Heute ist dann „OWi-Tag“, also bußgeldrechtliche Entscheidungen.
Und den Opener mache ich mit dem BayObLG, Beschl. v. 18.06.2020 – 201 ObOWi 739/20. Er ist schon etwas älter, aber das BayObLG hat ihn jetzt erst geschickt. Behandelt werden die Anforderungen an die Urteilsgründe, wenn der Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit einem Navigationsgerät im Privatfahrzeug zugrunde lag.
Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften um mindestens 41 km/h verurteilt. Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen war die Messung der Geschwindigkeit durch den Zeugen PHM L. erfolgt, der mit seinem Privat-Pkw auf der B 14 in Richtung T. über eine Strecke von etwa 500 Metern mit etwa gleichbleibender Geschwindigkeit den vom Betroffenen geführten Pkw verfolgt hatte, wobei er von seinem Navigationssystem eine Geschwindigkeit von bis zu 195 km/h hatte ablesen können bei in etwa gleich bleibendem Abstand [von] „zwei Streckenbegrenzungspfosten“. In Anbetracht dessen, dass das genaue Ausmaß der Nachfahrstrecke und die exakte Einhaltung des Abstands nicht sicher gewährleistet worden seien hatte das AG einen – nicht näher begründeten – „weiteren“ Toleranzabzug vorgenommen und eine Geschwindigkeitsüberschreitung um wenigstens 41 km/h zugrunde gelegt. Dagegen hatte sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde gewandt, die beim BayObLG Erfolg hatte:
„1. Zwar sind im Bußgeldverfahren an die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe keine über-trieben hohen Anforderungen zu stellen. Dennoch kann für deren Inhalt grundsätzlich nichts anderes als im Strafverfahren gelten, denn auch im Bußgeldverfahren sind die Urteilsgründe die alleinige Grundlage für die rechtliche Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge hin. Sie müssen daher so beschaffen sein, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung ermöglicht wird. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand gesetzt wird, die Beweiswürdigung des Tatrichters auf Widersprüche, Unklarheiten, Lücken oder Verstöße gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen (vgl. Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 71 Rn. 42, 43 m.w.N.). Hinsichtlich der Beweiswürdigung müssen die Urteilsgründe regelmäßig auch erkennen lassen, auf welche Tatsachen das Gericht seine Überzeugung gestützt hat, ob und wie sich der Betroffene eingelassen hat, ob der Richter der Einlassung folgt und inwieweit er die Einlassung für widerlegt ansieht. Nur so ist gewährleistet, dass das Rechtsbeschwerdegericht die tatrichterliche Beweiswürdigung auf Rechtsfehler überprüfen kann (KK/Senge OWiG 5. Aufl. § 71 Rn. 107 m.w.N.; Göhler/Seitz/Bauer a.a.O. Rn. 43, 43a m.w.N.).Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht in jeder Hinsicht gerecht.
a) Der Tatrichter stellt fest, dass der Betroffene die zulässige Höchstgeschwindigkeit außer-halb geschlossener Ortschaften mit seinem Pkw um mindestens 41 km/h überschritten habe und statt der zulässigen Geschwindigkeit von 100 km/h wenigstens 141 km/h gefahren sei. Die Messung der Geschwindigkeit sei durch den Zeugen PHM L. erfolgt, der mit seinem Privat-Pkw auf der B 14 in Richtung T. über eine Strecke von etwa 500 Metern mit etwa gleichbleibender Geschwindigkeit den vom Betroffenen geführten Pkw verfolgt habe, wobei er von seinem Navigationssystem eine Geschwindigkeit von bis zu 195 km/h habe ablesen können bei in etwa gleich bleibendem Abstand [von] „zwei Streckenbegrenzungspfosten“. Eine Fahrstrecke von 500 Metern ab kurz nach der Abfahrt nach R. sei mit der vom Zeugen L. genannten Maximalgeschwindigkeit kompatibel. In Anbetracht dessen, dass das genaue Ausmaß der Nachfahrstrecke und die exakte Einhaltung des Abstands nicht sicher gewährleistet worden sind, hat das Gericht einen – nicht näher begründeten – „weiteren“ Toleranzabzug vorgenommen und legt eine Geschwindigkeitsüberschreitung um wenigstens 41 km/h zugrunde.
