Archiv der Kategorie: Haftrecht

U-Haft II: Schwerkriminalität und Fluchtgefahr, oder: Ohne Haftgrund gibt es keinen Haftbefehl

Bild von Christian Dorn auf Pixabay

Bei der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den LG Stuttgart, Beschl. v. 05.08.2022 – 14 Qs 21/22 -, den mir der Kollege Stehr aus Göppingen geschickt hat.

Am 19.04.2022 erhob die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen den zum damaligen Zeitpunkt auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten u.a. wegen der Vorwürfe der Vergewaltigung und des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern Anklage beim AG Esslingen – Jugendschöffengericht als Jugendschutzgericht-. Nachdem der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts gegenüber der Staatsanwaltschaft Bedenken hinsichtlich der sachlichen Zuständigkeit des Jugendschöffengerichts geäußert hatte, nahm die Staatsanwaltschaft am 23.06.2022 die Anklage zurück und erhob nunmehr Anklage beim AG – Schöffengericht – Esslingen. Zugleich beantragte sie nun erstmals den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten. Am 11.07.2022 hat das AG im Umfang der Anklageschrift einen auf die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität gestützten Haftbefehl erlassen. Der Beschuldigte habe im Falle einer Verurteilung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe im nicht bewährungsfähigen Bereich zu rechnen. Soziale Bindungen oder andere Faktoren, welche dem in Ansehung der zu erwartenden Strafe bestehenden Fluchtanreiz entgegenwirken könnten, seien derzeit nicht bekannt. Ebenfalls sei in den dem Beschuldigten zur Last liegenden Taten ein hohes Maß an krimineller Energie zu erkennen, da er über einen längeren Zeitraum hinweg verschiedene minderjährige Geschädigte über soziale Netzwerke kontaktiert und diese gezielt zur Ermöglichung sexueller Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen manipuliert haben solle. Ebenso lägen die Voraussetzungen von § 112 Abs. 3 StPO vor.

Nach der Festnahme des Angeschuldigten wird der Haftbefehl seit dem 19.7.2022 vollzogen. Die Haftbeschwerde des Beschuldigten hatte Erfolg:

„Zwar ist der Beschwerdeführer der im angegriffenen Haftbefehl bezeichneten Taten dringend verdächtig. Es fehlt jedoch an einem Haftgrund im Sinne des § 112 Abs. 2 und Abs. 3 StPO.

Soweit sich die Anordnung der Untersuchungshaft auf den Haftgrund der Schwerkriminalität nach § 112 Abs. 3 StPO stützt, geht dies fehl, da bereits die formellen Voraussetzungen der Vorschrift nicht gegeben sind. In Abs. 3 findet sich dem Wortlaut nach eine atypische Ermächtigung zur Anordnung der Untersuchungshaft in den dort abschließend aufgeführten Fällen von Katalogtaten der Schwerkriminalität ohne Hinzutreten eines Haftgrundes im Sinne von § 112 Abs. 2 StPO. Aufgrund des vom Gesetzgeber gewählten Enumerationsprinzips findet die Vorschrift hingegen keine Anwendung, wenn die Norm nicht ausdrücklich im Katalog des Abs. 3 enthalten ist (vgl. MüKoStPO/Böhm/Werner, 1. Aufl. 2014, StPO § 112 Rn. 88). So liegen die Dinge hier. Anknüpfungspunkt für die Charakterisierung als Katalogtat ist damit deren Bezeichnung nach Paragraph, Absatz, Nummer usw.. Nachdem die Vorschrift des § 176a Abs. 1 StGB in dieser abschließenden Aufzählung nicht enthalten ist, liegen bereits die formellen Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO nicht vor, so dass auch die Frage nach der Identität des Regelungsgehalts von § 176a StGB a.F. und § 176c Abs. 1 StGB keiner Beantwortung mehr bedarf.

