Archiv für den Monat: März 2023

Haft II: Zulässige Dauer der sog. Organisationshaft, oder: Nach fünf Monaten ist es genug

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Die zweite Entscheidung, der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 02.02.2023 – 1 Ws 97/22 – äußert sich zur zulässigen Dauer der sog. Organisationshaft.

Mit Urteil vom 12.04.2021, rechtskräftig seit 20.04. 2021, wird gegen den Verurteilten im Rahmen einer Verurteilung wegen Verstoßes gegen das BtMG nach § 64 StGB die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Der zugleich bestimmte Vorwegvollzug der Strafe von 27 Monaten war durch Anrechnung der in einer einbezogener Sache erlittenen Untersuchungshaft sowie den anschließenden Vollzug von Strafhaft  erledigt. Der Verurteilte wurde indes erst am 24. Februar 2022 — also nach mehr als neunmonatiger Organisationshaft — aus der JVA Düsseldorf zum Vollzug der Maßregel in die LVR-Klinik Bedburg-Hau überführt.

Wegen der Einzelheiten des Verfahrensablaufs und des Hin und Her verweise ich auf den verlinkten Volltext. Der Verurteilte hat am 22.10.2021 seine Entlassung eantragt, hilfsweise die umgehende gerichtliche Entscheidung über seinen Antrag, die Organisationshaft für unzulässig zu erklären und ihn aus der Haft zu entlassen. Diesen Antrag hat die kleine Strafvollstreckungskammer des LG Düsseldorf mit Beschluss v. 09.11.2021 zurückgewiesen. Dagegen hat der Verurteilte am 20.11.2021 eingelegt, die zunächst nicht zu den Akten gelangt und bis zu einer Sachstandsanfrage seines Verteidigers am 18.02.2022 — offenbar versehentlich — unbearbeitet geblieben ist. Mit Schriftsatz vom 02.03.2022 hat der Verteidiger mitgeteilt, dass er nach am 24.02.2022 erfolgter Verlegung des Verurteilten in den Maßregelvollzug die sofortige Beschwerde mit dem Begehren aufrecht erhalte, die Grundrechtswidrigkeit der Organisationshaft festzustellen.

Dem Antrag ist das OLG nachgekommen:

„Zwar ist die zunächst nach § 462 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und — mangels förmlicher Zustellung – auch fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde durch die Verlegung des Untergebrachten in den Maßregelvollzug prozessual überholt und damit erledigt. Der Untergebrachte hat sein Rechtsmittel jedoch in zulässiger Weise in einen Feststellungsantrag umgestellt. Es besteht ein schutzwürdiges Interesse des Beschwerde-führers an der nachträglichen Feststellung, ob die gegen ihn vollzogene Organisations-haft (grund)rechtswidrig war (vgl. BVerfG NJW 2006, 427).

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (a.a.O.) darf auf der Grundlage der Maßregelanordnung für eine Übergangszeit, deren Dauer sich nach den Umständen des Einzelfalls richtet, „Organisationshaft“ vollzogen werden. Verfassungs-rechtlich geboten ist es allerdings, dass die Vollstreckungsbehörde unverzüglich und mit größtmöglicher Beschleunigung darauf hinwirkt, dass der Verurteilte in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Rechtskraft des Urteils und der Erledigung eines etwaigen Vorwegvollzuges in eine Entziehungsanstalt — gegebenenfalls auch in einem anderen Bundesland — überführt wird. Steht ein solcher Platz nicht zur Verfügung, muss der Verurteilte freigelassen werden (BVerfG, a.a.O. m.w.N.; vgl. auch OLG Hamm, Beschlüsse vom 25. November 2003 — 4 Ws 537/03, 4 Ws 569/03 und vom 7. Mai 2019 —111-1 Ws 209/19 m.w.N.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 20. September 2020 — 1 Ws 357/20 m.w.N. <jeweils juris>).

2. Gernessen an diesen Grundsätzen waren die Voraussetzungen für eine Vollstreckung der Organisationshaft seit dem 7. Oktober 2021 nicht mehr gegeben.

Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hatte sich zunächst sehr zeitnah bereits zehn Tage nach Eintritt der Urteilsrechtskraft mit der Bitte um Amtshilfe an die Staatsanwaltschaft Düsseldorf gewandt, die ihrerseits unverzüglich den LVR als örtlich zuständige Maßregelvollzugsbehörde um Zuweisung eines Behandlungsplatzes für den Verurteilten ersucht und in der Folgezeit immer wieder mit Nachdruck auf die Dringlichkeit der Aufnahme hingewiesen hat. Auch wenn nicht sofort ein konkreter Aufnahmetermin benannt werden konnte und zudem bekannt war, dass die Organisation wegen der angespannten Belegungssituation geraume Zeit in Anspruch nehmen werde, durfte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth zunächst auf das Freiwerden eines Therapieplatzes im zuständigen Bezirk warten, zumal der LVR immerhin ein „zeitnahes Bemühen“ in Aussicht gestellt hatte. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Verurteilte keinen Anspruch darauf, exakt mit Rechtskraft des zu vollstreckenden Urteils — oder wie hier mit dem Ende des Vorwegvollzuges — in eine Vollzugseinrichtung überführt zu werden, weil nicht für jeden im Vorfeld nicht vorhersehbaren Einzelfall ein freier Platz vorgehalten werden muss (BVerfG a.a.O.). Der Verurteilte hat vielmehr — jedenfalls bei unverzüglicher Anmeldung des Bedarfs durch die Vollstreckungsbehörde — eine gewisse Wartezeit hinzunehmen, deren zulässige Höchstdauer sich nach den Umständen des Einzelfalles bestimmt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. März 2021 —111-2 Ws 37/21; OLG Hamm a.a.O; OLG Frankfurt, Beschluss vom 14. April 2022 — 7 Ws 51/22 <jeweils juris>). Insoweit war hier mit Blick auf die aus der Corona-Pandemie resultierenden Unwägbarkeiten und Einschränkungen bei der Planung stationärer Klinikaufenthalte einerseits sowie mit Rücksicht auf das aus der Schwere der Anlasstaten und der suchtbedingten Unzuverlässigkeit des Verurteilten folgende besondere Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit andererseits ein großzügigerer Maßstab anzulegen. Vor diesem Hintergrund begegnet es noch keinen durchgreifenden Bedenken, dass die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth nicht sogleich parallele Bemühungen um eine Unterbringung des Verurteilten in Bayern entfaltet hat. Nachdem die Staatsanwaltschaft Düsseldorf mit Telefax vom 3. August 2021 definitiv mitgeteilt hatte, dass bis zum Ablauf des 12. August 2021 — also innerhalb einer dort offenbar als zeitliche Obergrenze betrachteten Frist von drei Monaten — ein Unterbringungsplatz im zuständigen Bereich des LVR nicht zugesichert werden könne, hat die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth mit Verfügung vom 9. September 2021 eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, um mit Nachdruck auf eine zeitnahe Platzbeschaffung in Bayern hinzuwirken. Den mit der Klärung diesbezüglicher Erfolgsaussichten verbundenen Zeitaufwand hatte der Verurteilte mit Rücksicht auf die Gesamtumstände noch hinzunehmen, womit er sich im Übrigen unter Rücknahme seines Entlassungsgesuchs vom 30. August 2021 auch ausdrücklich einverstanden erklärt hatte.

Ausweislich der nachfolgend zwischen den beteiligten Staatsanwaltschaften gewechselten Schreiben stand dann jedoch am 7. Oktober 2021 fest, dass auch die weiteren Bemühungen fruchtlos verlaufen waren und dem Verurteilten weder in Nordrhein-Westfalen noch in Bayern ein Therapieplatz zur Verfügung gestellt oder auch nur die realistische Erwartung einer baldigen Aufnahme eröffnet werden konnte. Nachdem es der Staatsanwaltschaft nunmehr über einen Zeitraum von knapp fünf Monaten nicht gelungen war, den Verurteilten in den Maßregelvollzug zu überführen und überdies nach wie vor nicht einmal ein konkreter. Aufnahmetermin in Aussicht stand, war ein weiteres Zuwarten auf einen freien Platz auch unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit ab diesem Zeitpunkt nicht mehr vertretbar. Allein die fehlenden Aufnahmekapazitäten der Entziehungsanstalten vermochten einen weiteren Vollzug der Organisationshaft nicht zu rechtfertigen. Denn einem eindeutigen Gesetzesbefehl darf die Gefolgschaft nicht deshalb versagt werden, weil die Exekutive nicht die zu seiner Durchführung erforderlichen Mittel bereit hält (vgl. BVerfG a.a.0; BGHSt 28, 327; OLG Frankfurt a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.).“

Haft I: Alkoholisiert in der Hauptverhandlung, oder: Haftbefehl ist das letzte Zwangsmittel

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Ich habe länger keine Haftentscheidungen vorgestellt. Heute ist es dann mal wieder so weit.

Den Opener mache ich mit dem OLG Nürnberg, Beschl. v. 09.03.2023 – Ws 207/23 -, den mir der Kollege Jendricke aus Amberg geschickt hat. Das OLG nimmt Stellung zu einem nach § 230 Abs. 2 StPo ergangenen (Sitzungs)Haftbefehl. Ergangen ist der Haftbefehl im Berufungsverfahren. Der Angeklagte war dort in der Berufungshauptverhandlung alkoholisiert erschienen. Das LG erlässt daraufhin Haftbefehl, den das OLG auf die Haftbeschwerde des Kollegen hin aufgehoben hat:

„Die Beschwerde ist nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig und hat in der Sache Erfolg, da der Haftbefehl unverhältnismäßig ist.

Dabei kann die Frage einer genügenden Entschuldigung des Beschwerdeführers dahin stehen.

Ein Haftbefehl nach § 230 Abs: 2 StPO mit dem damit verbundenen Eingriff in die persönliche Freiheit darf nur dann ergehen, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters anders nicht gesichert werden kann. Er dient allein der Verfahrenssicherung in Bezug auf die (weitere) Durchführung der Hauptverhandlung und hat nicht etwa den (Selbst-)Zweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu sanktionieren.

Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel – nämlich die polizeiliche Vorführung – anzuordnen. Nur-dies wird dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck im angemessenen Verhältnis zueinander stehen müsssen. Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung ‚gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte zu dem (nächsten) Hauptverhandlungstermin erfolgreich vorgeführt werden kann.

Wenn das Gericht demgegenüber sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, muss aus seiner Entscheidung deutlich, werden, dass es eine Abwägung zwischen der polizeilichen Vorführung und dem Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, warum ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet worden ist, müssen tragfähig sein und in dem Beschluss in einer Weise schlüssig und nachvollziehbar aufgeführt werden, dass sie in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen seiner Eigenkontrolle gewährleisten. Von entsprechenden Darlegungen kann nur abgesehen werden, wenn die Nachrangigkeit des Freiheitsanspruchs offen zutage liegt und sich daher von selbst versteht.

Das Landgericht hat die in der Hauptverhandlung vorw15.02.2023 anwesende Sachverständige nicht befragt, ob durch eine frühzeitige Ingewahrsamnahme und Vorführung des Angeklagten zur nächsten Hauptverhandlung – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Facharztes – eine Verhandlungsfähigkeit hergestellt werden könne, zumal der Angeklagte sich bereit gezeigt hatte, zur Verhandlung zu erscheinen und die Sachverständige ausgeführt hat, der Angeklagte sei in Anbetracht seiner Erkrankung bei einem Alkoholgehalt von .einem Promille weniger verhandlungsfähig als bei zwei Promille.

Hinzukommt, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfordert, dass die Hauptverhandlung in angemessener Frist durchgeführt wird und vorliegend nicht geprüft wurde, ob zeitnah eine Herstellung der Verhandlungsfähigkeit bei zeitnaher Fortsetzung der Hauptverhandlung hergestellt kann. Ein neuer Hauptverhandlungstermin wurde bis jetzt nicht bestimmt, hierzu hätte spätestens zum Zeitpunkt der Abhilfeentscheidung Veranlassung bestanden.

Vor diesem Hintergrund ist der Haftbefehl unverhältnismäßig, er wird daher aufgehoben. Angesichts des Fehlens eines neuen Hauptverhandlungstermins und Feststellungen zur Erfolgsaus-sieht einer Vorführung wird davon abgesehen, schon jetzt über die Vorführung des Angeklagten als milderes Mittel zu entscheiden.

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Wie ist das mit der Kostenerstattung nach Einstellung?

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Am Freitag hatte ich gefragt bzw. zur Diskussion gestellt: Ich habe da mal eine Frage: Wie ist das mit der Kostenerstattung nach Einstellung?

Hier meine Antwort:

„Sie müssen zwei Dinge auseinander halten, und zwar:

Zunächst geht es um die Grundentscheidung. Die haben Sie mit der AG-Entscheidung, wobei ich nicht ganz verstehe, was die Einstellungsentscheidung zur Kostentragungspflicht gesagt hat. War da denn keine Kosten Grundentscheidung enthalten. Muss aber bzw. ich gehe davon aus, weil Sie ja Kostenfestsetzung beantragt haben. Das macht aber nur Sinn, wenn eine Kostengrundentscheidung enthalten war. Oder hat die Verwaltungsbehörde den Bußgeldbescheid zurückgenommen und eingestellt?