b) Es ist anerkannt, dass die Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit einem Fahr-zeug, das mit einem ungeeichten Tacho ausgestattet ist, grundsätzlich eine genügende Beweisgrundlage für die Annahme eine Überschreitung der höchstzulässigen Geschwindigkeit sein kann. Dies gilt auch dann, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hinweist, wenn ein Privatfahrzeug bei der Nachfahrmessung Verwendung findet (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 19.03.2009 – 3 Ss OWi 94/09 bei juris). Wie das Tatgericht zutreffend feststellt, handelt es sich hierbei aber nicht um ein standardisiertes Messverfahren. Maßgebliche Kriterien für die Zuverlässigkeit einer Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren sind insbesondere die Sichtverhältnisse, eine ausreichende Nachfahrstrecke und ein gleichbleibender Abstand. Ist das nachfolgende Fahrzeug mit einem ungeeichten Tachometer ausgerüstet, berücksichtigt ein Sicherheitsabschlag von 20 % bei guten allgemeinen Sichtverhältnissen grundsätzlich alle zugunsten des Täters in Betracht kommenden Fehlerquellen, wenn der Abstand zum voraus-fahrenden Fahrzeug etwa den halben bis maximal ganzen Tachowert, den das nachfahrende Fahrzeug anzeigt, nicht übersteigt, der Abstand ungefähr gleich bleibt, die Nachfahrstrecke rund das Fünffache des Abstandes beträgt und der Tachometer in kurzen Abständen abgelesen wird. Wenn keine Anhaltspunkte für außergewöhnliche Umstände vorliegen, entfallen i.d.R. 16 % des Abschlages auf mögliche Fehlerquellen der Geschwindigkeitsanzeige des nachfolgenden Fahrzeugs (Tachometerabweichung, Reifenverschleiß, Reifenluftdruck, Reifenfertigungstoleranz, Antriebsschlupf) und 4 % auf eine nicht ausschließbare unbemerkte Abstandsverringerung (BayObLG, Beschl. v. 17.04.1996 – 1 ObOWi 85/96 bei juris). Bei Geschwindigkeiten von über 90 km/h soll im Regelfall die Mindeststrecke, über die die Geschwindigkeit festgestellt werden muss, 500 Meter betragen (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 04.02.2010 – 2 Ss OWi 77/10 bei juris; KG, Beschl. v. 05.04.2019 – 3 Ws (B) 114/19, BeckRS 2019, 16058). Dies entspricht den Vorgaben der Richtlinien des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren für die polizeiliche Verkehrsüberwachung vom 12.01.2011 (Ergänzende Weisung Nr. 3.2), wonach die Messstrecke bei Geschwindigkeiten von über 90 km/h nicht kürzer als 500 Meter sein soll, der Nachfahrabstand etwa dem halben bis maximal dem ganzen Tacho-Wert entsprechen soll und auch bei Geschwindigkeiten von über 90 km/h ca. 100 Meter nicht überschreiten soll. Es muss sichergestellt sein, dass sich der Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug zwischen Messbeginn und Messende nicht merklich verringert hat. Deshalb soll der Abstand so gering sein, dass dies durch den nachfolgenden Polizeibeamten zuverlässig beurteilt werden kann.
