Zum Start der 37.KW/2020 gibt es hier heute zwei Entscheidungen des BVerfG. Beide zur Durchsuchungsanordnung.
Im BVerfG, Beschl. v. 27.07.2020 – 2 BvR 2132/19 – nimmt das BVerfG erneut zum Anfangsverdacht Stellung. Der Entscheidung liegt etwa folgender Sachverhalt zugrunde:
Es geht um eine Durchsuchung der Wohnung der Beschuldigten wegen des Verdachts der Sachbeschädigung im Zuge eines gegen sie geführten Ermittlungsverfahrens im Jahr 2019. Diesem Ermittlungsverfahren 2019 ging 2018 ein gleichfalls gegen die Beschuldigte geführtes Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung voraus. Anlass dieses Ermittlungsverfahrens war eine Strafanzeige einer Zeugin von Anfang April 2018 zu einem Vorfall am 31.3.2018, nämlich das Aufsprühen von Graffiti, u.a. des Schriftzuges „KLIT“. Das daraufhin gegen die Beschuldigte eingeleitete Strafverfahren ist dann später vom AG § 153 Abs. 2 StPO auf Kosten der Staatskasse und unter Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschuldigten eingestellt worden.
Ausgangspunkt des Ermittlungsverfahrens 2019 war ebenfalls die Strafanzeige einer Zeugin, die angegeben hat, eine Frau beim Sprühen an eine Hauswand beobachtet und im Weggehen von hinten fotografiert zu haben. Die Zeugin hatte die Täterin beschrieben. In dem daraufhin gefertigten Ermittlungsbericht regte die Polizei eine Wohnungsdurchsuchung bei der Beschwerdeführerin an. Zur Begründung führte die Polizei aus, dass in einem umfangreichen Ermittlungsverfahren 2018, das zu einer Einstellung nach § 153 StPO geführt habe, der Beschuldigte „der Schriftzug ‚KLIT‘ als individuelles Tag zugeordnet“ worden sei. Das AG hat die Durchsuchung der Wohnung der Beschuldigten angeordnet. In den Gründen des Beschlusses heißt es, die Beschuldigte sei verdächtig, am 21.7. 2019 in Braunschweig im Windfang eines näher bezeichneten Mehrfamilienhauses den Schriftzug „KLIT“ zweimal auf die Wand aufgesprüht zu haben. Der Tatverdacht beruhe auf den Angaben der Zeugin und den polizeilichen Ermittlungen.
Im Rahmen der Durchsuchung wurden weder Graffitiutensilien noch der Täterinnenbekleidung ähnliche Kleidungsstücke aufgefunden. Zwei Laptops der Beschuldigten wurden beschlagnahmt. Im Anschluss an die Durchsuchung wurde die Beschuldigte erkennungsdienstlich behandelt. Die Zeugin schloss die Beschuldigte in einer kurz darauf durchgeführten sequentiellen Wahllichtbildvorlage als Täterin aus. Auf eine Auswertung der Laptops der Beschwerdeführerin wurde daher verzichtet und das Ermittlungsverfahren gegen sie gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
Die Beschuldigte hat gegen die Durchsuchungsanordnung Beschwerde eingelegt, die beim LG keinen Erfolg hatte. Die Verfassungsbeschwerde der Beschuldigten hatte Erfolg.
Ich beschränke mich hier mit den Gründen ein wenig – auch der Sachverhalt ist schon gekürzt. Das BVerfG führt u.a. aus:
„a) Die Angaben der Zeugin B. waren nicht geeignet, einen Anfangsverdacht gegen die Beschwerdeführerin zu begründen. Ihre Zeugenaussage enthielt keine Angaben, die konkret auf die Beschwerdeführerin als Täterin der Sachbeschädigung hingedeutet hätten. Insbesondere die Personenbeschreibung der Zeugin war allgemein und wies keine spezifischen Merkmale auf. Die von ihr beschriebenen Eigenschaften treffen in ihrer Allgemeinheit auf eine große Anzahl von Frauen zu, so dass eine individuelle Zuordnung zu einer bestimmten weiblichen Person auf dieser Grundlage kaum möglich erscheint. Individuelle Merkmale, die selten vorkommen und besonders auffällig sind (beispielsweise Narben, Tätowierungen, Piercings), hat die Zeugin indes nicht beschrieben. Die Beschreibung war jedenfalls ungeeignet, einen Tatverdacht gerade oder ausschließlich gegen die Beschwerdeführerin zu begründen, zumal die Ermittlungsakte im Zeitpunkt der Anordnung der Durchsuchung keine Beschreibung oder Fotoaufnahme der Beschwerdeführerin enthielt.