Ebenfalls besteht ein Haftgrund nach § 112 Abs. 2 StPO – auch unter Berücksichtigung der erheblichen Straferwartung – nicht. Denn allein die hohe Straferwartung vermag die Fluchtgefahr nicht begründen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage, § 112 Rn. 24 m.w.N,). Daher ist die Straferwartung nur der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Beschwerdeführer werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Entscheidend ist, ob bestimmte Tatsachen vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, ein Beschuldigter werde dem in der Straferwartung liegenden Fluchtanreiz nachgeben (OLG Hamm, Beschluss vom 19. Februar 2013 — 5 Ws 59/13). Die danach vorzunehmende Gesamtwürdigung ergibt, dass hier der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht anzunehmen ist: Der Beschwerdeführer verfügt über einen festen Wohnsitz und ist aufgrund seiner ausgeübten Erwerbstätigkeit sozial eingebunden. Er ist selbstständig und habe Haus und Hof. Beides sind Umstände, die mit einer längeren Abwesenheit des Beschwerdeführers nicht verträglich sind. Überdies würde er im Fall seiner Flucht oder seines Untertauchens seinen krebskranken Vater zurücklassen. Ferner hat er bereits seit Anfang Juli 2021 Kenntnis von den Tatvorwürfen im Raum Ulm (l. A. des Haftbefehls), wobei Vorkehrungen, die darauf schließen ließen, er werde sich dem Verfahren durch Flucht entziehen, nicht getroffen wurden. Auch ist davon auszugehen, dass der anwaltlich beratene Beschwerdeführer eine grobe Vorstellung über die Höhe der zu erwartenden Rechtsfolgen hat. Nach alledem überwiegt nach Auffassung der Kammer die Wahrscheinlichkeit, dass der Angeschuldigte sich dem Verfahren stellen wird. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist mithin nicht gegeben.

Schließlich ist die Anordnung der Untersuchungshaft auch nicht aufgrund von Wiederholungsgefahr gern. § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO geboten. Die Wiederholungsgefahr muss durch bestimmte Tatsachen begründet sein, die eine so starke innere Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Straftaten erkennen lassen, dass die Gefahr besteht, er werde gleichartige Taten wie die Anlasstaten bis zur rechtskräftigen Verurteilung in der den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens bildenden Sache begehen (KK-StPO/Graf, 8. Aufl, 2019, StPO § 112a Rn. 19). Erforderlich ist eine innere Neigung oder wenigstens Bereitschaft der Begehung von Straftaten, auf welche vor allem aus äußeren Tatsachen geschlossen werden kann. Insoweit sind auch Indiztatsachen zu berücksichtigen und zu würdigen, wie etwa die Vorstrafen des Beschuldigten und die zeitlichen Abstände zwischen ihnen sowie die Persönlichkeitsstruktur und die aktuellen Lebensumstände des Beschuldigten (BeckOK StPO/Krauß, 43. Ed. 1.4.2022, StPO § 112a Rn. 13). Solche Indiz-tatsachen, die die erforderliche Wiederholungsgefahr zu begründen geeignet wären, sind vorliegend nicht vorhanden. Der Beschwerdeführer ist bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Ebenfalls liegen keine Hinweise auf weitere sexualstrafrechtliche Verfehlungen des Beschwerdeführers vor. Daher besteht die erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung des strafbaren Verhaltens vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens nicht.“

Eine „schöne“ Entscheidung. Hinzuweisen ist insbesondere auf die Ausführungen zur „Schwerkriminalität“. Denn es wird oft übersehen, dass auf diesen Haftgrund nur in den in § 112 Abs. 3 StPO enumerativ aufgezählten Fällen abgestellt werden kann/darf. Zudem ist die Regelung darüber hinaus verfassungskonform auszulegen. Denn der Haftgrund der Schwerkriminalität ist (nur) dann gegeben, wenn der Beschuldigte einer in § 112 Abs. 3 genannten Straftat – ungeachtet des im Einzelfall zu erwartenden Strafmaßes – dringend verdächtig ist und Umstände vorliegen, welche die Gefahr begründen, dass ohne seine Festnahme die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte; ausreichend ist dabei schon die zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falls nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunklungsgefahr (BVerfGE 19, 342, 350 f.; zuletzt BGH, Beschl. v. 13.7.2022 – StB 28/22 – m.w.N.).

