BVerfG II: Rechtliches Gehör/effektiver Rechtsschutz, oder: Wirksamkeit der Zustellung und Pflichtverteidiger

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In der zweiten Entscheidung des Tages behandelt das BVerfG noch einmal den Anspruch auf rechtliches Gehör und effektiver Rechtsschutz. Zugrunde liegt dem BVerfG, Beschl. v. 05.10.2020 – 2 BvR 554/20 – ein Strafbefehlsverfahren. Das AG hat den Einspruch des Beschuldigten als unzulässig, weil verspätet verworfen. Das beanstandet das BVerFG ebenso wie die nicht erfolgte Bestellung eines Pflichtverteidigers. Hintergrund/Grundlage der Entscheidung: Es bestanden erhebliche Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Zustellung:

„….dd) Hieran gemessen kann den angegriffenen Entscheidungen nicht entnommen werden, dass sich die Fachgerichte eine ausreichende Überzeugung von der Wirksamkeit der Zustellung verschafft haben. Die Zustellung des Strafbefehls an den Beschwerdeführer erfolgte am 21. September 2019 durch Einlegen in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten, weshalb zwar keine Zweifel am Zugang des Schriftstücks als solchem bestanden. Allerdings hätten sich für die Fachgerichte hier infolge des Vortrags des Betreuers und des Verteidigers des Beschwerdeführers sowie aufgrund der Sachverständigengutachten Bedenken an der Wirksamkeit der Zustellung aufdrängen und zu einer Auseinandersetzung hiermit führen müssen.

(1) Das Amtsgericht hat im angegriffenen Beschluss zur Frage der Zustellung lediglich darauf hingewiesen, der Beschwerdeführer habe erst ab dem 16. Oktober 2019 unter Betreuung gestanden. Es hat damit erkennbar ausschließlich darauf abgestellt, dass die Zustellung an den Beschwerdeführer persönlich gerichtet werden konnte, da die Betreuung erst zu einem späteren Zeitpunkt eingerichtet wurde. Mit dem Vorbringen des Verteidigers im Schriftsatz vom 19. November 2019, der Beschwerdeführer sei infolge seiner Erkrankung „nicht prozessfähig“, hat sich das Amtsgericht indes nicht befasst. Der Umstand, dass die Betreuung zwar angeregt, aber durch das Betreuungsgericht noch nicht umgesetzt worden war, war jedenfalls ungeeignet, eine Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Zustellung zu belegen.

Eine Prüfung, ob der Beschwerdeführer am 21. September 2019 in der Lage war, eine selbstverantwortliche Entscheidung über grundlegende Fragen seiner Verteidigung zu treffen und die von ihm persönlich auszuübenden Verfahrensrechte sachgerecht wahrzunehmen, hat das Amtsgericht Augsburg in seinem Beschluss vom 22. Januar 2020 nicht vorgenommen. Die Schilderung des Verteidigers im Einspruchsschriftsatz und im Sachverständigengutachten vom 4. September 2019, wonach der Beschwerdeführer bei der Exploration für ein Betreuungsverfahren Ende August 2019 in hochgradig psychotischem Zustand infolge einer unbehandelten Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis angetroffen worden sei und sich in einem die Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung befunden habe, hätte das Amtsgericht veranlassen müssen, die Verhandlungsfähigkeit im Zeitpunkt der nur drei Wochen später erfolgten Zustellung zu überprüfen. Hierfür bestand umso mehr Anlass, als der Zustand des Beschwerdeführers Mitte Oktober 2019 nicht nur zur Einrichtung einer Betreuung, sondern auch zu seiner geschlossenen Unterbringung führte. Auch das Sachverständigengutachten stellt plastisch dar, in welchem Zustand sich der Beschwerdeführer in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Zustellungstermin befand. Er war hiernach nicht in der Lage, seine Lebensgrundlagen zu sichern oder auch nur Tätigkeiten wie die Entgegennahme und das Öffnen der Post selbst zu erledigen. Dass der unbehandelte und krankheitsuneinsichtige Beschwerdeführer im September 2019 in der Lage gewesen sein soll, die Bedeutung der Zustellung und des Strafbefehlsverfahrens zu erfassen, Konsequenzen hieraus zu ziehen und – gegebenenfalls unter Rückgriff auf Hilfspersonen – zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen, erscheint hiernach unwahrscheinlich. Die geistigen und psychischen Einschränkungen des Beschwerdeführers waren in diesem Zeitpunkt auch nicht durch die Inanspruchnahme verfahrensrechtlicher Hilfen ausgeglichen. Der Beschwerdeführer lebte Ende September 2019 unbetreut in seiner Wohnung. Anwaltlich beraten war er nicht. Daher lagen im vorliegenden Verfahren wesentliche Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Beschwerdeführer die zur Verteidigung erforderlichen Fähigkeiten fehlten, er verhandlungsunfähig und die Zustellung des Strafbefehls damit unwirksam war, sodass die Einspruchsfrist nicht in Gang gesetzt werden konnte.

