N,  juris).

a) Die Rücknahme der Bestellung setzt jedenfalls voraus, dass der Wahlverteidiger zum Zeitpunkt der Rücknahme der Bestellung des Pflichtverteidigers noch mandatiert ist sowie dauerhaft und nicht nur punktuell zur Übernahme der Verteidigung des Angeklagten bereit und in der Lage ist.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

Rechtsanwalt E. hat von Anfang an gegenüber dem Gericht klar zum Ausdruck gebracht, dass seine Beauftragung als Wahlverteidiger temporär sein sollte und zwar bezogen auf die Sitzungstage am 3., 4. und später auch am 24. Mai 2016. Sie habe auf die Dauer der Vernehmung des ehemaligen Mitangeklagten als Zeugen beschränkt sein sollen, nur insoweit habe er die Pflichtverteidigerin unterstützen sollen. In diesen Ausschnitt der Beweisaufnahme sei er eingearbeitet. Seine Beauftragung sei danach beendet.

Der Senat hat keinen Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln. Das Wahlmandat war von vornherein auf diese Sitzungstage beschränkt, so dass am 27. Mai 2016, also zum Zeitpunkt der Entscheidung der Vorsitzenden, die Voraussetzungen des § 143 StPO nicht mehr vorlagen. Anhaltspunkte dafür, dass doch eine dauerhafte Beauftragung zur Verteidigung des Angeklagten in der zum Zeitpunkt des Auftretens des Rechtsanwalts bereits 19 Verhandlungstage andauernden Hauptverhandlung und damit bereits fortgeschrittenen Beweisaufnahme über den 24. Mai 2016 hinaus erfolgt ist, ergeben sich weder aus der angegriffenen Entscheidung noch anderweitig. Auch fehlen tatsächlich belastbare Hinweise darauf, dass sich Rechtsanwalt E., wie in dem angefochtenen Beschluss behauptet, in den gesamten Verfahrensstoff eingearbeitet hat. Auf der Grundlage seines eigenen, nachvollziehbaren und nicht widerlegten Vorbringens ist er auch nicht geeignet, das Verfahren sichern zu können. Seinem Beschwerdevorbringen, er könne aufgrund der räumlichen Distanz zwischen D. und B., bestehender Terminskollisionen und seinem Tätigkeitsschwerpunkt „Zivilrecht“ eine ordnungsgemäße Verteidigung nicht gewährleisten, kann der Senat folgen. Selbst wenn die Vorsitzende der Strafkammer bestehende Terminskollisionen nach der Beschwerdeentscheidung durch Absprachen beseitigen will, ändert dies an dem bereits beendeten Mandat und der darüber hinaus fehlenden Bereitschaft des Rechtsanwalts E. zur ordnungsgemäßen Verteidigung nichts.“

Offen lassen konnte das KG auf der Grundlage zwei Fragen, nämlich:

  • ob das Verhalten der Pflichtverteidigerin während der Hauptverhandlung, geeignet erschien, den Widerruf ihrer Bestellung aus wichtigem Grund zu rechtfertigen, und,
  • ob die unterbliebene Anhörung der Verteidiger und des Angeklagten vor der angegriffenen Entscheidung durch das Beschwerdeverfahren geheilt worden ist. Dazu sagt der Senat nur: „Der Senat neigt jedoch zu der Auffassung, dass er im Falle einer angefochtenen Ermessenentscheidung nicht die ordnungsgemäße Ausübung des Ermessens der Vorinstanz zu überprüfen hat, sondern an ihre Stelle auch hier seine Ermessensentscheidung zu setzen und dazu alle wesentlichen Tatsachen nach § 308 Abs. 2 StPO aufzuklären hat (vgl. Zabeck in Karlsruher Kommentar, StPO 7. Aufl., § 309 Rdnr. 6).“ Also insoweit ein sog. Neigungsbeschluss 🙂 .

Fesselung bei der Vorführung zur Anhörung?, oder: Hat das OLG Hamm seine Hausaufgaben nicht gemacht?

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Heute dann mal ein Strafvollstreckungs-/vollzugstag, den ich eröffne mit dem Hinweis auf einen Streit zwischen einer StVK des LG Kleve und dem OLG Hamm betreffend die Vorführung eines Maßregelpatienten in Fesselung. Das OLG Hamm hatte im OLG Hamm, Beschl. v. 23.09.2014 – – III – 1 Vollz (Ws) 411/14 – entschieden:

„Eine Fesselung im Rahmen einer Vorführung, allein aus allgemeinen Sicherheitserwägungen oder zur Vorbeugung einer möglich erscheinenden Flucht, ist bei nach § 63 StGB untergebrachten Maßregelpatienten mangels Vorhandenseins einer entsprechenden Gesetzesgrundlage unzulässig.“

Betroffen war eine StVK des LG Kleve, die die Vorführung des im Maßregelvollzug Untergebrachten in Fesselung verfügt hatte. Der Untergebrachte war dann gefesselt zur Anhörung vorgeführt worden. Das OLG hatte das als rechtswidrig angesehen.