U-Haft I: Meldeauflage erfüllt, keine Fluchtgefahr mehr, oder: Wenn die Vertreterin keinen Bock hat

Bild von Christian Dorn auf Pixabay

Heute dann mal wieder ein Hafttag. Den beginne ich mit einer Entscheidung des LG Paderborn, den mir der Kollege Urbanek auf Bielefeld geschickt hat.

Der Angeklagten wird Raub in Tateinheit mit Körperverletzung vorgeworfen. Die Anklage wurde erhoben vor dem AG Lippstadt – Schöffengericht. Gegen die Angeklagte ist Haftbefehl erlassen worden, mit Beschluss vom 08.04.2022 den das LG unter Auflagen außer Vollzug gesetzt hat. U.a. wurde eine Meldeauflage gemacht.

Hauptverhandlungstermin war auf den 07.06.2022 bestimmt. Mit Schriftsatz vom 08.05.2022 beantragte der Verteidiger beim AG Lippstadt nach Rücklauf der Akten vom LG Paderborn Akteneinsicht. Gewährt wurde eine Akteneinsicht in der Folge nicht. Mit Schriftsatz vom 31.05.2022 beantragte der Verteidiger der daraufhin die Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 228 Abs. 1 StPO. Mit Verfügung vom 02.00.2022 wurde daraufhin der Hauptverhandlungstermin durch das AG aufgehoben. In der Folge wurde den Verteidigern Akteneinsicht gewahrt. Ein erneuter Hauptverhandlungstermin wurde nicht bestimmt.

Mit Eingang beim AG am 06.06.2022 beantragte die Angeklagte eine Aufhebung des Haftbefehls vom 03.03.2022, da mittlerweile von keiner Fluchtgefahr mehr auszugehen und zudem die weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls unverhältnismäßig sei. Eine Entscheidung über den Antrag erging sodann zunächst nicht. Mit Schriftsatz eingegangen am 22.06.2022 erinnerte der Verteidiger an den Antrag vom 06.06.2022. Hierzu wurde durch das AG mitgeteilt, dass die Akte derzeit versendet sei.

Am 27.06.2022 erkundigte sich der Verteidiger zudem telefonisch nach dem Stand der Sache. Auf die Mitteilung, dass sich der zuständige Dezernent in Urlaub befände, bat er um eine Entscheidung im Vertretungswege. Die Vertreterin sah die Sache nicht als eilbedürftig an und traf in der Folge keine Entscheidung. Nach Rückkehr des Dezernenten wurde der Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls mit Beschluss vom 08.07.2022 zurückgewiesen.

Die Beschwerde gegen diesen Beschluss hatte beim LG Erfolg. Das hat im LG Paderborn, Beschl. v. 19.07.2022 – 08 Qs-43 Js 301/21-32/22 – den Haftbefehl aufgehoben.

Das LG verneint Fluchtgefahr und begründet das u.a. damit, dass die Angeklagte längere Zeit die gemachten Meldeauflagen erfüllt hat. Insoweit bitte selbst lesen.

Hier stelle ich die Ausführungen des LG zur Verhältnismäßigkeit vor:

„2. Darüber hinaus war der Haftbefehl auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit aufzuheben.

Aus rechtsstaatlichen Granden besteht auch bei außer Vollzug gesetzten Haftbefehlen die Pflicht zu einer möglichst zügigen Bearbeitung. Die mit den Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO verbundenen Beschränkungen sind auch in Ansehung der Belange einer funktionierenden Strafrechtspflege nur für einen angemessenen Zeitraum hinzunehmen (vgl. BVerfGE 53, 152 = NJW 1980, 1448).

Die an eine zügige Bearbeitung der Sache zu setzenden Maßstäbe sind durch das Amtsgericht Lippstadt – Schöffengericht – in einem solchen Umfang verletzt worden, dass eine Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr verhältnismäßig erscheint.