c) Die Feststellungen des Tatgerichts und die dahingehende Beweiswürdigung zu der vom Betroffenen mindestens gefahrenen Geschwindigkeit erweisen sich als lückenhaft, weil nicht dargelegt wird, dass sämtliche vorgenannte Voraussetzungen für eine Nachfahrmessung gegeben sind. Es besteht zudem Grund zu der Besorgnis, dass der Tatrichter nicht ausreichend beachtet hat, dass vorliegend die Geschwindigkeit des nachfolgenden Fahrzeugs nicht von einem Tachometer, sondern von einem Navigationssystem abgelesen worden ist, und deshalb unklar bleibt, ob auch eventuelle Messungenauigkeiten bei der Geschwindigkeitsermittlung durch das Navigationsgerät Berücksichtigung gefunden haben.
aa) Den Feststellungen des Tatgerichts lässt sich vorliegend nicht entnehmen, wie häufig der Zeuge während der Nachfahrmessung die Geschwindigkeitsanzeige beobachtet hat bzw. welche Geschwindigkeit der Betroffene während der Nachfahrmessung wenigstens eingehalten hat. Es ist vielmehr zu besorgen, dass der Zeuge nur kurzfristig eine Geschwindigkeit von 195 km/h beobachtet hat, da im Urteil davon die Rede ist, dass es sich um die Maximalgeschwindigkeit von bis zu 195 km/h gehandelt habe. Bei der Nachfahrenmessung kann aber nur die Geschwindigkeit zugrunde gelegt werden, die der Betroffene für die Dauer der Messung über die Nachfahrstrecke bei (in etwa) konstantem Abstand wenigstens eingehalten hat.
bb) Zudem bleibt unklar, ob die vom Tatgericht berücksichtigte Toleranz ausreichend ist. Die genannten Richtlinien des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren für die polizeiliche Verkehrsüberwachung setzen voraus, dass ein Fahrzeug mit einem ungeeichten Tachometer ausgerüstet ist. Vorliegend wurde jedoch die Geschwindigkeit von einem Navigationsgerät abgelesen. Im tatrichterlichen Urteil finden sich keine Feststellungen zur Art dieses Navigationsgerätes bzw. zur Ermittlung der Geschwindigkeit durch dieses Gerät. Die Generalstaats-anwaltschaft hat hierzu in ihrer Stellungnahme vom 19.05.2020 Folgendes ausgeführt:
„Vorliegend hat das Amtsgericht zur Kompensation einer möglichen geringfügigen Unterschreitung der Messstrecke von 500 m und einer nicht exakten Einhaltung des Nachfahrabstands von der festgestellten „Maximalgeschwindigkeit“ von 195 km/h 54 km/h abgezogen und somit einen Toleranzabzug von rechnerisch 27 % angenommen. Allerdings hat das Amtsgericht bei der Bemessung der anzunehmenden Toleranz nicht erkennbar bedacht, dass die Messung vorliegend nicht mit einem serien-mäßig verbauten ungeeichten Tacho vorgenommen wurde, sondern mithilfe eines Navigationsgeräts, wobei Feststellungen zu dem verwendeten Typ und dessen Funktionsweise vollständig fehlen. Hierauf kann jedoch nicht verzichtet werden. Denn der Tatrichter muss in jedem Fall der Messung mit einem ungeeichten Gerät darlegen, welche mögliche geräteinternen Fehler und welche externen Fehlerquellen er berücksichtigt hat (vgl. zum Nachweis eines Rotlichtverstoßes mittels ungeeichter Stoppuhr BayObLG, Beschl. v. 19.08.2019 – 201 ObOWi 238/19 bei juris Rn. 7). Davon, dass die Genauigkeit eines Navigationsgerätes stets dem eines Tachos entspricht oder diese sogar übersteigt, konnte das Tatgericht nicht ohne Weiteres ausgehen. Denn während bei einem serienmäßig verbauten Tacho anzunehmen ist, dass