Archiv für den Monat: Juli 2022

News: Verwertung eines Geschwindigkeitsmessung, oder: Verwertbar ohne Rohmessdatenspeicherung?

Bild von mohamed Hassan auf Pixabay

Gerade kommt die PM zu einem Beschl. des VerfG Rheinland-Pfalz rein, und zwar zum VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.6.2022 – VGH B 30/21. Es geht um die Verwertung eines Geschwindigkeitsmessergebnisses ohne Speicherung von Rohmessdaten. Nach Auffassung des VerfGH verstößt das nicht gegen das Grundrecht auf ein faires Verfahren-

Die gebe ich hier zunächst mal einfach so weiter:

„Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz in Koblenz hat mit Beschluss vom 22. Juli 2022 eine Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen, der eine Verurteilung wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes zugrunde lag.

Der Beschwerdeführer war Betroffener in einem Bußgeldverfahren, in dem ihm ein Geschwindigkeitsverstoß (Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften nach Toleranzabzug um 70 km/h) vorgeworfen wurde. Die Geschwindigkeitsmessung erfolgte mittels eines mobilen Messgerätes des Typs PoliScan Speed M1. Bei diesem Messgerät werden kontinuierlich Laserimpulse ausgesendet, die vom Fahrzeug reflektiert und vom Gerätesensor erfasst werden und aus denen die Gerätesoftware sodann Position und Geschwindigkeit des Fahrzeugs berechnet. Diese dem Rechenvorgang zugrundeliegenden Positions- und Zeitdaten werden als Rohmessdaten bezeichnet und von dem Gerät PoliScan Speed M1 – wie auch von verschiedenen anderen Messgeräten – nicht dauerhaft, sondern nur bis zur Errechnung des Geschwindigkeitswertes abgespeichert, obwohl eine dauerhafte Speicherung technisch möglich wäre. Während des Bußgeldverfahrens begehrte der Beschwerdeführer über seine Verteidigung die Überlassung verschiedener, nicht in der Bußgeldakte enthaltener Messunterlagen. Zudem stellte er – schon vor der Entschei­dung der Bußgeldbehörde – einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Darüber hinaus machte er geltend, die Verwertung des ermittelten Geschwindigkeitsmesswertes bei gleichzeitiger Löschung der Rohmessdaten verstoße gegen das Recht auf ein faires Verfahren.

Das Amtsgericht Wittlich verurteilte den Beschwerdeführer im Juli 2020 wegen des Geschwindigkeitsverstoßes zu einer Geldbuße von 970,00 Euro und untersagte ihm für die Dauer von zwei Monaten, im Straßenverkehr Kraftfahrzeuge jeder Art zu führen. Seine gegen die amtsgerichtliche Entscheidung erhobene Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht Koblenz im Februar 2021.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer sowohl gegen das Urteil des Amtsgerichts als auch gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts und macht unter anderem eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren geltend. Seine Verurteilung basiere auf einem Messwert, der sich aus Rohmessdaten errechne, die aber nach der Messung vom Gerät gelöscht worden seien und damit zur nach­träglichen Überprüfung nicht mehr herangezogen werden könnten. Darüber hinaus habe er Einsicht in verschiedene Dokumente und Unterlagen begehrt, die nicht Bestandteil der Bußgeldakte seien. Die Ablehnung seines Einsichtsantrags stelle sich als eigenständiger Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren dar.

Nachdem der Verfassungsgerichtshof bereits im vergangenen Jahr einen Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt hatte (Beschluss vom 21. Juni 2021 – VGH A 39/21 –), blieb nunmehr auch die Verfassungs­beschwerde ohne Erfolg.

