Pflichti II: Nachträgliche Bestellung?, oder: Ja, denn an sich muss „zeitnah“ entschieden werden

© santi_ Fotolia.com

Die zweite Pflichtverteidigungsentscheidung aus dem Themenkreis: Nachträgliche Bestellung, kommt mit dem LG Wiesbaden, Beschl. v. 04.03.2020 – 1 Qs 8/20 u. 1 Qs 10/20 – vom LG Wiesbaden. Auch hier hatte das AG den Antrag des Verteidigers abgelehnt, weil die Voraussetzungen des § 140 StPO nach Auffassung des AG nicht vorlagen. Anders das LG, das auch „rückwirkend bestellt“:

„Eine rückwirkende Bestellung, um welche es sich für das Ursprungsverfahren mit dem Aktenzeichen 2250 Js 19804/19 handelt, ist zwar nach der weit überwiegenden Rechtsprechung der Oberlandesgerichte unzulässig und unwirksam (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt — Schmitt, 62. Aufl., § 141 StPO Rn. 8 m. w. N.), da die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten oder seines Verteidigers dient. Die Beiordnung verfolgt allein den Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Angeklagter in entsprechenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der Verfahrensablauf gewährleistet wird (Meyer-Goßner/Schmitt — Schmitt a.a.O.).

Die angenommene Unzulässigkeit einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung darf jedoch nicht ausnahmslos gelten. Der Gesetzgeber sieht gegen die Versagung einer Beiordnung ein Rechtsmittel vor. Die dem Beschuldigten hierdurch kraft Gesetzes gewährte Überprüfungsmöglichkeit darf ihm nicht dadurch entzogen werden, dass das Gericht schlicht untätig bleibt und der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung durch Abtrennung des Verfahrens oder Einstellung des Verfahrens überholt wird Der verfassungsrechtlich garantierte Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Artikel 20 Absatz 3 GG gebietet es. dass der Antrag des Verteidigers auf Beiordnung zeitnah entschieden wird (LG Dresden. Beschluss vom 06. Januar 2011 — 3 Qs 174/10 —, Rn. 31 – 6, im Ergebnis ebenso OLG Stuttgart. Justiz 2010, 378 f; Landgericht München Beschluss vom 21.01. 2014. Az. 22 Qs 5/14. Landgericht Halle Beschluss vom 28.12.2009, Az. 6 Qs 68109).

Die Anwendung dieser Grundsätze führt vorliegend zur Aufhebung des Ablehnungsbeschlusses. Der Antrag auf Beiordnung war rechtzeitig angebracht und auch entscheidungsreif. Rechtsanwalt pp. hat erstmals mit Schriftsatz vom 21.11.2019 seine Bestellung als Pflichtverteidiger des Angeklagten beantragt; einen gleichlautenden Antrag stellte die Staatsanwaltschaft Wiesbaden zudem in ihrer Begleitverfügung zur Anklage vom 22.07.2019. Auf die Beschwerde des Angeklagten gegen die unterbliebene Pflichtverteidigerbestellung vom 27.11.2019 reagierte das Amtsgericht Wiesbaden, indem es das Verfahren gegen den Angeklagten von dem Verfahren gegen den Mitangeklagten pp. mit Beschluss vom 28.11.2019 abtrennte und mit Beschluss vom gleichen Tag den Antrag von Rechtsanwalt pp. auf Bestellung als notwendiger Verteidiger zurückwies. Wenn über die Beschwerde, sei es durch eine Abhilfeentscheidung oder nach der Vorlage an das Beschwerdegericht, unverzüglich entschieden worden wäre. hätte die letztlich durch Untätigkeit des Gerichts erfolgte Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung zumindest durch das Beschwerdegericht korrigiert werden können. bevor das Verfahren abgetrennt wurde.

Entscheidend für eine zulässige Ausnahme einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung ist demnach, dass zum Zeitpunkt des rechtzeitig gestellten und entscheidungsreifen Antrages auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers die Voraussetzungen des § 140 StPO vorlagen.

Diese Voraussetzungen waren vorliegend gegeben.

Zum Zeitpunkt der Antragstellung war dem Angeklagten pp. ein Verteidiger bereits aus dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat gemäß § 140 Abs. 2 S. 1 StPO beizuordnen. Eine Tat ist in der Regel dann als “schwer“ gem. § 140 Abs. 2 StPO anzusehen, wenn eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr zu erwarten ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14. November 2000 – 2 Ss 1013/2000). Der Angeklagte ist des gemeinschaftlichen Diebstahls, wobei einer der Beteiligten ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führte. angeklagt. Ausweislich der Anklageschrift weist der Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 18.6.2019 für den Angeklagten bereits 4 Eintragungen auf. Angesichts des Anklagevorwurfes und der Vorstrafen ist eine Strafe von einem Jahr oder mehr zu erwarten. Ferner besteht eine die Beiordnung rechtfertigende schwierige Sachlage, weil es vorliegend zur sachdienlichen Verteidigung gehört, dass der Akteninhalt bekannt ist. Dieser ist aber nur dem Verteidiger zugänglich, so dass in diesem Falle die Bestellung des Pflichtverteidigers unumgänglich ist (OLG Frankfurt. Beschluss vom 31. März 2009 — 3 Ws 271/09 —, Rn. 4). In den Akten befindet sich die CD mit der Videoaufzeichnung der Tat. die für die Frage der Täterschaft ein wesentliches Beweismittel darstellt. Ferner befinden sich in der Akte die Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin und die ärztlichen Berichte über die Entnahme der Blutprobe, die für die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten Bedeutung erlangen können.

Aufgrund dieser Umstände, die nach wie vor gegeben sind, ist auch für das abgetrennte Verfahren mit dem Aktenzeichen 2250 Js 10360/20, welches in der Beschwerde vorgelegt wurde, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers notwendig.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert