Archiv für den Monat: September 2021

OWi II: Vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung, oder: Hand umklammert das Lenkrad mit fester Faust

Und als zweite Entscheidung dann noch einmal das AG Straubing, und zwar das AG Straubing, Urt. v. 16.08.2021 – 9 OWi 705 Js 16602/21. Das hat den Betroffenen wegen einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Den Vorsatz hat das AG wie folgt begründet:

„Das Gericht ist der Überzeugung, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung des Betroffenen in vorsätzlicher Begehungsweise erfolgte.

In der Gesamtschau der objektiven Umstände in Zusammenschau mit der Einlassung des Betroffenen ist das kognitive und das voluntative Element einer vorsätzlichen Begehensweise zumindest in Form eines bedingten vorsätzlichen Handelns gegeben.

Vorliegend erfolgt der Rückschluss auf eine vorsätzliche Begehungsweise aus folgenden Erwägungen:

Vorliegend wurde die zulässige Geschwindigkeit (50km/h) um ca. 60 % überschritten Bereits dieses hohe Ausmaß der Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts indiziert das Wollenselement des wenigstens bedingten Vorsatzes.

Das Gericht ist sich dabei bewusst, dass in der Regel allein vom objektiven Ausmaß einer Geschwindigkeitsüberschreitung nicht zwingend auf ein vorsätzliches Handeln geschlossen werden kann. Im vorliegenden Fall kommen jedoch weitere objektive Umstände und die Einlassung des Betroffenen hinzu, die dieses Indiz stützen und in der Gesamtschau den Schluss auf ein vorsätzliches Handeln zulassen.

Es handelt sich hierbei um folgende objektive Umstände:

Jeder Fahrzeugfahrer weiß in der Regel, dass innerhalb geschlossener Ortschaften die zulässige Höchstgeschwindigkeit max. 50 km/h beträgt. Anhaltspunkte dafür, dass dem Betroffenen dies nicht bekannt war, sind nicht vorhanden und wurden seitens des Betroffenen auch nicht eingewendet. Der Betroffene gibt selbst an aus Richtung L. und mithin einer Durchfahrung einer Ortschaft gekommen zu sein, was sich auch mit dem Messprotokoll und den Angaben der Zeugin deckt. Er startete seine Fahrt mithin innerorts. Der Betroffene wendet nicht ein, dass er bereits ein Ortsschild gesehen habe, welches das Ende der Ortschaft markiert.

Der Betroffene gibt zwar an, er habe in Erinnerung, dass die Höchstgeschwindigkeit vor längerer Zeit dort auf 70 km/h beschränkt sei. Dies liege jedoch ca. 1,5 bis 2 Jahre zurück. Diese Einlassung ist jedoch als Schutzbehauptung zu werten. Die Zeugin hat glaubhaft angegeben schon etwa 5 Jahre an der Örtlichkeit zu messen und dass in dieser Zeit immer die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch Ortsschild 50 km/h betragen habe. Der Betroffene wusste mithin, dass er die Strecke schon länger nicht mehr gefahren ist und dass er sich beim Losfahren innerorts befunden hat. Er wendet nicht ein, dass er ein Ortsendeschild wahrgenommen hat. Insofern hielt er es zumindest für möglich, sich noch in der Ortschaft zu befinden. Diese Annahme wird auch durch weitere objektive Umstände im Sinne der Bebauung und des Straßenverkaufs gestützt (ähnlich OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Oktober 1998 – 5 Ss (OWi) 302/98 – (OWi) 127/98 I – Rn. 6, juris).

Der Streckenverlauf war ausweislich der glaubhaften Angaben der Zeugin gerade und die Strecke ging bergauf. Dies deckt sich auch mit den Lichtbildern Bl. 4, 8-11 d.A. Auch der Betroffene gibt an, es sei bergauf gegangen. Insofern ist denknotwendig eine Betätigung des Gaspedals erforderlich.

