Und wenn ich den Tag schon mit einer falschen Entscheidung begonnen habe, dann schiebe ich gleich noch eine hinterher. Es handelt sich um den LG Essen, Beschl. v. 19.07.2021 – 27 Qs 35/21. Thematik: Erstattung der Kosten für ein Privatgutachten nach Einstellung des Bußgeldverfahrens. Das ist auch so ein Bereich, in dem sich die Vetreter der Staatskasse und die LG austoben und i.d.R. falsch entscheiden. So auch hier:
Dem Beschwerdeverfahren zugrunde liegt ein gegen die Betroffene geführtes Bußgeldverfahren wegen einer angeblichen Unterschreitung des gebotenen Abstandes zum vorausfahrenden Fahrzeuges. Deswegen erging ein Bußgeldbescheid. Vor der Hauptverhandlung teilte der Verteidiger dem Gericht mit, dass bestritten wird, dass es sich bei der Betroffenen um den Fahrer des Pkws handelt und reichte ein zuvor eingeholtes anthropologisches Privatgutachten ein. Der Verteidiger beantragte zudem, das Verfahren gegen die Betroffene einzustellen. Das AG stellt ein und legt sowohl die Kosten des Verfahrens als auch die der Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse auf.
Im Kostenfestsetzungverfahren wird dann um die Erstattung der Kosten für das außergerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten in Höhe von insgesamt 269,48 EUR gestritten. Die Bezirksrevisorin sieht die natürlich als nicht notwendig an. Das Gericht sei insoweit von Amts wegen dazu verpflichtet, entsprechende Feststellungen zur treffen. Die Rechtspflegerin hat dann nicht festgesetzt – wen wundert es? Dagegen das Rechtsmittel des Kollegen Urbanzyk, das keinen Erfolg hatte:
„Im Sinne des § 46 I OWiG i.V.m. § 464a II Nr. 2 StPO sind unter notwendigen Auslagen die einem Beteiligten erwachsenen, in Geld messbaren Aufwendungen zu verstehen, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, zur Geltendmachung seiner prozessualen Rechte in der gebotenen Form notwendig waren. Hierbei sind Aufwendungen für private Ermittlungen oder Beweiserhebungen in der Regel nicht als notwendig Auslagen anzusehen, weil Ermittlungsbehörden und Gericht von Amts wegen nach § 244 II StPO zur Sachaufklärung verpflichtet sind (LG Aachen, Beschl. v. 12.7.2018, 66 Qs 31/18; LG Berlin, Beschl. v. 05.03.2018, 534 Qs 21/18, jeweils zitiert nach juris). Die Interessen des Beschuldigten bzw. Betroffenen im Straf- bzw. Bußgeldverfahren sind durch die gesetzliche Verpflichtung der Ermittlungsbehörden und Gerichte zur umfassenden Sachaufklärung gewahrt, auf die die Verteidigung zudem durch die Stellung von Beweisanträgen und -anregungen Einfluss nehmen kann (§§ 163a II, 219, 220, 244 III bis VI StPO). Dies gilt auch für das Bußgeldverfahren, in welchem die Einflussmöglichkeiten des Betroffenen gegenüber denjenigen im Strafverfahren deutlich gemindert sind (§§ 55 II 2, 77 II OWiG). Demgegenüber handelt sich aber auch insoweit um ein Amtsermittlungsverfahren, welches schon auf der Ebene der Ermittlungen auch auf alle dem Betroffenen günstigen Umstände zu erstrecken ist (§§ 160 II StPO, 46 II OWiG).
Von diesem Grundsatz der fehlenden Notwendigkeit der Einholung außergerichtlicher Gutachten im Bußgeldverfahren sind zwar Ausnahmen anerkannt, vorliegend aber nicht einschlägig. Abgesehen von der Konstellation, in der das Privatgutachten tatsächlich ursächlich für den Freispruch oder die Einstellung des Verfahrens geworden ist, werden die Kosten ausnahmsweise z.B. auch dann als erstattungsfähig angesehen, wenn es ein abgelegenes und technisch schwieriges Sachgebiet betrifft (LG Wuppertal, Beschl. v. 08.02.2018, 26 Qs 214/17, zitiert nach juris). Auch wird darauf abgestellt, ob die Behörden den Beweisanregungen oder -anträgen der Verteidigung nachkommen und ob ohne die private Ermittlung sich die Prozesslage des Betroffenen verschlechtern würde (vgl. KG Berlin, Beschl. v. 20.02.2012, 1 Ws 72/09, zitiert nach‘ juris).