Was die vom Beschwerdeführer begehrten, tatsächlich vorhandenen Unterlagen anbelange, erweise sich die Verfassungsbeschwerde bereits als unzulässig. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde müsse der Beschwerdeführer schon im fachgerichtlichen Verfahren die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreifen, um eine Grundrechtsverletzung zu verhindern. Hierzu gehöre auch, dass der Betroffene eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens den Anspruch auf Zugänglich­machung der von ihm für erforderlich gehaltenen Daten und Unterlagen bereits gegen­über der Bußgeldstelle geltend mache und im Falle einer Verweigerung einen ord­nungsgemäßen Antrag auf gerichtliche Entscheidung bei dem zuständigen Amtsgericht stelle. Dies sei vorliegend unterblieben, da der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer schon vor der Entscheidung der Bußgeldbehörde einen Antrag auf gerichtliche Ent­scheidung gestellt habe, der in dieser (bedingten) Form nicht zulässig sei.

Hinsichtlich der gerügten Nichtspeicherung der Rohmessdaten durch das Geschwin­digkeitsmessgerät bleibe die Verfassungsbeschwerde in der Sache ohne Erfolg, da der Beschwerdeführer hierdurch nicht in seinem Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz verletzt werde. Aus dieser Gewährleistung folge im Grundsatz das Recht des Betroffenen eines Bußgeldverfahrens, in tatsächlich vorhandene Unterlagen Einsicht zu nehmen. Auf diese Weise werde dem auch von dem Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit betonten Gedanken der „Waffengleichheit“ zwischen Bußgeldbehörde und Betroffenem Rechnung getragen und diesem die Möglichkeit eröffnet, selbst nach Entlastungs­momenten in Gestalt von Fehlern im standardisiert ablaufenden Messverfahren zu suchen. Der Gedanke der Waffengleichheit komme im Falle der tatsächlich nicht (mehr) vorhandenen Rohmessdaten allerdings nicht zum Tragen, da die Rohmessdaten weder dem Betroffenen, noch der Bußgeldstelle, der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht zur Verfügung stünden.

Der Beschwerdeführer könne aus dem Recht auf ein faires Verfahren aber auch nicht für sich herleiten, dass bei standardisierten Messverfahren, zu denen auch die vorlie­gende Geschwindigkeitsmessung zähle, Rohmessdaten zwingend gespeichert werden müssten. Das Recht auf ein faires Verfahren schütze den Einzelnen davor, dass rechts­staatlich Unverzichtbares preisgegeben werde und stelle damit verfassungsrechtliche Mindestanforderungen auf, die vorliegend nicht unterschritten worden seien. Denn die Nichtspeicherung der Rohmessdaten, deren Nutzen für eine nachträgliche Überprüfung des Messergebnisses im technisch-fachwissenschaftlichen Schrifttum ohnehin umstrit­ten sei, werde durch verschiedene rechtsstaatliche Sicherungen hinreichend ausge­glichen. Zum einen stelle ein mehrstufiges Zulassungs- bzw. Konformitätsprüfungs­verfahren sicher, dass das Messgerät den Anforderungen des Mess- und Eichrechts entspreche. Dadurch werde die Überprüfung des einzelnen Geschwindigkeitsmess­wertes gleichsam auf das Messgerät selbst und sein Zulassungsverfahren vorverlagert. Zum anderen werde die fehlende vollständige Überprüfbarkeit des Messergebnisses durch die Reduzierung des gemessenen Wertes um einen die systemimmanenten Messfehler erfassenden Toleranzwert kompensiert. Schließlich bestünden verschie­dene weitere Möglichkeiten des Betroffenen und seines Verteidigers, den Vorgang der Geschwindigkeitsmessung nachträglich einer Überprüfung zu unterziehen, da ihm nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wie auch des Verfassungs­gerichtshofs Rheinland-Pfalz auf seinen ordnungsgemäßen Antrag hin vorhandene Unterlagen und Informationen mit erkennbarer Relevanz für die Verteidigung regel­mäßig zur Verfügung gestellt werden müssten.“

Alles andere dann nach Lektüre des Beschlusses.

BtM I: Täterschaft oder Teilnahme beim BtM-Handel, oder: Handlungen, die allein dem Transport dienen

Bild von Alexas_Fotos auf Pixabay

Der Tag heute ist Entscheidungen zum BtMG vorbehalten.

Ich starte mit dem  BGH, Beschl. v. 24.05.2022 – 4 StR 195/21 – zu Täterschaft und Teilnahme beim Handel mit Betäubungsmitteln.

Nach den landgerichtlichen Feststellungen verpackten die Angeklagten P. , M. , R. und B. gemeinsam in einer durch den Angeklagten M. sieben Wochen zuvor angemieteten Lagerhalle in W. (Kreis K. ) 7.758,8 g Haschisch mit einem Wirkstoffanteil von 1.226,3 g THC, 26.268,9 g Marihuana mit einem Wirkstoffanteil von 721,6 g THC und 3.982,6 g MDMA mit einem Wirkstoffanteil von 2.996,9 g MDMA-Base in Müllbeutel und verluden sie in einen Pkw Audi A8. Anschließend steuerte der Angeklagte P. mit dem Angeklagten B. als Beifahrer diesen Pkw in Richtung Po. oder L. , wo die Drogen entweder an einen nicht feststellbaren Abnehmer übergeben oder von den Angeklagten selbst gewinnbringend weiterverkauft werden sollten. Der Angeklagte R. steuerte einen vom Angeklagten Z. zur Verfügung gestellten Pkw VW T5, in dem sich auch die Angeklagten M. und Z. befanden und der als Begleitfahrzeug die Fahrt absicherte. Nachdem der Audi auf der Flucht vor einer Zollkontrolle einen Reifenschaden erlitten hatte, wurden die Angeklagten P. und B. von dem über Mobiltelefone herbeigerufenen Begleitfahrzeug aufgenommen.

Weitere Feststellungen zu den näheren Umständen der Lieferung der Betäubungsmittel an den Einladeort, zur geplanten Weitergabe der Betäubungsmittel oder zur Beteiligung der Angeklagten am Gewinn des Geschäfts hat die Strafkammer nicht getroffen.

Das Landgericht hat die Angeklagten P. , M. , R. und B. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gesprochen. Den Angeklagten Z. hat das Landgericht wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge  verurteilt. Hiergegen richten sich die Angeklagten mit ihren Revisionen. Die Revisionen der Angeklagten P. , M. , R. und B. hatten einen „Teilerfolg“.

„1. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen täterschaftlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nicht; die Angeklagten P. , M. , R. und B. haben sich lediglich der Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gemacht.

a) Für die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme gelten auch im Betäubungsmittelrecht die Grundsätze des allgemeinen Strafrechts. Beschränkt sich die Beteiligung am Handeltreiben mit Betäubungsmitteln auf einen Teilakt des Umsatzgeschäfts, so kommt es nach der neueren Rechtsprechung darauf an, welche Bedeutung der konkreten Beteiligungshandlung im Rahmen des Gesamtgeschäfts zukommt (vgl. BGH, Urteile vom 5. Mai 2011 – 3 StR 445/10 ,StV 2012, 287, 288; vom 28. Februar 2007 – 2 StR 516/06 , BGHSt 51, 219, 221 ; Beschlüsse vom 22. August 2012 – 4 StR 272/12 , NStZ-RR 2012, 375; vom 7. August 2008 – 3 StR 326/07, NStZ 2008, 40 [BGH 07.08.2007 – 3 StR 326/07] ). Maßgeblich sind insoweit insbesondere der Grad des eigenen Interesses am Erfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille dazu, so dass Durchführung und Ausgang der Haupttat maßgeblich auch vom Willen des Tatbeteiligten abhängen (vgl. BGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 – 4 StR 421/06, NStZ 2007, 288 [BGH 14.12.2006 – 4 StR 421/06] ; Beschluss vom 25. April 2007 – 1 StR 156/07 , NStZ 2007, 531; Beschluss vom 28. Oktober 2010 – 3 StR 324/10). Dabei kann eine Kuriertätigkeit als mittäterschaftliches Handeltreiben einzuordnen sein, wenn der Beteiligte über den reinen Transport hinaus erhebliche Tätigkeiten entfaltet (vgl. BGH, Urteil vom 28. Februar 2007 – 2 StR 516/06 ). Beschränkt sich der Tatbeitrag eines Drogenkuriers auf den bloßen Transport von Betäubungsmitteln, liegt selbst dann keine Täterschaft vor, wenn ihm faktische Handlungsspielräume hinsichtlich der Art und Weise des Transports verbleiben (vgl. BGH, Beschluss vom 12. August 2014 – 4 StR 174/14 ; Beschluss vom 3. Juli 2014 – 4 StR 240/14 ).

b) Hieran gemessen tragen die Feststellungen eine täterschaftliche Begehung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge durch die Angeklagten P. , M. , R. und B. nicht.