Hierfür dürfte bereits ausreichend sein, dass nach Aufhebung des für den 07.06.2022 bestimmten Hauptverhandlungstermins am 02.06.2022 bis zum Zeitpunkt dieser Kammerentscheidung kein erneuter Hauptverhandlungstermin bestimmt wurde und auch keine Bemühungen zur Bestimmung eines Hauptverhandlungstermins – wie etwa die Anfrage bezüglich einer Terminsabsprache mit den Verteidigern der Beschwerdeführerin und des Mitangeklagten – aus der Akte zu entnehmen sind. Außer der Gewährung von Akteneinsichten und der – ebenfalls nur verzögert erfolgten – Bearbeitung des Antrags der Beschwerdeführerin auf Haftaufhebung vom 06.06.2022, finden sich insoweit keinerlei Hinweise auf verfahrensfördernde Bemühungen des Amtsgerichts.

Darüber hinaus beruht auch die Notwendigkeit der Aufhebung des Termins vom 07.06.2022 in vollem Umfang auf der fehlenden Verfahrensförderung durch das Amtsgericht Lippstadt – Schöffengericht -. Nachdem nämlich zuvor in berechtigter Weise beantragte Akteneinsichtsgesuche mehrerer Verteidiger nicht beschieden wurden, wurde eine Aufhebung des Termins notwendig, da eine Vorbereitung der Verteidiger in einer für die angemessene Vertretung der Beschwerdeführerin und des Mitangeklagten ohne vorherige Akteneinsicht nicht möglich war. Die hierdurch verursachte Notwendigkeit zur Aufhebung des Hauptverhandlungstermins wiegt umso schwerer, nachdem sich aus der Akte ergibt, dass mit Verfügung vom 02.05.2022 eine digitale Kopie der vollständigen Verfahrensakte durch die Staatsanwaltschaft P. gefertigt wurde, durch welche den Verteidigern zeitnah und parallel Akteneinsicht hätte gewährt werden können.

Schlussendlich konnte im Zusammenhang mit der zügigen Bearbeitung dieser Haftsache auch nicht außer Acht gelassen werden, dass auch der Antrag der Beschwerdeführerin auf Aufhebung des Haftbefehls vom 06.06.2022 zunächst ohne erkennbaren Grund durch den zuständigen Dezernenten am 08.06.2022 auf den Zeitpunkt seiner Rückkehr aus dem anstehenden Urlaub verfristet wurde und durch seine Vertreterin auf entsprechende Nachfrage des Verteidigers der Beschwerdeführerin gemäß Vermerk vom 29.06.2022 als nicht eil- bzw. entscheidungsbedürftig angesehen wurde und ebenfalls auf die Rückkehr des zuständigen Dezernenten verfristet wurde.

Angesichts der hierdurch insgesamt für die Beschwerdeführerin eingetretenen Belastungen – auch unter Berücksichtigung, dass ihr gegenüber zuvor in der Zeit vom 04.03.2022 bis zum 08.04.2022 Untersuchungshaft vollzogen wurde – ist, nachdem insbesondere ein Hauptverhandlungstermin weiterhin nicht in Aussicht ist, eine weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls selbst nach Außervollzugsetzung nicht mehr verhältnismäßig.“

Spätestens an der Stelle: „Die Vertreterin sah die Sache nicht als eilbedürftig an und traf in der Folge keine Entscheidung.“ schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen und ist schon erstaunt, wie man beim AG Lippstadt mit Haftsachen umgeht.

StPO I: U-Haft und Einholung eines SV-Gutachtens, oder: Beschleunigungsgrundsatz verletzt?

© Dickov – Fotolia.com

Heute dann ein StPO-Tag, und zwar mit zwei OLG-Entscheidungen und einer LG-Entscheiudung zu Zwangsmaßnahmen. In allen geht es um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme.

Ich beginne mit dem OLG Saarbrücken, Beschl. v. 06.07.2022 – 4 Ws 201/22 -, der sich mit U-Haft befasst. Der Angeklagte hatte gegen einen Haftbefehl Rechtsmittel eingelegt. Der Angeklagte wurde am 03.01.2022 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 04.01.2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Am 10. 06.2022 hat die Hauptverhandlung gegen die Angeklagten begonnen; diese dauert weiter an.

