BVerfG I: „….. du Trulla“, oder: Warum zeigt man so etwas an?

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In die 48. KW. starte ich dann mit zwei Entscheidungen des BVerfG.

Bei der ersten handelt es sich um den BVerfG, Beschl. v. 19.08.2020 – 1 BvR 2249/19, es ist der „Trulla-Beschluss“ 🙂

Die PM des BVerfG teilt folgenden Sachverhalt mit:

„Dem Verfahren liegt eine mündliche Äußerung des in Sicherungsverwahrung befindlichen Beschwerdeführers gegenüber einer Sozialarbeiterin einer Justizvollzugsanstalt zugrunde. Wegen Computerproblemen war das für Einkäufe in der Einrichtung verfügbare Taschengeld des Beschwerdeführers zu dem Zeitpunkt, zu dem Bestellungen aufzugeben gewesen wären, noch nicht gebucht. Da der Beschwerdeführer fürchtete, dass das Geld nicht rechtzeitig für einen Einkauf zur Verfügung stehen und er die Bestellmöglichkeit verpassen würde, suchte er am selben Tag in aufgeregtem Zustand das Dienstzimmer einer Sozialarbeiterin der Justizvollzugsanstalt auf. Da er das Gefühl hatte, mit seinem Anliegen nicht zu dieser durchzudringen, wurde er wütend und bezeichnete sie im Rahmen eines Wortschwalls als „Trulla“. Der Beschwerdeführer wurde deshalb von den Strafgerichten wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Bezeichnung als „Trulla“ habe grundsätzlich ehrverletzenden Charakter, weil das Wort „Trulla“ im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet werde, um abwertend über weibliche Personen zu sprechen. In der konkreten Situation sei der Begriff auch nicht neckisch gemeint und ohne beleidigenden Charakter gewesen.“

Und das BVerfG macht es anders als die „Strafgerichte“. Es stellt noch einmal seine verfassungsgerichtlichenn Maßstäbe in den Beleidigungsfällen dar und betont, dass eine strafrechtliche Verurteilung nach §§ 185 f., 193 StGB wegen ehrschmälernder Äußerungen in aller Regel eine Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen in den konkreten Umständen des Falles erfordert. Der Umstand allein, dass eine Äußerung die betroffene Person in ihrer Ehre herabsetzt, genüge für eine Strafbarkeit nicht, sondern begründe gerade erst das Abwägungserfordernis. Voraussetzung einer solchen Abwägung sei, dass die durch die Verurteilung berührten Meinungsfreiheitsinteressen überhaupt gerichtlich erkannt und erwogen werden.

Und das passt dann hier nicht.Dem genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht:

„bb) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht in jeder Hinsicht.

(1) Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist die von Amts- und Landgericht bejahte Einordnung der Äußerung als ehrkränkend. Schon in diesem Rahmen ist der interpretationsleitende Gehalt des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG zu beachten. Bei Äußerungsdelikten können zum einen die tatsächlichen Feststellungen des erkennenden Gerichts eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts enthalten, wenn der Sinn der Äußerung nicht zutreffend erfasst worden ist (vgl. BVerfGE 43, 130 <136 f.>; 93, 266 <295 f.>; 94, 1 <9>). Zum anderen darf bei der Prüfung, ob eine Äußerung ehrverletzend ist, der Begriff der Ehrverletzung nicht so weit ausgedehnt werden, dass für die Berücksichtigung der Meinungsfreiheit kein Raum mehr bleibt (vgl. BVerfGE 43, 130 <139>; 71, 162 <181>). Dass die angegriffenen Entscheidungen die Bezeichnung der Zeugin als „Trulla“ in dem situativen Kontext der Äußerung als ehrverletzend angesehen haben, hält sich im fachgerichtlichen Wertungsrahmen. Das Amtsgericht hat gesehen, dass die Äußerung auch in einem nicht ehrverletzenden Sinn verstanden werden könnte, eine solche Deutung aber mit verfassungsrechtlich tragfähigen Gründen in der konkreten Situation ausgeschlossen.

(2) Demgegenüber fehlt es der Entscheidung an einer Abwägung des Persönlichkeitsrechts mit der Meinungsfreiheit unter Würdigung der konkreten Umstände des Falles und hierbei der Situation, in der die Äußerung erfolgte. Das Amtsgericht scheint – vom Landgericht nicht beanstandet – vom Vorliegen einer Schmähkritik auszugehen, die eine Abwägung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen, entbehrlich macht. Dass und aus welchen Gründen dies hier der Fall sein könnte, legt es indes nicht nachvollziehbar dar. Für das Vorliegen des Sonderfalls einer Schmähung ist auch in der Sache nichts ersichtlich. Erst recht scheint das Absehen von einer Abwägung unter dem Gesichtspunkt der Formalbeleidigung hier fernliegend.

