An sich wollte ich keine bzw. nur noch „besondere“ Entscheidungen zur Akteneinsicht im Bußgeldverfahren bringen, weil die Thematik m.E. „ausgekaut“ ist. Hier ist dann aber doch noch einmal ein AG-Beschluss, und zwar der AG Dillingen a.d. Donau, Beschl. v. 07.07.2021 – 304 OWi 58/21 -, der noch einmal die anstehenden Fragen zusammenfasst:
„Der Antrag der Verteidigung ist zulässig und auch überwiegend begründet.
1. Im Grundsatz wohl noch zutreffend geht die Verwaltungsbehörde davon aus, dass eigentlich nur diejenigen Unterlagen der Akteneinsicht nach § 147 StPO iVm § 46 OWiG unterliegen, die auch tatsächlich (schon) Aktenbestandteil sind. Auch handele es sich bei dem hier verwendeten Messgerät ESO ES3.0 um ein seit Jahren angewandtes, in der Rechtsprechung anerkanntes, sogenanntes „standardisiertes Messverfahren“.
2. Gerade letzterer Umstand ist es aber auch, der die Herausgabe der begehrten Daten an den Betroffenen bzw. seinen Verteidiger unerlässlich macht, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.
3. Im Rahmen standardisierter Messverfahren gehen die Gerichte in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich a priori von der Richtigkeit der in Frage stehenden Messung aus, wenn nicht der Betroffene im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte für etwaige Mess- oder Bedienfehler vorträgt. Entschließt man sich aber unter Praktikabilitätsgesichtspunkten dazu, entgegen der auch im Bußgeldverfahren geltenden Unschuldsvermutung und dem vorherrschenden Amtsermittlungsgrundsatz dem Betroffenen de facto eine Exculpationspflicht aufzuerlegen, so darf ihm diese nicht überdies dadurch erschwert werden, dass ihm völlig unproblematisch verfügbare Daten vorenthalten werden, indem sie entgegen konkreter Anforderung im Einzelfall nicht zum Aktenbestandteil gemacht werden. Denn nur dadurch ist es dem Betroffenen überhaupt möglich, zu prüfen, ob die Voraussetzungen eines standardisierten Messverfahrens vorliegen und die dafür notwendigen Schritte auch eingehalten wurden.
4. Das Gericht verkennt nicht, dass nach langjähriger Erfahrung die Quote von Bedien- und Messfehlern bei entsprechend geschulten Messbeamten praktisch gegen Null tendieren dürfte; um dies prüfen zu können, sind die Daten aber für die Verteidigung im Lichte des Fair-Trial-Grundsatzes unerlässlich. Insbesondere – und das erscheint ein wesentliches Kriterium zu sein – ermöglicht die Überlassung der Daten dem Betroffenen die fundierte und sinnvolle Prüfung, ob es überhaupt Erfolg verspricht, ein – mit zusätzlichen Kosten und Aufwand verbundenes – Einspruchsverfahren aufzunehmen, bzw. weiter zu betreiben. Ergibt nämlich die Auswertung der überlassenen Daten keine Anhaltspunkte für Messfehler, dürfte sich einem verständigen und wirtschaftlich denkenden Betroffenen regelmäßig die Rücknahme des Einspruches aufdrängen.
5. Der Betroffene kann in diesem Zusammenhang auch nicht darauf verwiesen werden, dass z.B. der Schulungsnachweis des Messbeamten in aller Regel im Rahmen einer etwaigen Hauptverhandlung erörtert bzw. vorgelegt wird. Dies verlagert die Verteidigungsrechte des Betroffenen ohne erkennbaren Grund auf einen späteren Zeitpunkt und zwingt ihn sogleich faktisch, über den im Raum stehenden Verstoß eine öffentliche Verhandlung über sich ergehen zu lassen. Es kann durchaus Gründe geben, wieso der Betroffene nach Einsichtnahme in die vollständigen Daten – hierunter auch die Schulungsnachweise – eben dies vermeiden will (lange Anreise, Terminsgebühr, Mehrkosten, etc.)
