Nach den beiden „Grußentscheidungen vom KG und vom OLG Celle (KG, Beschl. v.21.06.2017 – 3 Ws (B) 156/17 – 162 Ss 901/17 – dazu PoliscanSpeed ist toll, oder: Schönen Gruß vom KG, alles super – OLG Celle, Beschl. v. 17.05.2017 – 2 Ss OWi 93/17 – dazu Leivtec XV 3 ist auch toll, oder: Schönen Gruß vom OLG Celle, auch alles super) dann noch eine amtsgerichtliche Entscheidung zu der Problematik. Die ist zwar schon beim Kollegen Gratz gelaufen. Der hat sie mir dann aber geschickt, damit ich sie hier auch veröffentliche, um sie einem „breiten Publikum“ zugänglich zu machen.
Es handelt sich um das AG Neunkirchen, Urt. v. 15.05.2017 – 19 OWi 534/16. Es ging um eine Messung mit dem Messsystem TraffiStar S 350. Das AG hat frei gesprochen und begründet das wie folgt: Bei dem Messverfahren handelt es sich zwar grundsätzlich um ein sog. standardisiertes Messverfahren. Aber:
2. Aus dem Rechtsstaatsprinzip sowie dem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK folgt daher im Falle der Annahme eines standardisieren Messverfahrens nach Auffassung des Gerichts, dass der Betroffene – wenn ihm schon auferlegt wird, konkrete Messfehler vorzutragen-, auch in die Lage versetzt werden muss, genau dies tun zu können. Um eine technische Messung sinnvoll angreifen zu können bedarf es daher rein denklogisch schon der Überprüfungsmöglichkeit der Messdaten.
a) In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist bereits umstritten, ob der Betroffene einen Anspruch auf Herausgabe der Rohmessdaten einer Geschwindigkeitsmessung hat, ohne konkret vorzutragen welche Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind, oder der Betroffene bereits diesbezüglich substantiiert vortragen muss, welche Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind. Während das OLG Celle, OLG Düsseldorf und das OLG Saarbrücken unter Verweis auf das Rechtsstaatsprinzip, dem allgemeinen Freiheitsrecht und dem Recht auf ein faires Verfahren dies bejahen (vgl. OLG Celle Beschluss vom 16.06.2016, 1 Ss OWi 96/16, OLG Saarbrücken, Beschluss vom 24.02.2016, Az. Ss (BS) 6/2016 (4/16 OWi), OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.07.2015 – 2 RBs 63/15, juris Rn. 17), verneint das OLG Bamberg einen Anspruch des Betroffenen auf Einsicht und Herausgabe in die Rohmessdaten ohne konkreten Vortrag des Betroffenen mit dem Verweis auf das Prinzip des standardisierten Messverfahrens (OLG Bamberg, Beschluss v. 04.04.2016 – 3 Ss OWi 1444/15)
b) Nach Ansicht des erkennenden Gerichts kann der Auffassung des OLG Bamberg diesbezüglich nicht gefolgt werden. Denn wenn dem Betroffenen im Rahmen eines standardisierten Messverfahrens schon auferlegt wird, konkrete Anhaltspunkte für Messfehler oder eine Fehlmessung darzulegen, damit dass Gericht einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht als Ausforschungsbeweis ansehen und diesen nach § 77 Abs. 2 OWiG ohne Weiteres ablehnen kann, muss ihm diese Möglichkeit auch überhaupt erst einmal eröffnet werden. Hierzu bedarf der Betroffene aber zwingend Einsicht in die Rohmessdaten, um die Messung auf ihre Ordnungsgemäßheit zu überprüfen bzw. überprüfen zu lassen (vgl. OLG Celle aaO.). Anderenfalls befände sich der Betroffene in einem nicht aufzulösenden Teufelskreis, da er – sofern man der Ansicht des OLG Bambergs folgen würde – konkrete Umstände für eine fehlerhafte Messung vortragen zu müssen ohne die Messung – insbesondere die Messdaten – überhaupt zu kennen, die ihn nach Ansicht des erkennenden Gerichts erst in die Lage versetzen können, konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung vortragen zu können (vgl. OLG Celle aaO.).