Nun wurde erneut eine mündliche Anhörung des Untergebrachten gemäß § 67e StGB wurde durch den Vorsitzenden der großen StVK bestimmt, und zwar in einem Saal des LG Kleve. Der An- und Abtransport erfolgte, da die Klinik, in der der Untergebracht untergebracht ist,  über keinen entsprechenden Transportdienst verfügt, durch den Transportdienst der JVA X. Die Beamten der JVA legten dem Untergebrachten während des Transports Fesseln an. Im Gerichtsgebäude übernahmen die Gerichtswachtmeister. Während der Anhörung im besonders gesicherten „Vorführsaal“ blieb der Untergebrachte ungefesselt. Auf der Grundlage dieser Anhörung hat die große Strafvollstreckungskammer die Unterbringungsfortdauer beschlossen. Der Untergebrachte hat nun unterBezugnahme auf den Beschluss des OLG Hamm vom 23.09.2014 die Feststellung beantragt, dass die Fesselung rechtwidrig war.

Das LG Kleve sieht das im LG Kleve, Beschl. v. 07.12.2015 – 182 StVK 1/15 – (erneut) anders und „rügt“ das OLG mit deutlichen Worten:

Dem steht nicht der Beschluss des 1. Strafsenates des OLG Hamm vom 23.09.2014 – III – 1 Vollz (Ws) 411/14 entgegen, weil dieser über die Entscheidung des damaligen konkreten Einzelfalles hinaus keine Bindungswirkung entfaltet.

Auch in der Sache überzeugt diese Entscheidung nicht.
…….

Sind mithin vom Wortlaut und von der Entstehungsgeschichte her mehrere Auslegungen möglich, so ist nicht die zu wählen, die zu lebensfremden und lebensgefährlichen Ergebnissen führt.

Als Anordnungsgrundlage greift § 5 MRVG NRW (Einschränkung der Freiheit der Maßregelvollzugspatienten, die für die Sicherheit unerlässlich ist) ein. Während einige Maßregelvollzugsgesetzte der Länder nur die besonders geregelten Eingriffe und Einschränkungen zulassen, hat NRW darüber hinaus ausdrücklich diese Generalklausel ins MRVG eingefügt. Die Fesselung ist auch als besondere Sicherungsmaßnahme im Sinne des § 21 MRVG NRW anzusehen (Kammeier, vorstehend; Prütting, MRVG und PsychKG NRW, § 21 MRVG NRW Rn. 9). Zudem greift § 22 MRVG NRW, der unter anderem zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bei einer erheblichen Gefährdung die Möglichkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs vorsieht, wozu auch die Fesselung gehört (vgl. § 58 Abs. 1 bis 3 PolG NRW) als Rechtsgrundlage ein (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15.04.2ß015 – III 2 Ws 137-138/15; zu § 176 GVG und § 231 StPO als Rechtsgrundlage für die Fesselungsanordnung durch den Vorsitzenden vgl. 5. Strafsenat des OLG Hamm, Beschluss vom 09.01.2014 – 5 RVs 134/13; zur „obergerichtlich hinreichend geklärten“ Fesselung bei Vorführung von Strafgefangenen vgl. OLG Rostock, Beschluss vom 10.10.2014 – 20 Ws 229/14). Hinzuweisen ist noch auf § 73 VwVG NRW und § 14 Abs. 1 OBG NRW.

Sinn und Zweck der Vorschriften sprechen dafür, dass sie auch als Rechtsgrundlage für eine Fesselung eingreifen.

Dass bei Gefangenen bzw. Untergebrachten, die per Definition besonders schwer einzuschätzen (psychische Beeinträchtigung) und besonders gefährlich sind (vgl. § 63 StGB) eine Fesselung – zum Schutz der Allgemeinheit und zum Schutz der vorführenden Beamten – möglich sein muss, liegt auf der Hand. Für Personen, die regelmäßig unmittelbaren Kontakt zu diesem Personenkreis haben, bedarf dies keiner weiteren Ausführung. Im Übrigen sei beispielhaft auf F 60.2 der ICD-10 hingewiesen („Dissoziale Persönlichkeitsstörung: … Kaltes Unbeteiligtsein und Rücksichtslosigkeit … sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten …“). Den vorführenden Beamten ist es generell und insbesondere bei psychisch Kranken unmöglich, die „Tagesform“ des Probanden einzuschätzen und die oft raptusartigen Aggressionsausbrüche oder Fluchtversuche vorherzusehen. Dies gilt erst recht aufgrund der örtlichen Gegebenheiten des LG xx, wo der Gefangenentransporter nicht in einen umschlossenen Innenhof einfahren kann, sondern der Eingang zu den Haftzellen in einem allgemein zugänglichen Bereich liegt.“

Liest sich so ähnlich wie: Hausaufgaben nicht gemacht. Wird man beim OLG Hamm nicht so gerne lesen. Ich bin gespannt, ob und wie man darauf antwortet.