In der Sitzung vom 29.06.2022 hat der Verteidiger des Angeklagten Beschwerde gegen den Haftbefehl eingelegt. In dieser Sitzung – dem dritten Termin zur Hauptverhandlung – hat sich der Angeklagte – wie auch der Mitangeklagte K. – erstmals eingelassen und insbesondere Angaben zu seinem Betäubungsmittelkonsum gemacht. Beide Angeklagte haben sich bereit erklärt, aktiv an einer Exploration mitzuwirken und die sie behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbunden. Daraufhin wurden weitere Hauptverhandlungstermine bis zum 06.09.2022 vereinbart und die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens „zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 21, 64 StGB“ beschlossen. Zur Sachverständigen wurde Frau Dr. R. bestellt, die das Gutachten nach Rücksprache mit ihrem Büro im Hauptverhandlungstermin vom 17.08.2022 erstatten soll. Mit der Beschwerde macht der Verteidiger insbesondere geltend, ein solches Gutachten habe bereits früher eingeholt werden müssen, weil Anhaltspunkte für eine Rauschmittelabhängigkeit des Angeklagten schon zuvor bestanden hätten. Mit ähnlicher Argumentation in Bezug auf seinen Mandanten hat der Verteidiger des Mitangeklagten – erfolglos – die Aufhebung des diesen betreffenden Haftbefehls beantragt.

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg. Das OLG führt u.a. aus:

„3. Das Verfahren ist jederzeit mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden. Insbesondere ist es entgegen der Auffassung des Verteidigers nicht auf Versäumnisse der Ermittlungsbehörden zurückzuführen, dass entsprechend den unter I. geschilderten Abläufen erst während laufender Hauptverhandlung die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage einer etwaigen verminderten Schuldfähigkeit der Angeklagten (§ 21 StGB) und zu den Voraussetzungen ihrer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) veranlasst wurde und hierdurch eine – vergleichsweise geringfügige – Verzögerung des Verfahrensabschlusses eingetreten ist.

Zwar ist ein solches Gutachten stets zum frühestmöglichen Zeitpunkt einzuholen, nachdem die Ermittlungen hierzu Anlass geben. Bei der Einholung des Gutachtens ist es zur gebotenen Beschleunigung des Verfahrens zudem unerlässlich, auf eine zeitnahe Erstellung des Gutachtens hinzuwirken. Es sind deshalb mit dem Gutachter Absprachen darüber zu treffen, in welcher Frist ein Gutachten zu erstatten ist und ggfls. zu prüfen, ob eine zeitnähere Gutachtenerstattung durch einen anderen Sachverständigen zu erreichen ist. Der Gutachter ist auf die bestehende Haftsituation hinzuweisen. Gericht und Staatsanwaltschaft haben die zügige Gutachtenerstattung fortwährend zu kontrollieren und den Gutachter zur zügigen Bearbeitung anzuhalten. Es ist ferner zu beachten, dass in Fällen, in denen Entscheidungen wie die Anklageerhebung oder der Eröffnungsbeschluss nicht vom Ergebnis des Gutachtens abhängen, der Eingang des Gutachtens nicht unbedingt abgewartet werden muss, wenn z.B. offenkundig – wie hier – nur eine verminderte Schuldfähigkeit in Betracht kommt (Beschlüsse des 1. Strafsenats vom 18.03.2008 -1 Ws 8/08(H), 22.07.2009 –1 Ws 27/09(H), vom 02.06.2010 -1 Ws 15 und 16/10(H), vom 07.07.2010 – 1 Ws 20/10 (H) und vom 22.04.2015 – 1 Ws 7/15 (H) – juris).