An der Messörtlichkeit sind auf einer Seite mehrere Häuser und mithin eine zusammenhängende Bebauung zu erkennen. Dies ergibt sich aus den Angaben der Zeugin und den Lichtbildern Bl. 4, 8-11 d. A. Die Zeugin hat zudem glaubhaft bekundet, dass kurz vor der Messörtlichkeit aus L. kommend für Fahrer auf dieser Straße bereits links und rechts zusammenhängende Wohnbebauung erkennbar sei. Der Betroffene räumt selbst ein, aus der Ortschaft Leiblfing gekommen zu sein und mithin diese von der Zeugin genannte Strecke gefahren zu sein.

Dies indiziert, dass der Betroffene gemerkt haben muss, dass er zu schnell fährt, zumal der Betroffene aufgrund seiner eigenen nicht zu widerlegenden Einlassung ein Motiv hatte, zu schnell zu fahren, im Hinblick auf die terminlich gebotene Eile. Er gab selbst an. er habe es eilig gemacht und habe schnell noch Material holen müssen und es habe im Hinblick auf den Anschlusstermin pressiert. Der Betroffene ist auch kein Fahranfänger. Er arbeitet bereits seit Februar 2019 im väterlichen Betrieb und fährt in der Regel täglich werktags mit dem Auto zur Arbeit und fährt auch während der Arbeitszeit selbst zu Baustellen. Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene mit dem Fahrzeug keine Fahrpraxis hatte, waren nicht vorhanden und wurden nicht eingewendet.

Auch aus der Mimik des Betroffenen auf dem Messfoto sind objektive Umstände für ein vorsätzliches Handeln zu eruieren.

Aus dem Messfoto Bl. 4 d.A. ist zudem zu entnehmen, dass der Betroffene sehr konzentriert wirkt und auf zügiges Fortkommen bedacht ist. Er wirkt nicht abgelenkt. Dies ergibt sich aus dem Messfoto aus folgenden Umständen: Der Betroffene zeigt keine Blickabwendung, sondern schaut geradeaus nach vorne. Die Augen sind weit offen, was eine Anspannung und Konzentration indiziert. Die Hand umklammert das Lenkrad mit einer festen Faust. Die Hand ist mithin nicht weit offen über das Lenkrad positioniert, sondern als geballte Faust einzustufen. Auch dies indiziert eine Anspannung und Fokussierung auf das Fahren mit möglicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

Dass dem Betroffenen der Umfang einer Geschwindigkeitsüberschreitung möglicherweise nicht exakt bekannt ist, steht der Annahme von Vorsatz nicht entgegen. Vorsätzliches Handeln setzt eine solche Kenntnis nämlich nicht voraus. Vielmehr genügt das Wissen, schneller als erlaubt zu fahren (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 19. Februar 2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 684/20 –, Rn. 27, juris).“

Bemerkenswert fleißig das AG 🙂 . Obwohl das hier m.E. gar nicht nötig gewesen wäre. Man muss m.E. kein Prophet sein, um zu sagen. Die 60-prozentige Überschreitung hätte dem BayObLg wahrscheinlich gereicht.

OWi I: Die Kosten-/Halterhaftung nach § 25a StVG, oder: Scheibenwischerwarnung reicht nicht

Bild von diddi4 auf Pixabay

Heute dann ein OWi-Tag mit drei Entscheidungen aus Bayern, zweimal AG Straubing und einmal BayObLG.

Ich beginne mit dem AG Straubing, Beschl. v. 23.08.2021 – 9 OWi 441/21 –, ergangen zur Halterhaftung nach § 25a StVG.

Folgender Sachverhalt:

„….Im Hinblick auf einen mit dem Fahrzeug der Halterfirma begangenen Parkverstoß am 31.03.2021 wurde am Tattag am Tatfahrzeug eine sog. Scheibenwischerverwarnung mit Verwarnungsgeldangebot angebracht.

Eine Zahlung des Verwarnungsgeldes erfolgte nicht.

Am 15.04.2021 und 06.05.2021 gingen zwei Fahrerermittlungen mit einfachem Brief an die Halterfirma. Die Schreiben enthielten jeweils zugleich einen Hinweis auf die Kostentragungspflicht nach § 25a StVG.

Eine Rückantwort bzw. Zahlung der Halterfirma blieb aus.