Für eine Verwerfung des Einspruchs als unzulässig, weil verspätet, war hiernach kein Raum. Die vom Amtsgericht getroffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer insofern in seinen grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs.1 sowie Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Der angegriffene Beschluss beruht auf diesen Verfassungsverstößen.

(2) Das Landgericht Augsburg hat die Verfassungsverstöße des Amtsgerichts durch seine Beschwerdeentscheidung fortgesetzt. Es hat die Bedeutung der Verhandlungsfähigkeit für die Wirksamkeit der Zustellung verkannt. Das Landgericht hat sich zur Begründung seiner Entscheidung die Ausführungen des Amtsgerichts Augsburg zur Verwerfung des Strafbefehls in seinem Beschluss vom 25. Februar 2020 – ohne weitere Erwägungen – zu eigen gemacht. Auch im Beschluss über die Anhörungsrüge und Gegenvorstellung wird die Wirksamkeit der Zustellung vom Gericht nicht aufgegriffen. Soweit sich das Gericht mit dem Begriff der Verhandlungsfähigkeit befasst, geschieht dies ausschließlich mit Blick auf die für den Wiedereinsetzungsantrag erforderliche unverschuldete Fristversäumung. Eine konkrete Erörterung der individuellen Situation des Beschwerdeführers, die durch das zur Strafakte gelangte psychiatrische Betreuungsgutachten vom 4. September 2019 belegt und im fachgerichtlichen Verfahren vom Verteidiger vorgetragen wurde, hat auch das Landgericht nicht vorgenommen. Die pauschale Einschätzung des Gerichts, wonach der Beschwerdeführer nicht verhandlungsunfähig gewesen sei, erweist sich deshalb als nicht tragfähig und wird den Grundrechten des Beschwerdeführers nicht gerecht.

2. Die Verfassungsbeschwerde erweist sich auch im Hinblick auf die Ablehnung der Bestellung eines Pflichtverteidigers als begründet. Die Entscheidungen der Fachgerichte, mit denen eine Bestellung des Bevollmächtigten zum Pflichtverteidiger abgelehnt wurde, verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes). Die Gerichte waren hier von Verfassung wegen verpflichtet, dem Beschwerdeführer für das fachgerichtliche Verfahren einen Pflichtverteidiger zu bestellen.

Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers (§§ 140 ff. StPO) stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar. Die Verfassung selbst will sicherstellen, dass der Beschuldigte auf den Gang und das Ergebnis des gegen ihn geführten Strafverfahrens Einfluss nehmen kann. Ihm ist von Verfassung wegen jedenfalls dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn es nach der konkreten Fallgestaltung, insbesondere bei Besonderheiten und Schwierigkeiten im persönlichen Bereich, als evident erscheint, dass er sich angesichts seiner Erkrankung nicht selbst verteidigen kann (vgl. hierzu BVerfGE 63, 380 <391>; 70, 297 <323>). Dass diese Voraussetzungen im Fall des Beschwerdeführers vorlagen, bedarf nach dem Vorstehenden keiner näheren Erläuterung. Der Beschwerdeführer war infolge seiner Erkrankung im fachgerichtlichen Verfahren ersichtlich nicht in der Lage, die Besonderheiten des Sachverhalts und des Verfahrensgangs zu erfassen und durch geeignetes Vorbringen zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen.“

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