Nach den Feststellungen beschränkte sich die Tätigkeit der Angeklagten P. , M. , R. und B. auf das Verpacken der Betäubungsmittel in Müllsäcke, das Einladen in das Transportfahrzeug und die Überführungsfahrt und damit auf Tätigkeiten, die allein dem Transport der Betäubungsmittel dienen. Handlungen, die mit Blick auf das Gesamtgeschäft darüber hinausgehen, konnte das Landgericht nicht feststellen. Das gilt insbesondere für eine Einbindung in den An- oder Verkauf oder weitere Tätigkeiten am Zielort. Angesichts dieser Umstände vermögen auch die vom Landgericht angestellten Erwägungen zum konspirativen Verhalten der Angeklagten und dem hohen Entdeckungsrisiko die Annahme täterschaftlichen Handelns nicht zu tragen. Das gilt auch für den Angeklagten M. , da er zwar die Lagerhalle angemietet hatte, aber über das Einladen hinaus keine weiteren auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichteten Handlungen in der Halle festgestellt werden konnten…“

Lösung zu: Was rechne ich denn nun für das gewonnene Beschwerdeverfahren ab?

© haru_natsu_kobo Fotolia.com

Am Freitag hatte ich die etwas längere Frage: Ich habe da mal eine Frage: Was rechne ich denn nun für das gewonnene Beschwerdeverfahren ab? zur Diskussion gestellt.

Hier meine Antwort, die im (teilweise) umgekehrten Verhältnis zur Frage stand 🙂 :

„Die Nr. 4142 VV RVG ist doch nicht duch das Beschwerdeverfahren entstanden, sondern das ist ein zusätzliche Gebühr, die zusätzlich zu den Nrn. 4100, 4104 VV RVG entstanden ist, und zwar mit der ersten Tätigkeit, die Sie in dem Ermittlungsverfahren erbracht haben, nicht erst durch die Beschwerde.

Daher m.E. nein.“

Der Fragesteller hat es mit Fassung getragen.

BVerfG II: (Mehrfache) Aussetzung der Vollstreckung, oder: Prüfung der Vollzugstauglichkeit vor Haftantritt

Und die zweite Entscheidung aus Karlsruhe hat dann auch mit Haft zu tun. Und: Ich hatte das Posting zu dem BVerfG, Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22 – mit „Hat man nicht so häufig, oder doch? 🙂 “ abgeschlossen (vgl. BVerfG I: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Eilantrag gegen Haftbefehl hat Erfolg). Die Frage ist/war berechtigt, denn hier habe ich dann mit dem BVerfG, Beschl. v. 10.12.2019 – 2 BvR 2061/19 – gleich die nächste Entscheidung zur Haft, die in dieselbe geht.

Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde. Mit Schreiben vom 18.11.2019 wurde der Verurteilte  von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, der Ladung zum Strafantritt vom 17.05.2019 sofort Folge zu leisten. Um eine Verhaftung zu vermeiden, stellte der sich daraufhin nach seinem Vortrag am 21.11.2019 zum Strafantritt.

Das BVerfG hat die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des LG Essen nach Maßgabe des Beschlusses des BGH vom 20.06.2018 – 4 StR 561/17 – bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde mit BVerfG, Beschl. v. 10.12.2029 – – 2 BvR 2061/19 – in der Hauptsache ausgesetzt:

BVerfG I: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Eilantrag gegen Haftbefehl hat Erfolg

© eyetronic – Fotolia.com

In die 30. KW./2022 starte ich heute mit zwei Entscheidungen des BVerfG. Beide haben mit Haft zu tun.