Am 09.06.2021 erging sodann gegen die Halterfirma ein Kostenbescheid gemäß § 25a StVG. Der Bescheid wurde am 16.06.2021 per Postzustellungsurkunde zugestellt.

Mit Schreiben vom 17.06.2021 beantragte die anwaltlich vertretene Halterfirma eine gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG hinsichtlich des Kostenbescheides vom 09.06.2021.“

Der Antrag hatte beim AG dann Erfolg:

„2. Der Antrag ist begründet.

Der angefochtene Kostenbescheid erging nicht rechtmäßig, da die Voraussetzungen für den Erlass des Kostenbescheides nach § 25a StVG nicht vorlagen.

Die Kostenfolge des § 25a Abs. 1 StVG setzt voraus, dass die Ermittlungen des Täters nicht mit angemessenem Aufwand möglich sind. Zu einem angemessenen Aufwand der Täterermittlung gehört auch die rechtzeitige Befragung des Halters.

Eine solche rechtzeitige Halterbefragung liegt hier nicht vor.

Eine Anhörung des Halters ist nicht bereits in der sogenannten Scheibenwischerverwarnung zu erblicken. Sinn und Zweck des § 25a StVG ist die sichere Feststellung, dass der Halter die Möglichkeit hatte, den Fahrzeugführer zu benennen.

Gemessen an diesen Voraussetzungen genügt die Scheibenwischerverwarnung nicht, um von einer sicheren Feststellung auszugehen. Es ist nicht hinreichend gewährleistet, dass die Scheibenwischerverwarnung zur Kenntnis des Halters gelangt. Hierbei sind lebensnah vielfältige Ursachen, angefangen von bloßem Vergessen bis zur Nichtwahrnehmung des Zettels, möglich. Auch ist im Hinblick auf die Begrifflichkeiten des eingetragenen Halters, der nicht zwingend immer die Verfügungsgewalt über das Fahrzeug hat, für den Fahrer nicht zu überblicken bzw. einsehbar, wer als Halter zu benachrichtigen ist (NZV 2020, 504).

Auch die seitens der Stadt pp. am 15.04.2021 und 06.05.2021 an den Halter versandte Anhörung genügt nicht dem vorgenannten Rechtzeitigkeitsgebot. In Anlehnung an die Rechtsprechung zu § 31a StVZO ist die Rechtzeitigkeit am Zwei-Wochen-Maßstab zu messen. Nur bei einer solchen kurzen Zeitspanne ist ein Erinnerungsvermögen des Halters für die Frage, wer am Tattag das Fahrzeug hatte, realistisch (NZV 2020, 504, vgl. auch AG Berlin-Tiergarten, Beschluss vom 27.04.2016 – 290 OWi 389/16 (LSK 2016, 132258, beck-online). Vorliegend erfolgte die Absendung des Anhörungsbogens erst nach Ablauf der Zwei-Wochen-Frist. Hier sind keine Gründe ersichtlich, dass der Anhörungsbogen nicht innerhalb von zwei Wochen hätte versandt werden können. Die Tatsache, dass die Osterfeiertage in den Zeitraum der 2 Wochen fallen, rechtfertigt keine Verlängerung der Frist. Erinnerungen an den Fahrer sind im Gedächtnis eines Halters nicht deswegen länger verhaftet, weil kurz nach der Tat Feiertage folgen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass gerade Feiertage dazu führen können, dass durch Abschalten vom Alltagstrubel die Erinnerung eher verblasst. Gerade bei Feiertagen ist daher die Frist von 2 Wochen strikt einzuhalten. Im Übrigen fallen durch die Osterfeiertage für die Stadt lediglich 2 Werktage (Karfreitag und Ostermontag) als Arbeitstage weg.

Entgegen des Vorbringens der Stadt pp. ist es auch nicht belegt, dass die Scheibenwischerverwarnung bereits innerhalb von 14 Tagen in den Verantwortungsbereich des Halters gelangt ist.

Ein weiteres Argument, dass die Scheibenwischerwarnung nicht als rechtzeitige Befragung anzusehen ist, ist der Hinweis der Stadt pp. im Anhörungsschreiben. Insofern geht die Stadt pp. selbst davon aus, dass erst dieses Schreiben als Anhörung des Betroffenen zu werten ist, was durch den Hinweis auf § 55 OWiG untermauert wird.