Nach der Auffassung des Landgerichts Aachen (LG Aachen, Beschl. v. 12.07.2018, 66 Qs 31/18, zitiert nach juris), welcher sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt, folgt aus dem das Bußgeld- wie auch das Strafverfahren beherrschenden Grundsatz der Amtsermittlung, dass allein die Entlegenheit der Materie die Einholung eines Privatgutachtens grundsätzlich nicht erstattungsfähig macht; Anders als im Zivilprozess, in dem die Natur des Parteiprozesses ein (weiteres) Privatgutachten zur Herstellung von ‚Waffengleichheit“ erforderlich machen kann, weil zum Beispiel dann, wenn die Gegenseite ihren Vortrag auf ein eigenes Privatgutachten stützen kann, der eigenen Substantiierungspflicht sonst nicht genügt werden kann, bietet die Verpflichtung des Gerichts und nach dem Gesetz auch der Anklagebehörde zur umfassenden Sachaufklärung zunächst Gewähr für die umfassende Objektivität auch eines von Amts wegen beauftragten Gutachtens. Demzufolge kann die Einholung eines Privatgutachtens aus der maßgeblichen ex ante-Sicht nur dann notwendig sein, wenn objektivierbare Mängel vorliegen, die zur Einholung des Gutachtens drängen. Ex-ante notwendig und damit erstattungsfähig kann ein Privatgutachten sowohl zur Überprüfung eines Erstgutachtens wie auch sonst zur ergänzenden Aufklärung also nur sein, wenn die bisher geführten Ermittlungen unzureichend sind. Allerdings ist es dem Betroffenen auch dann zuzumuten, die Behebung solcher Ermittlungslücken durch das Gericht zu beantragen. Zweite Voraussetzung für die Erstattungsfähigkeit von Gutachterkosten ex-ante ist es daher, dass dem Betroffenen andernfalls eine wesentliche Verschlechterung seiner Prozesslage droht. Dies kommt lediglich dann in Betracht, wenn die Ermittlungsbehörde bzw. das Gericht einem Beweisantrag nicht nachkommt und ein Zuwarten bis zur Hauptverhandlung nicht zumutbar ist. Im Bußgeldverfahren ist es insoweit dem Betroffenen stets zumutbar, auch ex-ante notwendig erscheinende Ermittlungen erst dann selbst zu veranlassen, wenn das in der Hauptsache zuständige Gericht diese abgelehnt hat. Wenn ein Privatgutachten in diesem Sinne ex-ante ausnahmsweise notwendig war, kommt es auf, die Relevanz für den späteren Freispruch ex-post auch nicht mehr an. Wenn dann aber zunächst auf eigenes Kostenrisiko veranlasste private Ermittlungen sich tatsächlich entscheidungserheblich zugunsten des Betroffenen auswirken, sind die Kosten hierfür stets zu erstatten (LG Aachen, Beschl. v. 12.07.2018, 66 Qs 31/18, zitiert nach juris). Hinzu kommt vorliegend, dass das Gutachten der Frage diente, ob es sich bei der auf dem Lichtbild abgelichteten Person um die Betroffene gehandelt hat. Hierbei handelte es sich zum einen nicht um einen technisch anspruchsvollen und schwierigen, technischen Sachverhalt, welcher u.U. auch durch Inaugenscheinnahme durch das Amtsgericht selbst entschieden werden kann.
Unter Anwendung der zuvor ausgeführten Grundsätze sind die von der Beschwerdeführerin – verauslagten Sachverständigenkosten vorliegend nicht erstattungsfähig.
Die Berücksichtigung der von der Verteidigung zitierten Entscheidungen führt zu keiner abweichenden Bewertung. In dem der Entscheidung des Landgerichts Bielefeld (LG Bielefeld, Beschl. v. 19.12.2019, 10 Qs 425/19, zitiert nach juris) zugrunde liegenden Sachverhalt handelte es sich um ein Gutachten zu einer schwierigen technischen Fragestellung, so dass das Gericht die Einholung eines Privatgutachtens als notwendige Vorbereitung für die Prozessführung und Darlegung durch den Verteidiger ansah und sie somit als erstattungsfähig behandelt hat. In dem zitierten Beschluss des Landgerichts Dresden (LG Dresden, Beschl. v. 07.10.2009, 5 Qs 50/07, zitiert nach juris) war ein amtswegig eingeholtes Gutachten mit objektivierbaren Mängeln behaftet, so dass es der Überprüfung durch ein Privatgutachten bedurfte. Diese Konstellationen sind vorliegend nicht gegeben.
Nach den obigen Ausführungen war es dem Verteidiger insbesondere aufgrund des im Bußgeldverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes zuzumuten, bei Zweifeln an der Fahrereigenschaft der Betroffenen die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zu beantragen. Erst wenn das Amtsgericht diesem Antrag nicht entsprochen hätte oder wenn es zur Widerlegung des gerichtlich eingeholten Gutachten erforderlich erscheint, hätte es aus ex-ante Sicht der Einholung eines Privatgutachtens bedurft, welches auch zur Akte hätte gereicht werden müssen.“
Das LG scheint das ernst zu meinen: Das Gericht kann durch/nach Inaugenscheinsnahme des Betroffenen in der Hauptverhandlung selbst entscheiden. Ah ja, sicher. Und ein anthropologisches Gutachten ist kein Hexenwert. Das kann jeder. Von da bis zum standardisierten Verfahren ist es nicht mehr weit. Man glaubt es nicht. Schön übrigens auch immer die Passage in den Beschlüssen, in denen auf das Beweisantragsrecht verwiesen wird. Aber hallo? Blendet man eigentlich das Theater an den AG um Beweisanträge aus. § 77 OWiG lässt grüßen.