Zunächst stelle ich den BVerfG, Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22 – vor. Er ist in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren ergangen, in dem das OLG Celle mit dem OLG Celle, Beschl. v. 20.04.2022 – 2 Ws 62/22 – zur Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung im Recht der Wiederaufnahme Stellung genommen hat (vgl. hier Neues Spurengutachten 40 Jahre nach Freispruch, oder: Wiederaufnahme zu Ungunsten verfassungmäßig?). 

Das OLG Celle hatte in dem Verfahren die neue Regelung in § 362 Nr. 5 StPO als verfassungsgemäß angesehen. Das LG Verden hatte nach fast 40 Jahren in einem Verfahren, in dem der Angeklagte von der Tötung einer 17-jährigen frei gesprochen worden war, den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederaufnahme des Verfahrens für zulässig erklärt und Untersuchungshaft angeordnet. Grundlage für den Wiederaufnahmeantrag war ein im Jahr 2012 erstelltes molekulargenetischen Gutachten des LKA Niedersachsen zu einer Spermaspur am Slip der Getöteten. Nach dem Gutachten kann der Angeklagte als Verursacher dieser Spermaspur in Betracht kommen.

Das OLG Celle hatte in dem Verfahren (auch) die Haftbeschwerde des Angeklagten gegen die angeordnete U-Haft verworfen.

Dagegen die Verfassungsbeschwerde und der Antrag, den Haftbefehl im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde außer Vollzug zu setzen. Dem Antrag ist das BVerfG gefolgt. Dazu das BVerfG in seiner Entscheidung, die übrigens mit 5 : 3 Stimmen ergangen ist:

„aa) Entzieht sich der Beschwerdeführer dem Strafverfahren, wird das – im Fall der Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerde bestehende – öffentliche Interesse an der Wiederaufnahme und der anschließenden Durchführung des Strafverfahrens gegen ihn beeinträchtigt und unter Umständen vereitelt.

(1) Die besonders strengen Voraussetzungen für die Aussetzung der Geltung eines Gesetzes müssen hier nicht erfüllt sein. Zwar besteht nach der Gesetzesbegründung ohne die Neuregelung die Gefahr einer nachhaltigen Störung des Rechtsfriedens und des Vertrauens in die Strafrechtspflege. Dabei nimmt sie ausdrücklich auf den hier streitgegenständlichen Fall Bezug (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 10) und bringt damit zum Ausdruck, dass gerade die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer ermöglicht werden soll. Dennoch blieben die Folgen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung auf den vorliegenden Fall begrenzt. Entzöge sich der Beschwerdeführer infolge der Außervollzugsetzung des Haftbefehls dem erneuten Strafverfahren, bliebe die Anwendung des Gesetzes in anderen Wiederaufnahmefällen unberührt.

(2) Es besteht aber auch im Einzelfall ein gewichtiges Allgemeininteresse an der Strafverfolgung eines Mordes. Das Grundgesetz weist den Erfordernissen einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege einen hohen Rang zu (vgl. BVerfGE 80, 367 <375>). Das Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222>; 122, 248 <272>; 130, 1 <26>). Hierzu zählt, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222 f.>; 122, 248 <272 f.>; 133, 168 <199 Rn. 57>). Dies umfasst die Pflicht, die Durchführung eingeleiteter Strafverfahren und die Vollstreckung rechtskräftig erkannter (Freiheits-)Strafen sicherzustellen (vgl. BVerfGE 46, 214 <222 f.>; 51, 324 <344>; 133, 168 <199 f. Rn. 57>).

bb) Käme es dagegen lediglich zu einer Verzögerung des Wiederaufnahmeverfahrens sowie der daran anschließenden erneuten Hauptverhandlung, so hätte dies für sich genommen angesichts der Besonderheiten des vorliegenden Falles kein besonders schweres Gewicht.