6. Nach alledem hat der Betroffene das Recht, Einsicht in die aus dem Tenor ersichtlichen Unterlagen zu nehmen. Da die Akte bisher unvollständig war, ist ihm neuerlich und ohne erneute Erhebung der Gebühr Ziffer 9003 KV-GKG Akteneinsicht zu gewähren.
7. Nicht notwendig zur Akte zu geben sind allerdings das Originalfoto (weil in den digital zur Verfügung zu stellenden Daten ohnehin enthalten und als Hochglanzausdruck in der Akte schon vorhanden), der Beschilderungsnachweis (denn der im Raum stehende Verstoß basiert nicht auf einer durch Verkehrszeichen angeordneten zulässigen Höchstgeschwindigkeit, sondern auf der allgemeinen Regelung des § 3 Abs. 3 Ziffer 2. c) StVO. Einer Liste aller aufgenommenen Verstöße bedarf es ebenfalls nicht – zum einen kann der Betroffene sich diese selbst aus den Rohmessdaten erarbeiten, zum anderen sind andere als Geschwindigkeitsverstöße für die Beurteilung der Richtigkeit der Messreihe nicht relevant (es wäre z.B. unerheblich, ob im Rahmen einer etwaigen Anhaltung auch ein Gurtverstoß, o.ä. festgestellt worden wäre). Soweit Unterlagen bzgl. des Messgerätes begehrt werden, ist darauf zu verweisen, dass das Messgerät ESO ES3.0 bauartbedingt über eine generelle Zulassung verfügt und daher eine Zulassung des einzelnen Gerätes nicht mehr notwendig ist. Der Eichschein des Gerätes impliziert seine bauartbedingte Zulassung – und befindet sich schon bei der Akte. Die Daten der gesamten Messreihe sind indes herauszugeben (vgl. z.B. AG Schleiden, Beschluss vom 03.03.2021, 13 OWi 19/21, OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, zur Überlassung des Tokens AG Trier, Beschl. v. 09.09.2015 – 35 OWi 640/15, ferner LG Bielefeld, Beschl. v. 25.08.2020 – 10 Qs 278/20, OLG Zweibrücken, Beschl. v. 04.05.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21 – derzeit in entsprechender Divergenzvorlage vor dem Bundesgerichtshof befindlich, Entscheidung ausstehend.)
8. Bedenken des Datenschutzes stehen dem nicht entgegen. Ohne weitere Anhaltspunkte erscheint schon die Ermittlung der Identität der übrigen Betroffenen schwer bis gar nicht möglich. Das ggf. auf dem Messbild erkennbare amtliche Kennzeichen führt höchstens in Richtung des Halters, nicht zwingend des Fahrers und grundlose Halteranfragen zu Kennzeichen werden in der Regel nicht beantwortet. Selbst wenn es dem Betroffenen bzw. im konkreten Fall seinem Verteidiger gelänge, die Identität anderer Betroffener zu ermitteln (woran ehrlicherweise keinerlei erkennbares Interesse besteht), würden diese Daten lediglich Bestandteil der anwaltlichen Handakte bzw. der Gerichtsakte. Beide Akten sind besonders geschützt, eine Einsichtnahme nur unter engen Voraussetzungen möglich und der breiten Öffentlichkeit generell nicht zugänglich. Würde der Verteidiger des Betroffenen (nochmal: ein sinnvoller Grund hierfür liegt nicht vor) die Daten preisgeben, stellte dies einen schweren Verstoß gegen die Berufspflichten des Rechtsanwalts dar. Schon aus diesem Grund erscheint es nahezu undenkbar, dass die Daten anders als für die Verteidigung des konkreten Falles genutzt werden würden. Auf BVerfG 2 BvR 1616/18, Beschluss vom 12.11.2020 wird abschließend hingewiesen.“