Beweiswürdigung I: Aussage-gegen-Aussage-Thema, oder: Alle Umstände besonders sorgfältig gewürdigt?

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In die neue Woche starte ich mit zwei Entscheidungen zur Beweiswürdigung und dort zur Unterthematik: „Aussage-gegen-Aussage-Problematik. Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v.  18.05.2021 – 1 StR 124/21. Das LG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hatte mit der Sachrüge Erfolg. Der BGH beanstandet die Beweiswürdigung des LG:

„1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist rechtsfehlerhaft.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn das Tatgericht zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung stellt. Allerdings bestehen besondere Anforderungen an die Darlegung der Überzeugungsbildung, wenn das Tatgericht ‒ wie hier ‒ seine Feststellungen im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen allein auf die Angaben der Geschädigten stützt. In einer solchen Konstellation, in der die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, ob das Gericht den Angaben der einzigen Belastungszeugin folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegung einbezogen hat (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 6. August 2020 ‒ 1 StR 178/20 Rn. 8; vom 12. Februar 2020 ‒ 1 StR 612/19 Rn. 4; vom 18. März 2020 ‒ 1 StR 67/20 Rn. 7; vom 5. April 2016 ‒ 1 StR 53/16 Rn. 3 und vom 20. April 2017 ‒ 2 StR 346/16 Rn. 6).

b) Diesen Anforderungen wird das Urteil des Landgerichts ‒ auch eingedenk des nur eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs ‒ nicht gerecht.

aa) Das Landgericht hat bei der hier vorliegenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen zwar zutreffend zunächst die Einlassung des Angeklagten (UA S. 21 ‒ 25) umfassend dargestellt, sich dann aber den ‒ aus seiner Sicht ‒ glaubhaften Angaben der Nebenklägerin nach deren inhaltlicher Überprüfung in vollem Umfang angeschlossen (UA S. 25 ‒ 41). In die notwendigerweise besonders sorgfältige Gesamtwürdigung werden vom Landgericht aber nicht alle Umstände einbezogen, die seine Entscheidung hätten beeinflussen können. Insbesondere wird die Einlassung des Angeklagten, dass es zunächst zu einverständlichen sexuellen Handlungen und nach der ‒ sowohl vom Angeklagten als auch von der Nebenklägerin übereinstimmend geschilderten ‒ Zäsur nach dem Oralverkehr nicht mehr zu einem Vaginalverkehr gekommen sei, nicht gewürdigt und nicht mit den Angaben der Nebenklägerin abgeglichen. Dessen hätte es gerade deshalb bedurft, weil die Nebenklägerin im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung und bei ihren Angaben in der Hauptverhandlung (UA S. 27 ‒ 29) teilweise abweichende Angaben zum eigentlichen Geschehensablauf gemacht hat, welche das Landgericht aber gleichwohl als in ihren wesentlichen Teilen konstant (UA S. 27) bewertet, ohne die entsprechenden Angaben der Nebenklägerin insoweit wiederzugeben. Auch die vom Landgericht festgestellten Facebook-Nachrichten des Angeklagten an die Nebenklägerin nach der Tat, u.a. mit den Formulierungen ʺWieso hast du so am Rad gedreht.ʺ (UA S. 41), werden nicht in die insoweit gebotene Gesamtwürdigung eingestellt.

bb) Hinzu kommt, dass das Landgericht trotz der in mehrfacher Hinsicht unrichtigen Angaben der Nebenklägerin ohne diesbezügliche Gesamtwürdigung von deren Glaubwürdigkeit ausgeht. So hat die Nebenklägerin bei ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung zunächst verschwiegen, dass ihr ʺSchwarmʺ Si. in der Nacht vor der Tat bei ihr übernachtet hatte und dass der Zeuge H. zweimal zu ihr ins Hotel gekommen war. Einmal war dies unmittelbar nach dem Tatgeschehen gegen 1.00 Uhr für die Dauer von einer Stunde der Fall; später hatte der Zeuge bei einem weiteren Besuch im Hotelzimmer auf dem Sofa übernachtet. Zwar hat die Nebenklägerin diese Angaben ‒ nach entsprechenden Vernehmungen der vorgenannten Zeugen ‒ in der Hauptverhandlung bei ihrer zweiten Vernehmung richtiggestellt. Die Begründung der Nebenklägerin, dass die Falschaussage aus falsch verstandener Loyalität zu dem Zeugen H. gemacht wurde (UA S. 40), und die Folgerung des Landgerichts, dass diese Falschaussage keine Zweifel am sonstigen Wahrheitsgehalt ihrer Aussage begründen kann, werden nicht nachvollziehbar begründet. Dieses Verhalten der Nebenklägerin mit zunächst wahrheitswidrigen Angaben hätte ‒ auch im Zusammenhang mit der dargestellten abweichenden Einlassung des Angeklagten zum Tatgeschehen ‒ zumindest einer vertiefenden Auseinandersetzung im Rahmen der Gesamtwürdigung mit der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin bedurft, um den erhöhten Anforderungen an die Beweiswürdigung in dieser besonderen Konstellation zu genügen.“

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