Ein weiteres Argument gegen die Gleichsetzung von Scheibenwischerverwarnung und Anhörung des Halters ist auch, dass, selbst bei Erhalt der Verwarnung, der Halter nicht davon ausgehen muss, dass die Verwarnung zugleich als Aufforderung zu verstehen ist, den wahren Fahrer zu benennen. Es ist für einen rechtsunkundigen Laien nicht zweifelsfrei zu erkennen, dass zugleich eine Anhörungsmöglichkeit eröffnet ist.“

BtM III: Zurückstellung der Vollstreckung nach § 35 BtMG, oder: Ggf. auch bei Substitutionsbehandlung

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Und zum Schluss des Tages dann noch eine weitere Entscheidung zur Zurückstellung nach § 35 BtMG. Ich stelle aber vom dem umfangreich begründeten OLG Celle, Beschl. v.05.07.2021 – 2 VAs 8/21 – hier nur den Leitsatz ein. Den Rest bitte selbst lesen:

Die Durchführung einer ambulanten diamorphingestützten Substitutionsbehandlung rechtfertigt eine Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG, wenn die Behandlung auch eine intensive psychosoziale Begleitung umfasst und als Fernziel eine vollständige Abstinenz angestrebt wird.

BtM II: Zurückstellung der Vollstreckung nach § 35 BtMG, oder: Gesetzesänderung übersehen

Bild von mohamed Hassan auf Pixabay

In der zweiten Entscheidung, dem OLG Naumburg, Beschl. v. 10.08.2021 – 1 VAs 4/21 -, den mir der Kollege Reulecke geschickt hat, geht es um die Frage der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG. Ein entsprechender Antrag des Verurteilten war abgelehnt worden. Der Verurteilte hatt dann im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG Erfolg:

„Auch in der Sache hat der Antrag – vorläufig – Erfolg. Die Bescheide der Staatsanwaltschaft Halle – Zweigstelle Naumburg – vom 27. April 2021 und der Generalstaatsanwaltsehaft Naumburg vom 30. Juni 2021 sind rechtswidrig und verletzten den Antragsteller in seinen Rechten (§ 28 Abs. 1 Satz 1 EGGVG),

1. …..

2. Vorliegend haben die Staatsanwaltschaften den Antrag des Verurteilten auf Zurückstellung der Strafvollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Halle vom 4. Januar 2018 nach § 35 BtMG zurückgewiesen, da eine weitere Freiheitsstrafe – hier die sechsmonatige Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Bernburg vom 19. August 2020 – als Anschlussvollstreckung einer Zurückstellung entgegenstehe (§ 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG). Eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge – wie von dem Verurteilten beantragt ¬hat die Generalstaatsanwaltschaft abgelehnt, da die §§ 43 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 StVollstrO die Reihenfolge der Vollstreckung bestimmten.

Bei der Prüfung des Antrages des Verurteilten hat die Staatsanwaltschaft indes nicht in ihr Ermessen eingestellt, dass eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge nach §§ 43 Abs. 2 und 3 bei Vorliegen eines wichtigen Grundes nach § 43 Abs. 4 StVollstrO zur Änderung festgelegten Vollstreckungsreihenfolge führen kann.