(1) Grundsätzlich ist auch eine zügige Durchführung des Strafverfahrens ein gewichtiger Belang einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (vgl. BVerfGE 63, 45 <68 f.>; 122, 248 <273>; 133, 168 <200 f. Rn. 59>). Sie erfordert eine Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs innerhalb so kurzer Zeit, dass die Rechtsgemeinschaft die Strafe noch als Reaktion auf geschehenes Unrecht wahrnehmen kann (vgl. BVerfGE 122, 248 <273>). Die Zwecke der Kriminalstrafe werden durch unnötige Verfahrensverzögerungen in Frage gestellt (vgl. BVerfGE 122, 248 <273>) und die verfassungsrechtliche Pflicht zur bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit wird beeinträchtigt, da die Beweisgrundlage durch Zeitablauf verfälscht werden kann (vgl. BVerfGE 57, 250 <280>; 122, 248 <273>; 133, 169 <201>).

Hier liegt die verfolgte Straftat allerdings bereits über 40 Jahre zurück. Es steht daher nicht zu erwarten, dass eine spätere Durchführung der erneuten Hauptverhandlung eine substantielle Verschlechterung der Beweislage und damit eine (weitere) Erschwerung der Wahrheitsermittlung mit sich brächte. Ebenso geht vom Beschwerdeführer angesichts des langen Zeitraumes, in dem er strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist, keine mit dem Mordvorwurf typischerweise verbundene besondere Gefährlichkeit aus, der insbesondere der spezialpräventive Zweck der Bestrafung entgegenwirken soll.

(2) Auch kann die vom Gesetzgeber mit der Neuregelung bezweckte Befriedungswirkung besser erreicht werden, wenn über die Verfassungsbeschwerde bereits vor der Weiterführung des Wiederaufnahmeverfahrens abschließend entschieden ist. Es wäre nicht mit der Unsicherheit belastet, dass die Verfassungsbeschwerde Erfolg haben und ihm damit die Rechtsgrundlage entziehen könnte.

c) Sowohl die Folgen einer einstweiligen Anordnung als auch die Folgen ihres Unterlassens sind damit insgesamt von solchem Gewicht, dass sie jeweils nicht vollständig zurücktreten dürfen.

Anders als in anderen Fällen der Anordnung von Untersuchungshaft besteht nicht nur die Möglichkeit, dass sich der Tatverdacht im Zuge der Ermittlungen beziehungsweise des Strafverfahrens nicht erhärtet. Ausschlaggebend ist vielmehr die Möglichkeit, dass die Untersuchungshaft gar nicht hätte erfolgen dürfen, weil die Strafverfolgung insgesamt unzulässig ist, wenn sich die Norm, die die Strafverfolgung eröffnet, als verfassungswidrig erweist. Dem grundrechtlichen Schutz aus Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG kommt unter diesen Umständen daher ein größeres Gewicht zu als dem durch die Untersuchungshaft gesicherten staatlichen Strafverfolgungsinteresse.

Die Schwere des Tatvorwurfs, der im Wiederaufnahmefall den berechtigten Strafverfolgungsanspruch des Staates begründet, hat jedoch ein solches Gewicht, dass auch dem staatlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung Rechnung getragen werden muss. Dies kann zwar im Rahmen der hier erlassenen einstweiligen Anordnung den Vollzug des Haftbefehls nicht rechtfertigen, wohl aber die Anordnung von Maßnahmen, die weniger intensiv in Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG eingreifen. Angesichts der von den Fachgerichten festgestellten Fluchtgefahr, die der Beschwerdeführer nicht substantiiert entkräftet hat, sind die im Tenor aufgeführten Maßnahmen geboten, um den staatlichen Strafverfolgungsanspruch ausreichend zu sichern. Dem Eilbegehren des Beschwerdeführers trägt dies größtmöglich Rechnung. Dem Landgericht obliegt es, die Außervollzugsetzung des Haftbefehls im Weiteren auszugestalten und – soweit erforderlich – den Zweck des Haftbefehls durch Maßnahmen nach § 116 Abs. 4 StPO zu gewährleisten. Ein verbleibendes Risiko, dass sich der Beschwerdeführer der Strafverfolgung dennoch entzieht, muss dabei angesichts der besonderen Grundrechtsbelastung, die mit der – erneuten – Untersuchungshaft im Zuge der Zulassung des Wiederaufnahmeantrags verbunden ist, hingenommen werden.“

Hat man nicht so häufig, oder doch? 🙂