Allerdings hat hinreichender Anlass zur Einholung eines Gutachtens bis zum Hauptverhandlungstermin vom 29.06.2022 nicht bestanden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich keiner der Angeklagten eingelassen, so dass nähere Erkenntnisse zu ihrem Konsumverhalten in Bezug auf Drogen nicht vorgelegen haben. Auch war nicht damit zu rechnen, dass die gegenüber den Ermittlungsbehörden schweigenden Angeklagten einem Sachverständigen gegenüber Angaben machen würden, so dass für diesen als Anknüpfungstatsachen lediglich die Aktenlage zur Verfügung gestanden hätte. Danach war zwar davon auszugehen, dass die Angeklagten in größerem Umfang mit Betäubungsmitteln unterschiedlicher Art Handel getrieben haben; auch hatten die Polizeibeamten bei der Festnahme der Angeklagten den Eindruck, dass diese „augenscheinlich unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln zu stehen schienen“ (Bl. 5 d.A.). Weitere Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagten in einem Ausmaß den Hang haben könnten, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, der eine Maßregel nach § 64 StGB rechtfertigen könnte, bestanden aber zu keinem Zeitpunkt, zumal es aus Sicht des Senats keinen Erfahrungssatz gibt, wonach Personen, die mit Betäubungsmitteln Handel treiben, diese auch immer wieder im Sinne einer eingewurzelten intensiven Neigung in einem Umfang konsumieren, durch den Gesundheit und Leistungsfähigkeit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt werden (Hangbegriff, vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 64 Rn 7, 7a). Noch weniger Anlass bestand für die Annahme, die Angeklagten könnten infolge akuter Intoxikation in ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit beeinträchtigt gewesen sein, zumal insbesondere der Beschwerdeführer noch in der Lage war zu versuchen, Beweismittel vor den Polizeibeamten zu verbergen (vgl. Bl. 4 d.A. letzter Absatz). Eine einzige – vergleichsweise geringfügige – einschlägige Vorverurteilung des im Übrigen erheblich vorgeahndeten Angeklagten datiert aus dem Jahr 2005 und hat für das aktuelle Konsumverhalten keinerlei Aussagekraft. Unter diesen Umständen war weder die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren gehalten, ein Sachverständigengutachten zu den genannten Punkten in Auftrag zu geben, noch musste das Landgericht nach erfolgter Anklageerhebung vor dem Hauptverhandlungstermin vom 29.06.2022 und den darin erfolgten erstmaligen Einlassungen der Angeklagten im Sinne des § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO die Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt erwägen und deswegen einen Sachverständigen hierzu vernehmen, zumal diese Vorschrift (auch) der Vermeidung überflüssiger Begutachtungen durch – nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehende – forensisch erfahrene Sachverständige dient (vgl. BGH, Beschluss vom 23.03.2022 – 6 StR 63/22, NStZ 2022, 432 m. Anm. Schneider).“.

 

BVerfG II: (Mehrfache) Aussetzung der Vollstreckung, oder: Prüfung der Vollzugstauglichkeit vor Haftantritt

Und die zweite Entscheidung aus Karlsruhe hat dann auch mit Haft zu tun. Und: Ich hatte das Posting zu dem BVerfG, Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22 – mit „Hat man nicht so häufig, oder doch? 🙂 “ abgeschlossen (vgl. BVerfG I: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Eilantrag gegen Haftbefehl hat Erfolg). Die Frage ist/war berechtigt, denn hier habe ich dann mit dem BVerfG, Beschl. v. 10.12.2019 – 2 BvR 2061/19 – gleich die nächste Entscheidung zur Haft, die in dieselbe geht.

Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde. Mit Schreiben vom 18.11.2019 wurde der Verurteilte  von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, der Ladung zum Strafantritt vom 17.05.2019 sofort Folge zu leisten. Um eine Verhaftung zu vermeiden, stellte der sich daraufhin nach seinem Vortrag am 21.11.2019 zum Strafantritt.

Das BVerfG hat die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des LG Essen nach Maßgabe des Beschlusses des BGH vom 20.06.2018 – 4 StR 561/17 – bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde mit BVerfG, Beschl. v. 10.12.2029 – – 2 BvR 2061/19 – in der Hauptsache ausgesetzt:

BVerfG I: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Eilantrag gegen Haftbefehl hat Erfolg

© eyetronic – Fotolia.com

In die 30. KW./2022 starte ich heute mit zwei Entscheidungen des BVerfG. Beide haben mit Haft zu tun.