c) Dies widerspricht nach Auffassung des Gerichts auch nicht dem Prinzip des standardisierten Messverfahrens. Sinn und Zweck des standardisierten Messverfahrens ist es, dass das Gericht gerade nicht bei jeder einzelnen Geschwindigkeitsmessung den Beweis durch Sachverständigengutachten führen muss, dass diese fehlerlos erfolgt ist. Dass dies in Anbetracht der Massenverfahren im Bereich der Verkehrsordnungswidrigkeiten sinnvoll und notwendig ist, steht außer Frage. Werden dem Betroffenen nun sämtliche tauglichen Mittel zur Verfügung gestellt um eine Messung überprüfen zu lassen, tangiert dies den Sinn und Zweck des standardisierten Messverfahren aber nach Ansicht des Gerichts gerade nicht. Denn hierdurch wird der Betroffene lediglich in die Lage versetzt im Vorfeld der Hauptverhandlung eine Messung durch einen von ihm beauftragen Sachverständigen überprüfen zu lassen (vgl. AG St Ingbert Urteil vom 26.04.2017 Az. 2 OWI 379/16). Dies dürfte nach Ansicht des Gerichts nicht dazu führen, dass Gerichte dann auf Antrag der Verteidigung nahezu jede Messung durch einen Sachverständigen im Rahmen der Amtsermittlungspflicht auf deren Richtigkeit überprüfen lassen müssen. Vielmehr liegt die Annahme nahe, dass nach der Überprüfungsmöglichkeit durch einen Sachverständigen im Vorfeld der Hauptverhandlung die Richtigkeit der Messung bestätigt wird und der Betroffene daraufhin seinen Einspruch zurücknimmt oder auf die Rechtsfolgen beschränkt (vgl. AG St Ingbert aaO.).
3. Wenn man nun – nach den obigen Erwägungen – aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Recht auf ein faires Verfahren den Anspruch des Betroffenen auf Einsicht und Herausgabe der Rohmessdaten bejaht, damit dieser in die Lage versetzt wird, im Rahmen eines standardisierten Messverfahrens konkrete Messfehler vortragen zu können, müssen diese Messdaten für den Betroffenen nach Ansicht des Gerichts auch nutzbar und dürfen nicht nahezu nutzlos sein.
a) Im vorliegenden Fall hat der Betroffene die Falldateien zwar anstandslos erhalten und diese einem von ihm beauftragten Sachverständigen übergeben, damit dieser die Messung überprüfen kann. Dies war dem vom Betroffenen beauftragten Sachverständigen jedoch nicht möglich, da – wie der gerichtliche Sachverständige festgestellt hat, weder Rohdaten noch insbesondere die Zeitdifferenzen zwischen Messstart und Messende vom Messgerät selbst nicht mehr gespeichert werden, obwohl dies technisch problemlos möglich wäre. Dadurch ist es einem vom Betroffenen bestellten – und darüber hinaus auch einem vom Gericht bestellten Sachverständigen – nicht mehr möglich, die Messung und insbesondere das Messergebnis auf seine Plausibilität zu überprüfen. Damit aber wird der Betroffene gerade nicht in die Lage versetzt, etwaige Messfehler vortragen zu können. Nach den Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen ist eine Überprüfung der Messung insbesondere der vorgeworfenen Geschwindigkeit aufgrund der Nichtspeicherung der Rohdaten, insbesondere der Zeitdifferenz zwischen Messstart und Messende schlichtweg nicht möglich.
b) Dadurch wird der Betroffene aber letztlich nach Ansicht des Gerichts so massiv in seinen Verteidigungsmöglichkeiten beschränkt, dass nicht mehr von einem tauglichen Beweismittel ausgegangen werden kann. Denn wie dargelegt muss der Betroffene nach Auffassung des Gerichts bei der Annahme eines standardisierten Messverfahrens zumindest in die Lage versetzt werden, konkrete Messfehler aufzeigen zu können und hierfür die Messung – im Vorfeld der Hauptverhandlung – überprüfen zu können. Hierzu sind ihm sämtliche relevanten Messdaten zur Verfügung zu stellen, sofern dies technisch machbar ist. Denn wenn dem Betroffenen schon auferlegt wird, den Nachweis eines Messfehlers zu führen, müssen ihm dazu auch sämtliche taugliche Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Denn nach Auffassung des Gericht darf die Annahme eines standardisierten Messverfahrens schon aus Gründen des Rechtsstaatsprinzips im Hinblick auf den Grundsatz der rechtlichen Gehörs und des Rechts auf ein faires Verfahren nicht dazu führen, dass der Betroffene überhaupt keine Möglichkeit mehr hat, sich gegen den Tatvorwurf zu wehren (vgl AG St Ingbert aaO.).