Die Feststellungen des Amtsgerichts zu Anlass und Kontext der inkriminierten Äußerung tragen nicht die Annahme, dass die – zwar ehrkränkende – Äußerung des Beschwerdeführers losgelöst von einem nachvollziehbaren Bezug zu einer sachlichen Auseinandersetzung allein auf eine persönliche Kränkung und die grundlose Verächtlichmachung der Person der Zeugin abzielte. Aus ihnen ergibt sich vielmehr, dass es dem Beschwerdeführer, der nach den weiteren Feststellungen des Amtsgerichts gegenüber der Zeugin weder vor noch nach dieser Begebenheit jemals beleidigend aufgetreten ist, auch – wenn nicht sogar in erster Linie – darum ging, die rechtzeitige Buchung des für seinen Einkauf verwendbaren Geldes zu veranlassen, damit bereits abgesetzte Bestellungen ausgeführt werden könnten, so dass er nicht bis zur nächsten Einkaufsmöglichkeit zuwarten müsste. Nach den weiteren Feststellungen des Amtsgerichts hatte der Beschwerdeführer einschlägige Erfahrungen mit diesem Missstand. Er hatte die Zeugin eigens aufgesucht, um auf diesen aufmerksam zu machen, und war aufgrund der Befürchtung, die bestellten Lebensmittel nicht zu erhalten, bereits in aufgeregter Stimmung bei ihr eingetroffen. Aufgrund seines Eindrucks, bei der Zeugin mit seinem Anliegen nicht durchzudringen, wurde er wütend. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Äußerung noch als Teil einer sach- und anlassbezogenen Auseinandersetzung dar. Sie ist zugleich Ausdruck einer – wenngleich nicht vollständig gelungenen – emotionalen Verarbeitung der als unmittelbar belastend wahrgenommenen Situation: Der sicherungsverwahrte Beschwerdeführer war für den Einkauf privater Güter und Lebensmittel auf die Buchung des Geldes angewiesen und sah sich konkret mit den Folgen des Wegfalls eben dieser Einkaufsmöglichkeit konfrontiert. Aus seiner Sicht bestand zunächst Hoffnung, dass die über den Missstand informierte Zeugin den Eintritt der Nachteile verhindern könnte. Das schließt die Annahme einer Schmähkritik aus, weshalb unter näherer Würdigung der Umstände der Äußerung eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen den widerstreitenden Grundrechten erforderlich gewesen wäre.

(3) Die fehlende Abwägung wurde nicht durch das Landgericht in dem Beschluss nachgeholt, mit dem die Berufung des Beschwerdeführers als unzulässig verworfen wurde. Ebenfalls ohne die Meinungsfreiheit zu erwähnen oder das Vorliegen einer Schmähkritik zu begründen, beschränken sich dessen Ausführungen darauf, dass das Urteil des Amtsgerichts sachlich-rechtlich richtig sei und die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Beleidigung zum Nachteil der Zeugin trage. Mit den konkreten Umständen der Äußerung, insbesondere dem Anlass des Gesprächs sowie der situativ bedingten emotionalen Anspannung des Beschwerdeführers, setzt sich das Landgericht nicht auseinander.

cc) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf diesem Fehler. Das ist schon dann der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht – wie hier – jedenfalls nicht auszuschließen vermag, dass das Amtsgericht bei erneuter Befassung im Rahmen einer Abwägung, die regelmäßig bei der Prüfung des – vor jeder Verurteilung nach § 185 StGB zu beachtenden (vgl. BVerfGE 93, 266 <290 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Oktober 1998 – 1 BvR 590/96 -, Rn. 23) – § 193 StGB vorzunehmen ist (vgl. BVerfGK 1, 289 <291>), zu einer anderen Entscheidung kommen wird.

dd) Es ist dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich verwehrt, die gebotene Abwägung selbst vorzunehmen (vgl. BVerfGK 1, 289 <292>), da sie Aufgabe der Fachgerichte ist, denen dabei ein Wertungsrahmen zukommt. Daher ist mit der Feststellung, dass die angefochtenen Entscheidungen die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers verkennen, keine Aussage darüber verbunden, ob die inkriminierte Aussage im konkreten Kontext gemäß § 185 StGB strafbar ist oder nicht (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 8. Februar 2017 – 1 BvR 2973/14 -, Rn. 18).“

Und ich frage mich am Ende solcher Verfahren immer: Muss man so etwas eigentlich zur Anzeige bringen?

7 Gedanken zu „BVerfG I: „….. du Trulla“, oder: Warum zeigt man so etwas an?

  1. schneidermeister

    Weshalb angezeigt wurde kann man evtl ohne Kenntnis einer etwaigen Vorgeschichte nicht verstehen. An sich würde ja eine vollzugsrechtliche Ahndung ausreichen, wenn überhaupt. Aber gelegentlich ist es halt so, dass man schon lange genug ein grenzwertiges Auftreten hingenommen hat, und irgendwann dann Ende der Toleranz ist („der Klügere gibt so lange nach, bis er der Dumme ist“).

    In der SZ wurde kürzlich bemängelt, dass der Beleidigungstatbestand (ernsthaft!) wegen der „geringen Strafen“ ungern von den Staatsanwaltschaften verfolgt werde. Übersehen hat man dabei aber, dass es grds ein Antrags- und Privatklagedelikt ist und das BVerfG mit seiner Abwägungslehre und der praktischen Straffreiheit bei beleidigenden Äußerungen zB gegenüber Staatsdienern, Poitikern, oder sogar zwischen/gegen Anwälte (weil man ja irgendein sachliches Anliegen findet, das Anlass für die Äußerung ist)) es eher schwer macht, hat man dort übersehen.