Allerdings: Wenn keine enthalten war, verstehe ich die Anfechtung nicht. Denn die ist doch an sich ausgeschlossen.

Unabhängig davon und das ist das Zweite: Die Tätigkeit in dem „Rechtsmittelverfahren“ wird nicht gesondert vergütet. Der Kostenfestsetzungsantrag wird durch die Verfahrensgebühr für das gerichtliche Verfahren mit abgegolten. Sie müssen die insoweit entstandenen Tätigkeiten ggf. durch eine Erhöhung der Verfahrensgebühr abrechnen. Die Differenz zur Verfahrensgebühr ohne KFA und Rechtsmittelverfahren hat die Staatskasse zu tragen. Das ist der „letzte“ Satz der Entscheidung. Das ist aber im Zweifel akademisch, denn dabei wird sich kaum ein bzw. nur ein so geringes Plus ergeben, dass sich der Aufwand nicht lohnt.“

BVerfG II: Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. oder: Anforderungen an Gegenbeweis nach § 418 ZPO

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Die zweite Entscheidung des BVerfG, der BVerfG, Beschl. v. 09.01.2023 – 2 BvR 2697/18 -, befasst sich noch einmal mit der Erforderlichkeit der Erhebung einer Anhörungsrüge vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde und dem Gegenbeweis nach § 418 ZPO.

Das BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde verworfen und dabei zu den beiden Punkten wie folgt Stellung genommen:

„Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie mangels erhobener Anhörungsrüge gemäß § 33a StPO dem Grundsatz der Subsidiarität nicht gerecht wird.

I.

Der in § 90 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt, dass Beschwerdeführer alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>; 112, 50 <60>). Das kann auch bedeuten, dass Beschwerdeführer zur Wahrung des Subsidiaritätsgebots gehalten sind, im fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung mit den gegebenen Rechtsbehelfen, insbesondere mit einer Anhörungsrüge, anzugreifen. Dies gilt selbst dann, wenn sie im Rahmen der ihnen insoweit zustehenden Dispositionsfreiheit mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen wollen (vgl. BVerfGE 126, 1 <17 f.>), durch den fachgerichtlichen Rechtsbehelf aber die Möglichkeit wahren, dass bei Erfolg der Anhörungsrüge in den vor den Fachgerichten gegebenenfalls erneut durchzuführenden Verfahrensschritten auch andere Grundrechtsverletzungen, durch die sie sich beschwert fühlen, beseitigt werden (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 Rn. 27>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. April 2005 – 1 BvR 644/05 -, Rn. 10).

Die Verweisung auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde steht allerdings unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit einer anderweitigen prozessualen Möglichkeit zur Abhilfe (vgl. BVerfGE 132, 99 <117 Rn. 45>). Zur Vermeidung der Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, in der sich der Beschwerdeführer nicht auf eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG beruft, muss er eine Anhörungsrüge oder den sonst gegen eine Gehörsverletzung gegebenen Rechtsbehelf nur dann ergreifen, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten ist, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 f. Rn. 28>).

II.

So liegt der Fall hier. Soweit der Beschwerdeführer rügt, das Landgericht habe unzulässig im Rahmen der – vorgelagerten – Prüfung der ordnungsgemäßen Zustellung die Anforderungen an die Erschütterung der Beweiskraft der Postzustellungsurkunde nach § 418 Abs. 2 ZPO mit dem – die nachgelagerte Frage der Wiedereinsetzung betreffenden – Glaubhaftmachungsmaßstab des § 45 Abs. 2 StPO vermengt und in der Folge seine Beweisangebote unzulässigerweise abgelehnt, hätte es für einen vernünftigen Verfahrensbeteiligten nahegelegen, eine Anhörungsrüge zum Landgericht zu erheben.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt die Nichtberücksichtigung eines als sachdienlich und erheblich angesehenen Beweisangebots dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfGE 69, 141 <144>; 105, 279 <311>). Auch in Verfahren, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, darf die Nichtberücksichtigung eines Beweisantrags nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen, sondern muss eine Stütze im Prozessrecht finden (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. September 2009 – 1 BvR 3501/08 -, juris, Rn. 13). Bei einem Einspruch gegen den Strafbefehl ist vom Gericht zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob die Einspruchsfrist des § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO gewahrt ist. Dabei ist es von Verfassungs wegen geboten, dass das Gericht sich mit besonderer Sorgfalt die erforderliche Überzeugung vom Beginn der Einspruchsfrist verschafft (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Oktober 2020 – 2 BvR 554/20 -, juris, Rn. 31, 34 m.w.N.).

