Ich hatte ja neulich schon in einer Kurznachricht über das BVerfG, Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/23 – berichtet. Das ist das Urteil, mit dem das BVerfG die „Reform“ des Wiederaufnahmerechts durch Einfügung des neuen § 362 Nr. 5 StPO, der die Wiederaufnahme zuungusten des Verurteilten auch bei neuen Tatsachen oder Beweismitteln als zulässig ansah, „gekippt“ hat.
Zugrunde liegt der Entscheidung ein Verfahren in Niedersachsen, in dem u.a. der OLG Celle, Beschl. v. 20.04.2022 – 2 Ws 62/22 – ergangen ist, über den ich ja auch berichtet habe (vgl. Neues Spurengutachten 40 Jahre nach Freispruch, oder: Wiederaufnahme zu Ungunsten verfassungmäßig?. Der Sachverhalt und weitere Umstände sind in dem BVerfG, Urt. v. 31.10.2023, dargestellt. Daher erspare ich mir hier weitere Einzelheiten und verweise auf die Begründung des BVerfG.
Ich stelle hier auch nicht Teile aus dem Urteil ein. Das besteht auch 42 Seiten, was es nicht so einfach macht. Ich beschränke mich wegen der Vollständigkeit auf die Leitsätze des BVerfG. Diese lauten:
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Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt.
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Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft.
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Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt.
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Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist.
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Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.
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Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.
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Fazit: Nach einem Freispruch ist zwar nicht immer Schluß, aber zumindest reichen (nur) neue Tatsachen oder Beweismittel nicht für eine Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten. M.E. gut gemacht vom BVerfG.