b) Soweit die Durchsuchungsanordnung zudem auf die polizeilichen Ermittlungen gestützt wurde, waren auch diese nicht geeignet, einen Tatverdacht in Richtung der Beschwerdeführerin zu begründen. Der Ermittlungsbericht vom 31. Juli 2019, auf den das Amtsgericht Braunschweig in seiner Nichtabhilfeentscheidung Bezug genommen hat, enthält neben einer Schilderung der Anzeigeerstattung durch die Zeugin B. lediglich die Bewertung, dass der Beschwerdeführerin im Rahmen eines nach § 153 StPO eingestellten Ermittlungsverfahrens im Jahr 2018 der Schriftzug „KLIT“ als individuelles Tag zugeordnet worden sei. Eine belastbare Tatsachengrundlage für diese Bewertung enthalten allerdings weder der Ermittlungsbericht noch die Ermittlungsakte im Übrigen.
aa) Ungeachtet des Umstandes, dass sich bei näherer Betrachtung der Fotoaufnahmen beider Schriftzüge nicht unerhebliche Unterschiede in der Gestaltung erkennen lassen und die Bewertung, es handele sich um ein individuelles, einer bestimmten Person zuordenbares Tag, bereits deshalb zweifelhaft erscheint, lässt auch ein Vergleich der Fotoaufnahmen der abgebildeten Personen nicht den Schluss zu, es handele sich um dieselbe Täterin. Insofern fehlt es an vergleichbaren individuellen Merkmalen. Anhand der Fotoaufnahmen, die die Täterin jeweils von hinten beziehungsweise von der Seite zeigen, war jedenfalls keine Identifizierung der Beschwerdeführerin möglich.
bb) Die weiter im Ermittlungsbericht enthaltene Feststellung der Polizei, die Täterinnenbeschreibung lasse sich, soweit es Alter, Größe, Haare und das junge Gesicht betreffe, auf die Beschwerdeführerin anwenden, erweist sich aufgrund der Allgemeinheit der Merkmale ebenfalls als ungeeignet, den Verdacht ausgerechnet auf die Beschwerdeführerin zu lenken.
cc) Ebenso ungeeignet ist der im Ermittlungsbericht enthaltene Hinweis auf die Wohnungsdurchsuchung bei der Beschwerdeführerin. Die Feststellung, dass im Rahmen der Durchsuchung im Jahr 2018 bei der Beschwerdeführerin keine Gegenstände aufgefunden worden seien, die mit dem Deliktsfeld Graffiti in Zusammenhang stehen, legt eher nahe, dass die Beschwerdeführerin mit der Tat im Jahr 2018 gerade nicht in Verbindung gebracht werden konnte. Bei der Mutmaßung, die Beschwerdeführerin sei auf die Durchsuchung vorbereitet gewesen, handelt es sich um eine nicht durch Tatsachen gestützte Behauptung der Polizei.
dd) Auch der Umstand, dass 2018 wegen eines gleichgelagerten Delikts ein Ermittlungsverfahren gegen die Beschwerdeführerin geführt und dieses nach § 153 StPO eingestellt wurde, begründet keine tragfähige Grundlage für die Annahme, die Beschwerdeführerin habe die Tat am 21. Juli 2019 begangen. Denn darin kommt lediglich zum Ausdruck, dass zu einem anderen Zeitpunkt durch die Ermittlungsbehörden ein Tatverdacht wegen Sachbeschädigung gegen die Beschwerdeführerin angenommen wurde und welche prozessuale Behandlung dieses Verfahren erfahren hat.
Insbesondere die Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO konnte für das Ermittlungsverfahren 2019 keine Aussagekraft entfalten. Eine Einstellung nach § 153 StPO lässt die verfassungsrechtlich garantierte Unschuldsvermutung unberührt. Denn Feststellungen zur Schuld zu treffen und Schuld auszusprechen, ist den Strafgerichten erst gestattet, wenn die Schuld eines Angeklagten in dem mit rechtsstaatlichen Verteidigungsgarantien ausgestatteten, bis zum prozessordnungsgemäßen Abschluss durchgeführten Strafverfahren nachgewiesen ist (vgl. BVerfGE 74, 358 <372>; 82, 106 <116>). Zwar schließt es die Unschuldsvermutung nicht aus, einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten, auch wenn dem Tatverdacht nicht weiter nachgegangen wird und das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren zum Nachweis der Schuld nicht stattgefunden hat. Dabei muss aber erkennbar berücksichtigt werden, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung, sondern lediglich um einen Verdacht handelt (vgl. BVerfGE 82, 106 <117>).
Indem die Fachgerichte den polizeilichen Ermittlungsbericht, wonach der Beschwerdeführerin der Tag „KLIT“ in einem anderen Verfahren zugeordnet worden sei, pauschal in Bezug nahmen, haben sie dieser Unterscheidung zwischen Schuldzuweisung und Verdacht nicht hinreichend Rechnung getragen.
ee) Hiernach fehlte es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage, die geeignet gewesen wäre, den Verdacht der Sachbeschädigung gerade gegen die Beschwerdeführerin zu richten. Die Anordnung der Durchsuchung durch das Amtsgericht Braunschweig sowie die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts erweisen sich als objektiv willkürlich.“