2. Hiernach liegt eine Gehörsverletzung durch das Landgericht jedenfalls nahe.

Der Beschwerdeführer beruft sich darauf, dass seine Beweisangebote betreffend den Beginn der Einspruchsfrist unter dem Gesichtspunkt der Glaubhaftmachung durch das Landgericht als unstatthaft erachtet worden seien, während tatsächlich gemäß § 418 Abs. 2 ZPO Beweis über den Zustellungszeitpunkt hätte erhoben werden müssen; daher sei das Landgericht unter Verkennung des fachprozessualen Maßstabs davon ausgegangen, dass die Einspruchsfrist am 17. April 2018 in Gang gesetzt worden und der Einspruch vom 9. Mai 2018 somit verfristet gewesen sei. In der Sache macht der Beschwerdeführer also die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots unter eklatantem Verstoß gegen das Prozessrecht geltend. Diese Rüge dürfte zutreffen.

a) Wird ein Strafbefehl nicht ordnungsgemäß zugestellt, wird die Einspruchsfrist nicht in Gang gesetzt. Die Frage des Zustellungszeitpunktes ist daher der Frage einer möglichen Verfristung und anschließenden Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist vorgelagert. Bei der Prüfung, ob einem Beschuldigten ein Strafbefehl wirksam zugestellt wurde, sind die Fachgerichte gehalten, den Grundsatz rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung zu beachten. Sie dürfen bei der Anwendung und Auslegung der prozessrechtlichen Vorschriften, die die Gewährung rechtlichen Gehörs sichern sollen, keine überspannten Anforderungen stellen. Dies gilt insbesondere, wenn – wie hier – der erste Zugang zu Gericht infrage steht (vgl. BVerfGE 37, 100 <101 f.>; vgl. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31. Juli 2007 – Vf. 16-VI-07 -, juris, Rn. 19).

Gemäß § 418 Abs. 1 ZPO begründen öffentliche Urkunden wie die Postzustellungsurkunde zwar vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, also insbesondere den Umstand der Zustellung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Allerdings lässt § 418 Abs. 2 ZPO den Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen zu. Dieser Gegenbeweis lässt sich aber nicht durch die bloße Behauptung führen, das betreffende Schriftstück nicht erhalten zu haben, weil es für die Wirksamkeit der Zustellung nicht darauf ankommt, ob und wann der Adressat das Schriftstück seinem Briefkasten entnommen und ob er es tatsächlich zur Kenntnis genommen hat. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen erfordert vielmehr den Beweis eines anderen als des beurkundeten Geschehensablaufs, der damit ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt. Hierfür bedarf es einer substantiierten Darlegung der Umstände, die gegen die Richtigkeit des Inhalts der öffentlichen Urkunde sprechen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Februar 2002 – 2 BvR 2017/01 -, Rn. 4; Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31. Juli 2007 – Vf. 16-VI-07 -, juris, Rn. 23 m.w.N.). Hinreichend substantiierte Darlegungen können – selbst wenn sie die Beweiskraft der Zustellungsurkunde nicht beseitigen – den Gerichten Anlass bieten, weitere Nachforschungen anzustellen (vgl. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31. Juli 2007 – Vf. 16-VI-07 -, juris, Rn. 25; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Februar 2002 – 2 BvR 2017/01 -, Rn. 7). Kommt ein Gericht zu dem Ergebnis, dass der volle Beweis für den Zugang eines Schriftstücks mit den vorgelegten Mitteln der Glaubhaftmachung nicht erbracht ist, muss es darauf hinweisen und den Betroffenen Gelegenheit geben, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen; sodann hat es – auf Antrag oder von Amts wegen – über die behaupteten Umstände Beweis zu erheben (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZB 39/19 -, juris, Rn. 18 zur fristgerechten Einreichung eines Berufungsschriftsatzes).

b) Dies zugrunde gelegt, liegt es nahe, dass die Rechtsanwendung des Landgerichts keine Stütze im Prozessrecht mehr findet.