Ein wichtiger Grund im Sinne des § 43 Abs. 4 StVollstrO, die Vollstreckungsreihenfolge zu ändern, ist hier nicht von vorneherein ausgeschlossen. Der vom Antragsteller beantragten Änderung der Vollstreckungsreihenfolge und der (Vorweg-)Vollzug der gesamten sechsmonatigen – nicht nach § 35 BtMG zurückstellungsfähigen – Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Bernburg steht die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Vermerk der Staatsanwaltschaft Halle – Zweigstelle Naumburg – vom 20. Juni 2021, BI. 137 Bd. II d. VH) nicht mehr entgegen. Zwar habe der Bundesgerichtshof entschieden, dass eine Vorabvollstreckung der nicht zurückstellungsfähigen Strafe unter Änderung der Vollstreckungsreihenfolge nach § 43 Abs. 4 StVollstrO selbst auf Antrag des Verurteilten nicht in Betracht komme, dies deshalb, weil auch eine nach § 454b Abs. 2 StPO unterbrochene Strafe eine im Sinne des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG zu vollstreckende Strafe sei, die die Zurückstellung der weiteren Strafen nach § 35 BtMG hindere (vgl. BGH, Beschluss vom 4. August 2010 — 5 AR (VS) 23/10 -, juris). Hierauf hat der Gesetzgeber in § 454b Abs. 3 StPO indes reagiert. Die Vorschrift wurde durch Art. 3 Nr. 36 Buchst. a des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017 (BGBl. I S, 3202), in Kraft getreten am 24. August 2017, eingeführt, um therapiewilligen Verurteilten die Zurückstellung einer suchtbedingten Freiheitsstrafe unter den Voraussetzungen des § 35 BtMG auch bei gleichzeitigem Vorliegen nicht suchtbedingter Freiheitsstrafen zu ermöglichen. Nicht suchtbedingte Freiheitsstrafen können damit auf Antrag des Verurteilten – und ein solcher liegt hier vor – vor der Zurückstellung suchtbedingter Freiheitsstrafen und vor Antritt der Therapie vollständig verbüßt werden (vgl. Appl in Karlsruher-Kommentar, StPO, 8. Aufl. 2019, § 454b, Rn. 4a).

Dieser – durch die Gesetzesänderung – neu ins Gesetz eingeführte Gesichtspunkt hat bei der Entscheidung der Staatsanwaltschaft erkennbar keine Rolle gespielt. Er wird aber bei der nunmehr zu treffenden Entscheidung der Vollstreckungsbehörde, ob ein wichtiger Grund im Sinne des § 43 Abs. 4 StVollstrO vorliegt, der eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge – wie von dem Verurteilten begehrt – gebietet, zu berücksichtigen sein.“

BtM I: Erwerb/Aufzucht von Cannabissetzlingen, oder: Handeltreiben mit Betäubungsmitteln

Bild von NickyPe auf Pixabay

Schon etwas älter ist der BGH, Beschl. v. 27.05.2021 – 5 StR 337/20 -, den ich als ersten unter dem Tages-Thema „BtM“ vorstelle.

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Seine Revision hatte teilweise Erfolg:

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Die angeklagten Eheleute begannen ab etwa April 2018 damit, in einem in ihrem Eigentum stehenden unbewohnten Haus eine Cannabis-Plantage einzurichten, um durch den Verkauf der erwarteten Ernte notwendige Mittel für eine Renovierung zu erwirtschaften. Die erforderlichen Arbeiten wurden überwiegend vom Angeklagten durchgeführt, die Mitangeklagte arbeitete teilweise mit oder besorgte benötigte Materialien.

Zum Zeitpunkt der polizeilichen Durchsuchung am 27. November 2019 lagerten sie im Eingangsbereich des Hauses in zwei Tragetaschen 342 Cannabis-Stecklinge mit einer Höhe zwischen 10 und 15 cm, die in Steinwolle-Blöcke gepflanzt waren. Es handelte sich um 74,69 g Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von 3,08 %, mithin 2,3 g Tetrahydrocannabinol (THC). Nur wenige Schritte entfernt war ein funktionsfähiger Raum für den Anbau der Cannabispflanzen mit Pflanzbänken und 65 Pflanzschalen hergerichtet worden. Darin sollten die Stecklinge nach der Vorstellung der Angeklagten heranwachsen und abgeerntet werden. Bei einem erwarteten Ertrag von etwa 6,84 kg Cannabisblüten (mit einem Wirkstoffgehalt von 10 %) und einem Kilopreis von mindestens 3.500 Euro hatten die Angeklagten mit einem Erlös von mindestens 23.940 Euro gerechnet (Fall 1).

Das Landgericht hat ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG angenommen. Die Setzlinge hätten bereits einen relevanten THC-Gehalt gehabt und seien durch die räumliche Nähe zu den Pflanzbänken „in die Plantage im weiteren Sinne eingebracht“ gewesen….