Zunächst stelle ich den BVerfG, Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22 – vor. Er ist in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren ergangen, in dem das OLG Celle mit dem OLG Celle, Beschl. v. 20.04.2022 – 2 Ws 62/22 – zur Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung im Recht der Wiederaufnahme Stellung genommen hat (vgl. hier Neues Spurengutachten 40 Jahre nach Freispruch, oder: Wiederaufnahme zu Ungunsten verfassungmäßig?). 

Das OLG Celle hatte in dem Verfahren die neue Regelung in § 362 Nr. 5 StPO als verfassungsgemäß angesehen. Das LG Verden hatte nach fast 40 Jahren in einem Verfahren, in dem der Angeklagte von der Tötung einer 17-jährigen frei gesprochen worden war, den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederaufnahme des Verfahrens für zulässig erklärt und Untersuchungshaft angeordnet. Grundlage für den Wiederaufnahmeantrag war ein im Jahr 2012 erstelltes molekulargenetischen Gutachten des LKA Niedersachsen zu einer Spermaspur am Slip der Getöteten. Nach dem Gutachten kann der Angeklagte als Verursacher dieser Spermaspur in Betracht kommen.

Das OLG Celle hatte in dem Verfahren (auch) die Haftbeschwerde des Angeklagten gegen die angeordnete U-Haft verworfen.

Dagegen die Verfassungsbeschwerde und der Antrag, den Haftbefehl im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde außer Vollzug zu setzen. Dem Antrag ist das BVerfG gefolgt. Dazu das BVerfG in seiner Entscheidung, die übrigens mit 5 : 3 Stimmen ergangen ist:

„aa) Entzieht sich der Beschwerdeführer dem Strafverfahren, wird das – im Fall der Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerde bestehende – öffentliche Interesse an der Wiederaufnahme und der anschließenden Durchführung des Strafverfahrens gegen ihn beeinträchtigt und unter Umständen vereitelt.

(1) Die besonders strengen Voraussetzungen für die Aussetzung der Geltung eines Gesetzes müssen hier nicht erfüllt sein. Zwar besteht nach der Gesetzesbegründung ohne die Neuregelung die Gefahr einer nachhaltigen Störung des Rechtsfriedens und des Vertrauens in die Strafrechtspflege. Dabei nimmt sie ausdrücklich auf den hier streitgegenständlichen Fall Bezug (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 10) und bringt damit zum Ausdruck, dass gerade die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer ermöglicht werden soll. Dennoch blieben die Folgen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung auf den vorliegenden Fall begrenzt. Entzöge sich der Beschwerdeführer infolge der Außervollzugsetzung des Haftbefehls dem erneuten Strafverfahren, bliebe die Anwendung des Gesetzes in anderen Wiederaufnahmefällen unberührt.

(2) Es besteht aber auch im Einzelfall ein gewichtiges Allgemeininteresse an der Strafverfolgung eines Mordes. Das Grundgesetz weist den Erfordernissen einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege einen hohen Rang zu (vgl. BVerfGE 80, 367 <375>). Das Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222>; 122, 248 <272>; 130, 1 <26>). Hierzu zählt, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222 f.>; 122, 248 <272 f.>; 133, 168 <199 Rn. 57>). Dies umfasst die Pflicht, die Durchführung eingeleiteter Strafverfahren und die Vollstreckung rechtskräftig erkannter (Freiheits-)Strafen sicherzustellen (vgl. BVerfGE 46, 214 <222 f.>; 51, 324 <344>; 133, 168 <199 f. Rn. 57>).

bb) Käme es dagegen lediglich zu einer Verzögerung des Wiederaufnahmeverfahrens sowie der daran anschließenden erneuten Hauptverhandlung, so hätte dies für sich genommen angesichts der Besonderheiten des vorliegenden Falles kein besonders schweres Gewicht.