Zwar begegnet es keinen Bedenken, dass das Landgericht im Ausgangspunkt angenommen hat, dass mit der Postzustellungsurkunde zunächst der volle Beweis über die Zustellung des Strafbefehls am 17. April 2018 erbracht gewesen sei. Der Beschwerdeführer hatte hierzu jedoch vorgetragen, dass durch eine Vernehmung seines Bruders sowie des Postzustellers die Unrichtigkeit der in der Postzustellungsurkunde bezeugten Tatsachen bewiesen werden könne, und eine entsprechende Beweiserhebung beantragt. Mit seinem Tatsachenvortrag zum Ablauf der Zustellung und seinem diesbezüglichen Beweisangebot hat der Beschwerdeführer die Frage nach der Erschütterung der Postzustellungsurkunde und dem darin bezeugten Zustellzeitpunkt aufgeworfen. Nach den unter a) ausgeführten Maßstäben wäre diesem Tatsachenvortrag gemäß § 418 Abs. 2 ZPO im Rahmen der Frage, wann dem Beschwerdeführer der Strafbefehl zugegangen ist, weiter nachzugehen beziehungsweise hierüber Beweis zu erheben gewesen, sofern dieser Vortrag hinreichend substantiiert und das angebotene Beweismittel erheblich war; insbesondere gilt insoweit keine Beschränkung auf präsente Beweismittel.

Der Umstand, dass das Landgericht als Zeitpunkt für die Zustellung des Strafbefehls und damit für den Fristbeginn ohne gesonderte Begründung den 17. April 2018 feststellt, legt nahe, dass das Landgericht den dargestellten Prüfungsmaßstab verkannt hat. Stattdessen prüft es das Vorbringen des Beschwerdeführers ausschließlich als Wiedereinsetzungsantrag am Maßstab des § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO; lediglich im Rahmen dieser Prüfung kommt es auf § 418 Abs. 2 ZPO zu sprechen. Nach seiner Auffassung habe der Beschwerdeführer den vollen Gegenbeweis nicht erbracht, da es an einem geeigneten Mittel der Glaubhaftmachung fehle. Es sei nicht Sache des Gerichts, von sich aus Zeugen zu vernehmen oder vernehmen zu lassen. Wie ausgeführt, ist der Beschwerdeführer hinsichtlich des Gegenbeweises zum in der Postzustellungsurkunde genannten Zustellzeitpunkt jedoch nicht auf präsente Beweismittel beschränkt. Sofern der Tatsachenvortrag hinreichend substantiiert und erheblich ist, hat das Gericht dem Beweisangebot nachzugehen.

c) Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf der naheliegenden Verletzung des Prozessgrundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. zu diesem Erfordernis BVerfGE 86, 133 <147>; 89, 381 <392>; 92, 158 <184 f.>). Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht, sofern es den zutreffenden prozessrechtlichen Maßstab zugrunde gelegt hätte, das Vorbringen des Beschwerdeführers als hinreichend substantiiert und erheblich berücksichtigt und eine Vernehmung seines Bruders durchgeführt hätte.“

BVerfG I: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, oder: Ausschöpfen der Rechtsmittelfrist ist/bleibt erlaubt

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Ich starte in die neue Woche mit zwei Entscheidungen des BVerfG.

Zunächst: Fristen dürfen bis zum letzten Tag ausgeschöpft werden. Das hat das BVerfG jetzt im BVerfG, Beschl. v. 14.02.2023 – 2 BvR 653/20 – noch einmal bestätigt.

Entschieden hat das BVerfG mit dem Beschluss über die Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des AG Diepholz in einem Bußgeldverfahren. Bem Betroffenen war ein Bußgeldbescheid über 500 EUR zugestellt worden, in dem dem Betroffenen vom Jobcenter vorgeworfen wurde, seinen Mitteilungspflichten gegenüber der Behörde nicht nachzugekommen zu sein.