er den sich aus § 57 Abs. 2 StVZO i.V.m. Ziff. 4.3 und 4.4 im Anhang II zur Richtlinie 75/443/EWG des Rates vom 26. Juni 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Rückwärtsgang und das Geschwindigkeitsmessgerät in Kraftfahrzeugen ergebenden technischen Anforderungen genügt, die aus Gründen der Verkehrssicherheit sicherstellen, dass die angezeigte Geschwindigkeit stets ober-halb der tatsächlich gemessenen Geschwindigkeit liegt, bestehen solche (sich im Rahmen der Nachfahrmessung zugunsten des Betroffenen auswirkende) einheitlichen Mindestanforderungen für ein Navigationsgerät nicht. Insbesondere dann, wenn das Navigationsgerät nicht mit dem Wegstreckenzähler des Fahrzeugs verbunden ist, sondern zur Ermittlung von Position und Geschwindigkeit auf das GPS-Signal zu-rückgreift, dürfte die Zuverlässigkeit zudem auch von der Qualität der empfangenen Daten abhängen. Nachdem nähere Feststellungen zu dem verwendeten Navigations-gerät vollständig fehlen, kann das Rechtsbeschwerdegericht nicht prüfen, ob der schon wegen anderer Unsicherheiten erhöhte Toleranzwert ausreicht, zumal dieser sich ersichtlich an dem Schwellenwert von 41 km/h für einen Verstoß nach laufender Nr. 11.3.7 der Tabelle 1 zum BKat orientiert.“
„Der Senat schließt sich diesen zutreffenden Ausführungen nach eigener Überprüfung an. Vor diesem Hintergrund wäre das Amtsgericht gehalten gewesen, Feststellungen zur Art des zum Einsatz gekommenen Navigationsgerätes sowie zu der Frage zu treffen, wie zuverlässig der von diesem Navigationsgerät angezeigte Geschwindigkeitswert mit der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit übereinstimmt und welcher Sicherheitsabschlag ausreichend erscheint, um etwaige Messungenauigkeiten und sonstige Fehlerquellen auszugleichen (vgl. hierzu im Einzelnen BayObLG, Beschl. v. 19.08.2019 – 201 ObOWi 238/19 = StraFo 2020, 25 = VerkMitt 2020, Nr 2 = ZfSch 2020, 173 = OLGSt MessEV § 1 Nr 1). Der Senat geht davon aus, dass insoweit die Zuziehung eines messtechnischen Sachverständigen geboten gewesen wäre (vgl. hierzu auch OLG Köln, Beschl. v. 29.08.2018 – 1 RBs 212/18 = BeckRS 2018, 27567 = VerkMitt 2019, Nr 3 [für den Fall der Geschwindigkeitsanzeige des nachfolgenden Fahrzeugs über eine Dash-Cam]).“
Wenn man es liest fragt man sich, welche Anstrengungen, Polizeibeamte eigentlich noch alle unternehmen wollen, um einen Geschwindigkeitsverstoß festzustellen?
Und/Aber: Als Verteidiger sollte man den Hinweis des OLG nicht übersehen: Im Zweifel wird man ohne einen Sachverständigen nicht auskommen. Darauf sollte man angesichts der Tendenz bei den AG, Beweisanträge möglichst abzulehnen, bei Antragstellung hinweisen.
Ich verstehe die Tendenz der AGs nicht, sich Beweisanträgen und Gutachten zu versperren.
Nichts schreibt sich leichter als das Urteil MIT Gutachten, das den Täter identifiziert / die Messung stützt…
Ob der Betroffene oder seine Rechtsschutz dann 3000 Euro draufzahlt, ist mir doch herzlich Wurscht. Und es ist ja au h nicht so, als hätte ICH damit mehr Arbeit. Die macht sich doch der Sachverständige.
„Ja aber was, wenn das Gutachten ihn nicht überführt?“
Dann sprich ihn anständig frei, so einfach ist das. So geht das eben im Rechtsstaat. Und da fällt einem auch kein Zacken aus der Krone. Es ist doch nicht so kompliziert…