  2. Maximus

    „Muss man so etwas eigentlich zur Anzeige bringen?“

    Ich hoffe nicht, dass sie damit die Beleidigung als Tatsachenbehauptung sehen mögen.
    Da es um einen in Sicherungsverfahrung sitzenden geht, halte ich es für angemessen keine Tolerenz bei möglichen Beleidigungen durchgehen zu lassen. Die Schwerstverbrecher im MRV/SV müssen lernen sich unterzuordnen und von möglichen Straftaten abzusehen. Dazu gehört auch die Toleranz mal ohne EInkauf auszukommen.

  3. M. Ketzer

    Leider wird in bei Vorfällen in der JVA grundsätzlich alles angezeigt und verfolgt. Meist wird erst einmal ein Strafbefehl erlassen, manchmal aber auch direkt angeklagt. Wenn man sich die Bedingungen so ansieht, unter denen sich manchmal beleidigende Äußerungen freie Bahn verschaffen, muss man schon fragen, wie kurz die Lunte bei so manchem Bediensteten ist. Ich halte nichts davon, dass die Bediensteten sich alles gefallen lassen müssten. Andererseits müssten sie doch auch das eine oder andere Mal zurückstecken können, zumal die Anstalten oft genug, ob nun beabsichtigt oder nicht, zur Verschärfung der Situation beitragen. So auch hier: die kleinen Freiheiten des Einkaufs sind in Gefahr und das „nur“ weil die Justiz die rechtzeitige Buchung nicht hinbekommen hat. Und der nächste Einkauf ist vielleicht erst in einer Woche oder zwei?

    Kurz: den Eichen-Spruch sollte man denen ab und an mal mit auf den Weg geben.

  4. RA Markus Stamm

    Menschlich kann ich mir schon vorstellen, daß die Bedienstete, die als „Trulla“ bezeichnet wurde, irgendwann den Kanal voll hat, gerade, wenn sowas vielleicht doch öfter vorkommt. Da hilft es dann auch nur eingeschränkt, daß gerade der hier Beschuldigte ja offenbar noch nie ausfällig wurde, auch nicht ihr gegenüber. Es besteht aber doch ein ganz erhebliches Machtgefälle zwischen dem Beschuldigten und ihr. Die Sicherungsverwahrung ist keine Strafe, auch wenn viele sie gern so ausgestaltet haben würden, und auch wenn sie vielfach nach wie vor so strukturiert ist. Sie dient allein dazu, eine Gefahr von der Allgemeinheit abzuwenden, und nicht etwa dazu, zu einer bestehenden Strafe noch einen Nachschlag hinzuzufügen. Daran gemessen, ist es schon recht grenzwertig, wenn sich der Beschuldigte, der auf den Einkauf angewiesen ist, letztlich sagen lassen muß, hat halt leider nicht geklappt, nächsten Monat wieder – vor allem, wenn ihn daran kein Verschulden trifft, und wenn es nicht das erstemal passiert, wie sich beides aus den Entscheidungsgründen ergibt. Warum der Beschuldigte mit seinem Anliegen „nicht durchzudringen“ meinte, obwohl es berechtigt war, ist nicht ersichtlich. Hätte es objektive Gründe gegeben, oder wäre sein Eindruck falsch gewesen, so wäre dies in den Entscheidungsgründen genannt worden, da es entscheidungserheblich sein konnte. Wenn dann dem Beschuldigten, der seinerseits leicht das Gefühl haben kann, auch nur ein Spielball zu sein, seinerseits der Draht aus der Mütze springt, dann wäre wohl Gelassenheit auf beiden Seiten angemessen gewesen. Die Bedienstete kann abends nach Hause gehen und einkaufen, wo sie will, der Beschuldigte nicht. Wer den Fehler gemacht hat, spielt auch keine Rolle, denn das war es dann auch mit dem Einkauf für diesesmal. Das ist mehr als nur ein gradueller Unterschied, und es steht auch niemandem an, zu urteilen, der Beschuldigte müsse dann halt mal auf den Einkauf verzichten. Das liebste wäre mir allerdings, man würde die Beleidigung überhaupt aus dem Strafgesetzbuch streichen. Andere Länder, wie die USA, kennen einen solchen weitreichenden Straftatbestand nicht – er wäre mit dem Grundrecht auf Redefreiheit (nicht Meinungsfreiheit) unvereinbar, und der Zustand der amerikanischen Gesellschaft wäre mit diesem Straftatbestand auch nicht besser. Scheint also ganz ohne doch recht gut zu klappen.

  5. RichterimOLGBezirkMuenchen

    Ich halte es damit den weißen Worten eines erfahrenen Kollegen:“Wer mich beleidigt, entscheide ich immer jo ich selbst.“

    @topic: Ich frage mich, wann sich die EINDEUTIGE Rechtsprechung des BVerfG bis zur hiesigen StA rumspricht. Dauert ja immer nen Moment…

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