Und die dritte Entscheidung, der OLG Celle, Beschl. v. 13.08.2019 – 3 Ws 243/19, den mir der Kollege Lorenzen aus Bremen gesandt hat, behandelt eine Problematik, die in der Praxis immer wieder eine (große) Rolle spielt, nämlich: Akteneinsicht für Nebenkläger und/oder deren Versagung, vor allem in den Fällen der Aussage-gegen-Aussage Konstellation..
Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Hier hatte die Vertreterin der Nebenklägerin Beschwerde gegen eine Entscheidung der Vorsitzenden der Jugendschutzkammer, mit welcher ihr Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht nach Maßgabe von § 406e Abs. 2 StPO mit der Begründung versagt worden war, die Akteneinsicht gefährde vor dem Hintergrund der jedenfalls in einzelnen Fällen vorliegenden Aussagegegen-Aussage-Konstellation den Untersuchungszweck und sei zum Vermeiden einer Beeinflussung von Zeugen daher geboten.
Das OLG hat die Entscheidung der Vorsitzenden der Jugendschutzkammer bestätigt:
„Die Entscheidung der Vorsitzenden der Jugendschutzkammer, der Nebenklägerin Akteneinsicht zu versagen, ist nicht zu beanstanden. Nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO kann die Akteneinsicht versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Nach überwiegender Auffassung ist dies insbesondere der Fall, wenn durch die Aktenkenntnis eines resp. einer Verletzten etwa bei Vorliegen einer Aussagegegen-Aussage-Konstellation eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung zu besorgen ist (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 62. Aufl., § 406e Rn. 12 m.w.N.). Die Entscheidung, ob Akteneinsicht verweigert wird, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint, erfolgt hierbei im pflichtgemäßen Ermessen, wobei der Gesetzgeber dem für die Entscheidung Zuständigen einen weiten Entscheidungsspielraum eröffnet hat (BGH HRRS 2005, Nr. 367) und es hierbei bereits genügen kann, dass nur schwache Anhaltspunkte für eine mögliche Gefährdung vorliegen (LR-Hilger, StPO 26. Aufl., § 406e Rn. 12 m.w.N.). Bei Vorliegen einer Aussagegegen-Aussage-Konstellation kann das Ermessen des Gerichts bereits auf Null reduziert sein (OLG Hamburg NStZ 2015,105 mit zust. Anmerkung von Radtke, NStZ 2015, 108; KK-StPO-Zabek, 8. Aufl., § 406e StPO Rn. 7). Die Gründe der angefochtenen Entscheidung zeigen, dass die Vorsitzende sich des anzulegenden Beurteilungsmaßstabs bewusst war und dass sie sich hierbei innerhalb des ihr zustehenden, weiten Ermessens- und Entscheidungsspielraums bewegt hat. Dass die Entscheidung der Vorsitzenden eher knapp begründet ist, könnte seine Rechtfertigung in der Regelung des § 406e Abs. 4 Satz 5 StPO finden.
Im Hinblick auf die Möglichkeit einer nur teilweisen Akteneinsicht hat die Vorsitzende im Rahmen ihrer Nichtabhilfeentscheidung zutreffend darauf hingewiesen, dass die vier mutmaßlich Geschädigten nach Aktenlage in Kontakt stehen und sich miteinander austauschen. Hierzu hat die Generalstaatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Zuschrift ausgeführt, dass auch eine Einsicht nur in bestimmte teile der Akten, die den Untersuchungszweck nicht gefährden würde, wegen der fehlenden Bereitschaft der Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin zur Abgabe einer Versicherung, mit der Beschwerdeführerin den Akteninhalt nicht zu erörtern, weder möglich noch in praktischer Hinsicht durchführbar sei. Dieser Einschätzung schließt der Senat sich an.“
Das Gericht erörtert ernsthaft die Möglichkeit, dass sich die Rechtsanwältin, die die Nebenklage vertritt, dazu verpflichten könnte, den durch eine Akteneinsicht bekannt gewordenen Akteninhalt nicht dem eigenen Mandanten mitzuteilen. Da die Nebenklagevertreterin sich weigere, eine solche Verpflichtung einzugehen, sei die Ablehnung der Akteneinsicht rechtmäßig.
Das bedeutet doch nichts anderes, als dass von der Nebenklagevertreterin erwartet wird, sie möge ihrer anwaltlichen Verpflichtung nicht nachkommen. Ein Rechtsanwalt ist nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, seinem Mandanten alle Informationen, die er zum Fall erhält, auch mitzuteilen. Im vorliegenden Fall hätte die Nebenklagevertreterin gegen die Interessen des eigenen Mandanten handeln müssen, um die Akteneinsicht zu bekommen. Hätte sie sich darauf eingelassen, hätte dies als Parteiverrat strafbar sein können. Auf jeden Fall wäre es aber eine Verletzung des Mandatsvertrags, mit entsprechenden zivilrechtlichen Folgen.
Das Verhalten des Gerichts wird nicht dadurch weniger rechtswidrig, dass andere Strafgerichte (und z.B. auch Sozialgerichte) ähnlich handeln. „Akteneinsicht gegen Parteiverrat“ ist ein Deal, zu dem ein Gericht nicht anstiften darf.
@RA Kelle:
Worin liegt denn bitteschön ein Parteiverrat (den Tatbestand sollte man auch etwas sauber subsumieren…, welcher anderen „Partei“ dient denn der NKlV? Dem Angeklagten? ).
Wenn der RA seinen Mandanten darüber aufklärt (und angesichts der schon seit längerem bekannten Rechtsprechung des OLG HH sollte das bei NKLV in Aussage-gegen-Aussage-Situationen Standard sein) kann dieser das Vorgehen doch genehmigen, damit sind standesrechtliche Bedenken vom Tisch.