Der Bußgeldbescheid ging dem Betroffenen am 27.01.2018 zu. Mit Schreiben vom 19.02.2018 hat er gegen diesen Bescheid Einspruch eingelegt und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Einspruchsfrist. Zur Begründung führte er aus: Der Bußgeldbescheid sei ihm am 27.01.2018 zugegangen; die Einspruchsfrist sei demnach am 12.02.2018 abgelaufen. Vom 12. bis 14.02.2018 habe er an einem fieberhaften grippalen Infekt gelitten und sei daher nicht in der Lage gewesen, seinen geschäftlichen Angelegenheiten nachzukommen. Der Einspruchsschrift fügte er ein Attest eines Facharztes für Allgemeinmedizin bei, aus dem hervorgeht, dass er in der Zeit vom 12. bis 14.02.2018 an einem fieberhaften grippalen Infekt gelitten habe und deshalb verhandlungs- und reiseunfähig gewesen sei. Infolgedessen habe er seinen geschäftlichen Angelegenheiten nicht nachkommen können.

Der Einspruch des Betroffenen wurde verworfen. Der Wiedereinsetzungsantrag hatte keinen Erfolg. Erfolgreich war dann die Verfassungsbeschwerde:

2. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Diepholz vom 30. September 2019 richtet, ist sie zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet.

a) Die Verfassungsbeschwerde ist in diesem Umfang zulässig. Insbesondere wahrt sie noch die Anforderungen an eine hinreichend substantiierte Begründung gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG.

aa) Nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ist es erforderlich, dass der die Rechtsverletzung enthaltende Vorgang substantiiert und schlüssig vorgetragen wird (vgl. BVerfGE 81, 208 <214>; 89, 155 <171>; 99, 84 <87>; 108, 370 <386 f.>; 113, 29 <44>; 115, 166 <179 f.>; 130, 1 <21>; 149, 86 <108 f. Rn. 61>; 151, 67 <84 f. Rn. 49>). Bei einer gegen eine gerichtliche Entscheidung gerichteten Verfassungsbeschwerde hat sich der Beschwerdeführer mit dieser in der Regel ins Einzelne gehend inhaltlich auseinanderzusetzen (vgl. BVerfGE 82, 43 <49>; 86, 122 <127>; 88, 40 <45>; 105, 252 <264>; 140, 229 <232 Rn. 9>). Es muss deutlich werden, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll; soweit das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, müssen diese herangezogen werden (vgl. BVerfGE 77, 170 <214 ff.>; 78, 320 <329>; 101, 331 <345 f.>; 105, 252 <264>; 130, 1 <21>; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. November 2021 – 2 BvR 1473/20 -, Rn. 16). Liegt zu den mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen bereits Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor, so ist der behauptete Grundrechtsverstoß in Auseinandersetzung mit den bereits entwickelten Maßstäben zu begründen (vgl. BVerfGE 77, 170 <214 ff.>; 99, 84 <87>; 101, 331 <345 f.>; 123, 186 <234>; 140, 229 <232 Rn. 9>; 142, 234 <251 Rn. 28>). Wenn die Verletzung eines verfassungsbeschwerdefähigen Rechts aufgrund des vorgetragenen Sachverhalts und der Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung und deren Begründung auf der Hand liegt, gelten im Hinblick auf die Darlegung des Verfassungsverstoßes geringere Anforderungen, sodass die Verletzung eines verfassungsbeschwerdefähigen Rechts nicht im Einzelnen anhand der einschlägigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe dargelegt werden muss (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2016 – 2 BvR 1997/15 -, Rn. 13 m.w.N.).

bb) Obgleich der Beschwerdeführer darauf verzichtet hat, im Rahmen seiner Verfassungsbeschwerdeschrift vertiefte Ausführungen zu der Reichweite der von ihm geltend gemachten verfassungsmäßigen Rechte und der vom Bundesverfassungsgericht hierzu entwickelten Maßstäbe zu machen, genügen seine Ausführungen diesen Anforderungen noch, denn er hat sich hinreichend mit den angegriffenen Entscheidungen auseinandergesetzt und aufgrund seines Vortrages liegt der Verfassungsverstoß durch den Beschluss vom 30. September 2019 auf der Hand.

b) Die Verfassungsbeschwerde ist im oben dargestellten Umfang offensichtlich begründet. Der Beschluss des Amtsgerichts Diepholz verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG.

aa) Art. 19 Abs. 4 GG garantiert die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>; 143, 216 <224 Rn. 18>). Davon umfasst ist zum einen das formelle Recht, überhaupt Gerichte einschalten zu können (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>). Zum anderen ist die Effektivität des Rechtsschutzes und der gerichtlichen Kontrolle selbst Teil des Gewährleistungsgehalts des Art. 19 Abs. 4 GG (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 51, 268 <284>; 61, 82 <110 f.>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>). Auch der Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) wird durch die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand berührt. Dieses Rechtsinstitut dient der Wahrung des Anspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 25, 158 <166>; 26, 315 <318>; 77, 275 <285 f.>). Wird die Wiedereinsetzung versagt, so wird dem Beschwerdeführer die Möglichkeit, seine Einwände wirksam vorzubringen, genommen.