….

2. Während Schuld- und Strafausspruch im Fall 2 der Urteilsgründe keinen Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten aufweisen, hält der Schuldspruch im Fall 1 rechtlicher Prüfung nicht stand. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nicht.

a) Handeltreiben im Sinne des 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG ist jede eigennützige auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit (BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2005 – GSSt 1/05, BGHSt 50, 252, 256). Hiervon sind solche Handlungen abzugrenzen, „die lediglich typische Vorbereitungen darstellen, weil sie weit im Vorfeld des beabsichtigten Güterumsatzes liegen“ (BGH, aaO, 265 f.). Dabei ist auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles abzustellen.

Die Aufzucht von Cannabispflanzen erfüllt den Tatbestand des Handeltreibens, wenn der Anbau auf die gewinnbringende Veräußerung der herzustellenden Betäubungsmittel zielt (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Februar 2011 – 3 StR 491/10, NJW 2011, 1461; Urteil vom 20. Dezember 2012 – 3 StR 407/12, BGHSt 58, 99, 101 mwN). Allein der Erwerb von Setzlingen zum Zweck des anschließenden Anbaus stellt dabei aber noch keine auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit dar (BGH, Urteil vom 15. März 2012 – 5 StR 559/11, NStZ 2012, 514; vgl. MüKo-StGB/O?lakc?o?lu, 3. Aufl., BtMG § 29 Rn. 455; aA Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl., § 29 Teil 4 Rn. 198; Weber, BtMG, 5. Aufl., § 29 Rn. 598; Patzak, NStZ 2012, 514, 515; Patzak/Goldhausen, NStZ 2014, 384; offengelassen von BGH, Beschlüsse vom 15. Februar 2011 – 3 StR 491/10, NStZ 2011, 459, 460, und vom 29. September 2016 – 2 StR 591/15). In derartigen Fällen entfaltet vielmehr der (verdrängte) Straftatbestand des Anbaus von Betäubungsmitteln insoweit eine Begrenzungsfunktion für den Tatbestand des Handeltreibens, als er den Versuch erst mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Aussaat oder zum Anpflanzen beginnen lässt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. August 2011 – 2 StR 228/11, NStZ 2012, 43, und vom 15. März 2012 – 5 StR 559/11, NStZ 2012, 514), wobei sich die Abgrenzung zwischen Vorbereitungsstadium und Versuch nach allgemeinen Kriterien anhand der Umstände des Einzelfalls richtet (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. Februar 2011 – 3 StR 491/10 aaO; vom 3. August 2011 – 2 StR 228/11, NStZ 2012, 43, und vom 15. März 2012 – 5 StR 559/11, NStZ 2012, 514, 515). Eine Vollendung des Handeltreibens tritt regelmäßig erst mit dem Anbau in Verkaufs- und Gewinnerzielungsabsicht, also mit Anpflanzung der Setzlinge ein (vgl. BGH, Beschluss vom 3. August 2011 – 2 StR 228/11, aaO; BGH, Urteil vom 20. Dezember 2012 – 3 StR 407/12, BGHSt 58, 99, 101), denn der (vollendete) Anbau erfordert das Einpflanzen der Setzlinge in die dazu bestimmten Gefäße (vgl. Körner/Patzak/Volkmer, 9. Aufl., BtMG § 29 Teil 2 Rn. 24; Weber, 5. Aufl., BtMG § 29 Rn. 54; MüKo-StGB/O?lakc?o?lu, 3. Aufl., BtMG § 29 Rn. 23).

b) Nach diesen Maßstäben belegen die Feststellungen eine Vollendung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln nicht. Die Setzlinge befanden sich zwar bereits im Flur des Hauses, waren aber noch nicht zur Anpflanzung in die hierfür vorgesehenen Pflanzbänke bzw. Pflanzschalen gelangt. Ob die Schwelle zum Versuch bereits überschritten wurde oder – wie der Generalbundesanwalt meint – lediglich eine Verbrechensverabredung vorliegt, lässt sich den auf eine andere rechtliche Bewertung abzielenden Urteilsfeststellungen nicht hinreichend entnehmen.“