(1) Grundsätzlich ist auch eine zügige Durchführung des Strafverfahrens ein gewichtiger Belang einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (vgl. BVerfGE 63, 45 <68 f.>; 122, 248 <273>; 133, 168 <200 f. Rn. 59>). Sie erfordert eine Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs innerhalb so kurzer Zeit, dass die Rechtsgemeinschaft die Strafe noch als Reaktion auf geschehenes Unrecht wahrnehmen kann (vgl. BVerfGE 122, 248 <273>). Die Zwecke der Kriminalstrafe werden durch unnötige Verfahrensverzögerungen in Frage gestellt (vgl. BVerfGE 122, 248 <273>) und die verfassungsrechtliche Pflicht zur bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit wird beeinträchtigt, da die Beweisgrundlage durch Zeitablauf verfälscht werden kann (vgl. BVerfGE 57, 250 <280>; 122, 248 <273>; 133, 169 <201>).

Hier liegt die verfolgte Straftat allerdings bereits über 40 Jahre zurück. Es steht daher nicht zu erwarten, dass eine spätere Durchführung der erneuten Hauptverhandlung eine substantielle Verschlechterung der Beweislage und damit eine (weitere) Erschwerung der Wahrheitsermittlung mit sich brächte. Ebenso geht vom Beschwerdeführer angesichts des langen Zeitraumes, in dem er strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist, keine mit dem Mordvorwurf typischerweise verbundene besondere Gefährlichkeit aus, der insbesondere der spezialpräventive Zweck der Bestrafung entgegenwirken soll.

(2) Auch kann die vom Gesetzgeber mit der Neuregelung bezweckte Befriedungswirkung besser erreicht werden, wenn über die Verfassungsbeschwerde bereits vor der Weiterführung des Wiederaufnahmeverfahrens abschließend entschieden ist. Es wäre nicht mit der Unsicherheit belastet, dass die Verfassungsbeschwerde Erfolg haben und ihm damit die Rechtsgrundlage entziehen könnte.

c) Sowohl die Folgen einer einstweiligen Anordnung als auch die Folgen ihres Unterlassens sind damit insgesamt von solchem Gewicht, dass sie jeweils nicht vollständig zurücktreten dürfen.

Anders als in anderen Fällen der Anordnung von Untersuchungshaft besteht nicht nur die Möglichkeit, dass sich der Tatverdacht im Zuge der Ermittlungen beziehungsweise des Strafverfahrens nicht erhärtet. Ausschlaggebend ist vielmehr die Möglichkeit, dass die Untersuchungshaft gar nicht hätte erfolgen dürfen, weil die Strafverfolgung insgesamt unzulässig ist, wenn sich die Norm, die die Strafverfolgung eröffnet, als verfassungswidrig erweist. Dem grundrechtlichen Schutz aus Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG kommt unter diesen Umständen daher ein größeres Gewicht zu als dem durch die Untersuchungshaft gesicherten staatlichen Strafverfolgungsinteresse.

Die Schwere des Tatvorwurfs, der im Wiederaufnahmefall den berechtigten Strafverfolgungsanspruch des Staates begründet, hat jedoch ein solches Gewicht, dass auch dem staatlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung Rechnung getragen werden muss. Dies kann zwar im Rahmen der hier erlassenen einstweiligen Anordnung den Vollzug des Haftbefehls nicht rechtfertigen, wohl aber die Anordnung von Maßnahmen, die weniger intensiv in Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG eingreifen. Angesichts der von den Fachgerichten festgestellten Fluchtgefahr, die der Beschwerdeführer nicht substantiiert entkräftet hat, sind die im Tenor aufgeführten Maßnahmen geboten, um den staatlichen Strafverfolgungsanspruch ausreichend zu sichern. Dem Eilbegehren des Beschwerdeführers trägt dies größtmöglich Rechnung. Dem Landgericht obliegt es, die Außervollzugsetzung des Haftbefehls im Weiteren auszugestalten und – soweit erforderlich – den Zweck des Haftbefehls durch Maßnahmen nach § 116 Abs. 4 StPO zu gewährleisten. Ein verbleibendes Risiko, dass sich der Beschwerdeführer der Strafverfolgung dennoch entzieht, muss dabei angesichts der besonderen Grundrechtsbelastung, die mit der – erneuten – Untersuchungshaft im Zuge der Zulassung des Wiederaufnahmeantrags verbunden ist, hingenommen werden.“

Hat man nicht so häufig, oder doch? 🙂