bb) Das gerichtliche Verfahren und die Ausübung der Rechte aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG bedürfen der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, die an dem Ziel, dem Betroffenen wirksamen Rechtsschutz und eine effektive Äußerungsmöglichkeit zu vermitteln, zu messen ist. Die Ausgestaltung muss zweckgerichtet, geeignet, erforderlich und zumutbar sein und darf keine unangemessenen prozessrechtlichen Hürden für den Zugang zu den Gerichten und die Gewährung rechtlichen Gehörs eröffnen (vgl. BVerfGE 60, 253 <268 f.>; 84, 34 <49>). Der Zugang zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache darf daher – vorbehaltlich verfassungsunmittelbarer Schranken – in keinem Fall ausgeschlossen, faktisch unmöglich gemacht oder in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 44, 302 <305 f.>; 149, 346 <363 Rn. 34>).

Zulässig ist es, den Zugang zu den Gerichten von der Erfüllung formeller Voraussetzungen, insbesondere von der Einhaltung bestimmter Fristen, abhängig zu machen (vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.>; 10, 264 <267 f.>). Die Anforderungen, die an den Rechtsschutzsuchenden dabei gestellt werden, dürfen jedoch nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 25, 158 <166>; 26, 315 <318>; 31, 388 <390>). Prozessuale Fristen dürfen deshalb bis zu ihrer Grenze ausgenutzt werden (vgl. BVerfGE 40, 42 <44>; 41, 323 <328>; 52, 203 <207>; 69, 381 <385>). Dass ein Betroffener bis zum letzten Tag der Frist abwartet, ehe er eine fristgebundene prozessrechtliche Erklärung abgibt, kann ihm daher grundsätzlich nicht vorgeworfen werden. Lediglich dann, wenn dem Betroffenen hinsichtlich der Fristversäumnis ein Verschulden zur Last gelegt werden kann, kann ihm die Säumnis vorgehalten werden mit der Folge, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert werden kann. Der Betroffene hat beispielsweise den Aufwand zu kalkulieren, der zeitlich und organisatorisch erforderlich ist, um den rechtzeitigen Eingang seiner Prozesserklärung in der vorgeschriebenen Form zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März 2014 – 1 StR 74/14 -, juris, Rn. 6).

cc) Der Beschluss des Amtsgerichts Diepholz vom 30. September 2019 wird diesem Maßstab nicht gerecht. Das Amtsgericht verkennt die verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an die Handhabung des Rechtsinstituts der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen sind.

Dies gilt zunächst für die Versäumnis der Einspruchsfrist aufgrund Krankheit. Das Amtsgericht stützt seine Entscheidung maßgeblich darauf, dass der Beschwerdeführer den letzten Tag der Einspruchsfrist abwartete, ohne darzulegen, warum ihm die Erkrankung, auf die er sich beruft, zum Vorwurf zu machen sein sollte. Es geht vorliegend gerade nicht darum, dass der Beschwerdeführer den für den rechtzeitigen Eingang des Einspruchs erforderlichen Aufwand falsch kalkulierte. Dies verkennt das Amtsgericht und verwehrt ihm damit das Ausschöpfen der Einspruchsfrist.

Auch die Anforderungen, die das Amtsgericht hilfsweise an die Nachholung der versäumten Prozesshandlung stellt, verkennen den oben dargestellten Maßstab. Nach § 52 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO hat der Beschwerdeführer im Falle schuldloser Säumnis die fragliche Prozesshandlung innerhalb einer Woche nachzuholen. Auch diese Frist kann er nach dem dargestellten Maßstab ausschöpfen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. Juli 1998 – 2 Ws 385/98 -, juris, Rn. 4). Der Vorwurf, er habe nicht unverzüglich nach Wegfall der Erkrankung gehandelt, kann daher nicht als verfassungsrechtlich tragfähig angesehen werden.

dd) Die fachgerichtliche Entscheidung beruht auf diesem Verfassungsverstoß und kann daher nicht aufrecht erhalten bleiben. Das Amtsgericht Diepholz stützte sich allein auf diese verfassungsrechtlich unzulässigen Erwägungen….“