Und die dritte Entscheidung des OWi-Tages ist dann eine mit verfahrensrechtlichem Inhalt. Seit längerem mal wieder etwas zur „Akteneinsicht“ bzw. zur Frage der Einsicht des Betroffenen in Meeunterlagen. Darum hat der Betroffene mit dem Landrat des Kreises Gütersloh und dem AG Gütersloh gestritten. Die haben nicht gewährt. Der Betroffene hat gegen die AG-Entscheidung dann Beschwerde eingelegt. Und die hatte Erfolg. Das LG Bielefeld sagt im LG Bielefeld, Beschl. v. 16.07.2020 – 10 Qs 220/20: Zulässig und begründet:
„1. Der Zulässigkeit der gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 304 Abs. 1 StPO grundsätzlich statthaften Beschwerde steht § 305 S. 1 StPO nach Ansicht der Kammer nicht entgegen. Hiernach unterliegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen, nicht der Beschwerde. Die Regelung soll Verfahrensverzögerungen verhindern, die eintreten würden, wenn Entscheidungen des erkennenden Gerichts sowohl auf eine Beschwerde als auch auf das Rechtsmittel gegen das Urteil überprüft werden müssten. Diesem Zweck entsprechend greift die Ausnahmevorschrift des § 305 S. 1 StPO jedenfalls dann nicht ein, wenn ein Rechtsmittel gegen das (künftige) Urteil nicht eröffnet ist oder die betroffene Entscheidung im Rahmen eines zulässigen Rechtsmittels nicht überprüft werden kann (OLG Hamm, Beschl. v. 30.01.1986 – 6 Ws 23/86, NStZ 1986, 328 f.; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 62. Auflage 2019, § 305 Rn. 1).
Dies ist vorliegend der Fall. Gegen den Betroffenen ist im Bußgeldbescheid vom 10.02.2020 eine Geldbuße von lediglich 80,- EUR festgesetzt worden, ohne dass eine Nebenfolge angeordnet worden ist. Gegen ein entsprechendes Urteil ist daher eine Rechtsbeschwerde nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 oder 2 OWiG nicht erfüllt sind und es sich um keine der in § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 3-5 OWiG genannten Fallkonstellationen handelt. Ob im Hinblick auf die Zurückweisung des Antrags des Betroffenen vom 07.07.2020 die Rechtsbeschwerde gemäß den §§ 79 Abs. 1 Satz 2, 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG wegen der Versagung des rechtlichen Gehörs oder – in analoger Anwendung des 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit und einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren zuzulassen wäre, obliegt jedenfalls der eigenständigen Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Da ein Rechtsmittel gegen das (künftige) Urteil somit nicht von vorherein eröffnet ist, kann ein Ausschluss der Beschwerde gemäß § 305 S. 1 StPO – auch mit Blick auf den Ausnahmecharakter der Vorschrift – nicht auf die bloße Möglichkeit der Zulassung der Rechtsbeschwerde gestützt werden (LG Köln BeckRS 2019, 26465).
Nach Ansicht der Kammer ist insoweit auch unschädlich, dass die Beschwerde bereits vor Erlass des förmlichen Zurückweisungsbeschlusses des Übersendungsantrages gestellt wurde. Es stand auf Grund der Verfügung des Amtsgerichts vom 25.06.2020 zu erwarten, dass ggf. vorab nicht förmlich über diesen Antrag entschieden würde. Die Beschwerde kann sich auch gegen die Unterlassung einer von Amts wegen oder auf Antrag zu treffenden Entscheidung richten (BGH NJW 1993, 1279), vorausgesetzt, die unterbliebene Entscheidung oder deren Ablehnung ist anfechtbar und die Unterlassung kommt einer endgültigen Ablehnung gleich (BGH NJW 1993, 1279 (1280). So liegt der Fall, insbesondere, weil das Gericht die Unterlassung durch die endgültige Ablehnung des Antrages mit Beschluss vom 07.07.2020 bestätigt hat.
2. Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Nach Ansicht der Kammer wird die Verteidigung eines Betroffenen jedenfalls dann unzulässig beschränkt (§§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO), wenn der Betroffene schon bei der Verwaltungs-behörde und sodann vor dem Amtsgericht einen Antrag auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen weiteren amtlichen Messunterlagen erfolglos gestellt hat. Denn der Betroffene hat ein Recht auf Einsicht in die – nicht bei den Akten befindliche – digitale vollständige Messreihe vom Tattag.
Ein solcher Anspruch ergibt sich — auch beim standardisierten Messverfahren — aus dem Gebot des fairen Verfahrens. Dieses folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) i.V.m. dem allgemeinen Freiheitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG sowie aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK. Aus dem Gebot ergibt sich, dass ein Beschuldigter oder Betroffener nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein darf, sondern ihm die Möglichkeit gegeben werden muss, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Das Recht auf ein faires Verfahren enthält indes-sen keine in allen Einzelheiten bestimmten Gebote und Verbote. Es zu konkretisieren, ist zunächst Aufgabe des Gesetzgebers und sodann, in den vom Gesetz gezogenen Grenzen, Pflicht der zuständigen Gerichte bei der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und -anwendung. Erst wenn sich unter Berücksichtigung aller Umstände und nicht zu-letzt der im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes selbst angelegten Gegenläufig-keiten eindeutig ergibt, dass rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit selbst konkrete Folge-rungen für die Ausgestaltung des Verfahrens gezogen werden (OLG Karlsruhe NStZ 2019, 620). Auch aus dem Gebot des fairen Verfahrens kann sich nach herrschender Auffassung, der sich die Kammer nach eigener Abwägung anschließt, ein Recht auf Einsicht in Akten, Daten o. a. ergeben, welches über das Recht auf Akteneinsicht aus § 147 StPO hinausgeht (BVerfG NStZ 1983, 273, OLG Karlsruhe NStZ 2019, 620).
Bezogen auf das Bußgeldverfahren wird auf dieser Grundlage die — von der Kammer geteilte — überwiegende Ansicht vertreten, dass ein Betroffener danach, insbesondere auch wegen der zu garantierenden „Parität des Wissens“ bzw. der „Waffengleichheit“, gegenüber der Verwaltungsbehörde verlangen kann, dass er Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen (existierenden weiteren) amtlichen, zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen nehmen kann, um diese mit Hilfe eines privaten Sachverständigen auswerten und auf mögliche Messfehler hin überprüfen zu können, ohne dass bereits konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder vom Betroffenen vorgetragen worden sind. Denn der Betroffene bzw. seine Verteidigung wird ohne Kenntnis aller Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen. Das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers kann daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des Gerichts. Solche weitreichenden Befugnisse stehen dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zu. Denn es ist zwar richtig, wenn das Amtsgericht ausführt, dass allein die begehrten Beiziehungsobjekte noch keine Beurteilung der verfahrensgegenständlichen Messung im konkreten Fall in belastender oder entlastender Hinsicht erlaube. Entscheidung ist nach Ansicht der Kammer aber, dass es auch keinen Erfahrungssatz gibt, dass ein standardisiertes Messverfahren unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefert (OLG Karlsruhe NStZ 2019, 620).
Soweit in der Rechtsprechung ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens bzw. Verstoß gegen das rechtliche Gehör bezogen auf die Ablehnung des in der Hauptverhandlung gestellten Beweisermittlungsantrags auf Beiziehung von außerhalb der Akte befindlichen Unterlagen verneint wird, sind die Sachverhalte nicht vergleichbar, da sich aus diesen Entscheidungen nicht ergibt, dass schon vor der Hauptverhandlung gegenüber der Verwaltungsbehörde und dem Gericht Anträge auf Aushändigung bzw. Einsicht gestellt und negativ beschieden wurden (OLG Bamberg NStZ 2018, 724). Vorliegend hat der Betroffene derartige Anträge jedoch bereits im Vorfeld gestellt.“
Man nennt das dann wohl: „Lichtblick“ 🙂