Der Kollege S. Stern aus Göttingen hat mir den von ihm erstrittenen OLG Braunschweig, Beschl. v. 20.06.2019 – 1 Ws 292/18 – übersandt. Ergangen ist er im sog. „Göttinger Transplantationsskandal“, in dem der Kollege und ein weiterer Verteidiger verteidigt hatten. Gestritten worden ist nach dem Freispruch des ehemaligen Angeklagten dann (natürlich) um die Frage der Kostenerstattung und da vornehmlich um die Frage: Muss die Staatskasse dem ehemaligen Angeklagten die Kosten für zwei Verteidiger erstatten. Die Staatskasse meinet natürlich nein. Anders das OLG Braunschweig:
W1. Die erstinstanzlichen Kosten, die durch die Mitwirkung von Rechtsanwalt Dr. H. entstanden sind, sind neben den Kosten für die Beauftragung von Rechtsanwalt Prof. Dr. S. ersatzfähig. Zwar sind die Kosten mehrerer Anwälte nach dem Wortlaut des § 91 Abs. 2 S. 2 Var. 1 ZPO, der über § 464 a Abs. 2 Nr. 2 StPO zur Anwendung kommt, nur insoweit zu erstatten, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen. Die grundsätzlich verfassungskonforme (dazu: BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 30.07.2004, 2 BvR 1436/04, juris, Rn. 5) Vorschrift ist im vorliegenden Sonderfall jedoch im Wege der Rechtsfortbildung teleologisch zu reduzieren. Eine solche telelogische Reduktion ist den Gerichten über die Grenze des Wortsinns hinaus gestattet (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 23.05.2016, 1 BvR 2230/15, juris, Rn. 50), sofern sie ihre Gerechtigkeitsvorstellungen nicht an die Stelle jener des Gesetzgebers setzen, sondern sich stattdessen darauf beschränken, eine planwidrige Regelungslücke zu füllen. Zu der verfahrensgegenständlichen Vorschrift des § 91 Abs. 2 S. 3 ZPO (seit 01.07.2014: § 91 Abs. 2 S. 2 ZPO) hat das Bundesverfassungsgericht bereits in einem Beschluss vom 28.03.1984 darauf hingewiesen, dass eine großzügigere Handhabung gerade im Strafprozess, der im Gegensatz zum Zivilverfahren vom Offizialprinzip geprägt werde, in Betracht komme (BVerfG, 2 BvR 275/83, juris, Rn. 28). Die Regelung sei als „Grundsatzregel‘ zu verstehen, die Ausnahmen zulasse (BVerfG, a.a.O.).
Dass eine durch einen Erstattungsanspruch zu schließende Regelungslücke vorliegt, ist bei einem Freigesprochenen, bei dem zur Begründung der finanziellen Haftung nicht an die begangene Straftat angeknüpft werden kann, inzwischen anerkannt, wenn ihm zuvor ein Sicherungsverteidiger beigeordnet wurde (OLG Gelle, Beschluss vom 10.09.2018, 1 Ws 71/18, juris, Rn. 19, 17 m.w.N.; KG, Beschluss vom 02.05.1994, 4 Ws 1-2/94 = NStZ 1994, S. 451). Eine vergleichbare Regelungslücke liegt aber ebenso bei einem Freigesprochenen, der zwei Wahlverteidiger beauftragt hat, vor, wenn seine Verteidigung im Hinblick auf Umfang, Schwierigkeit und Komplexität durch nur einen Wahlverteidiger nicht möglich war. Dass eine solche Sonderkonstellation im vorliegenden Fall, der als „Göttinger Transplantationsskandal“ auch in den Medien ein breites Echo gefunden hat, hinsichtlich der erstinstanzlichen Kosten ausnahmsweise gegeben war, folgt aus der Stellungnahme des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Celle Pp. vom 08.04.2019, der damals den Vorsitz der Schwurgerichtskammer des Landgericht Göttingen geführt hat. Er hat ausgeführt, dass die Verteidigung im Hinblick auf Umfang, Schwierigkeit und Komplexität des Verfahrens schlechterdings nur durch das arbeitsteilige Zusammenwirken von zwei Wahlverteidigern zu bewältigen war. Die besonderen Anforderungen in tatsächlicher Hinsicht seien zunächst darin begründet gewesen, dass die Kammer schon unmittelbar nach Eingang der Anklage, als das Verfahren bereits 33 Umzugskartons gefüllt habe, umfänglich Beweis erhoben hätte, etwa durch diverse Anfragen bei Eurotransplant zu den Transplantationslisten und zu möglichen Auswirkungen der Manipulationen, die dem Freigesprochenen zur Last gelegt wurden. Zudem habe die Kammer mit Prof. Dr. Bechstein einen weiteren Sachverständigen hinzugezogen, um sowohl die sogenannten Manipulationsfälle als auch die Indikationsfälle zu begutachten. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit den von Prof. Dr. Bechstein sukzessive vorgelegten Gutachten habe eine wiederholte Aufarbeitung der Patientenakten, die ihrerseits teilweise den Umfang mehrerer Umzugskartons eingenommen hätten, erfordert. Außerdem habe das Gutachten des vom Gericht bestellten Sachverständigen mit dem Gutachten des Sachverständigen abgeglichen werden müssen, der im Ermittlungsverfahren herangezogen worden sei. Wenn der Freigesprochene lediglich einen Wahlverteidiger mandatiert hätte, hätte er— so der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht Pp. — „definitiv“ für das gesamte Ver-fahren einen zweiten Verteidiger als Sicherungsverteidiger bestellt.
Der Höhe nach orientiert sich der Erstattungsanspruch des Freigesprochenen im Gegensatz zu der Entscheidung des Kammergerichts vom 02.05.1994 (KG, Beschluss vom 02.05.1994, 4 Ws 1-2/94 = NStZ 1994, S. 451) nicht an den hypothetischen Kosten eines Pflichtverteidigers (die das Kammergericht dann über § 51 RVG erhöht hat), sondern unmittelbar an den Wahlverteidigergebühren. Dies folgt wiederum aus dem Grundsatz, dass bei einem Freigesprochenen nicht an die strafrechtliche Verurteilung angeknüpft werden kann, wie das Oberlandesgericht Celle wegen der Regelung des § 52 Abs.1 S. 1 RVG zutreffend nach Freispruch für die Kosten des Sicherungsverteidigers entschieden hat (OLG Celle, Beschluss vom 10.09,2018, 1 Ws 71/18, juris, Rn. 19). In gleicher Weise müssen aber die Kosten des — wie hier — zur Verteidigung unerlässlichen zweiten Wahlverteidigers von der Landeskasse ersetzt werden, weil dieser ohnehin die Wahlverteidigergebühren vom Freigesprochenen fordern kann.
Es sind ferner auch die Mehrkosten zu ersetzen, die dadurch entstanden sind, dass Dr. H. seinen Kanzleisitz in Hannover hatte. Zwar sind die jeweiligen Reisekosten und das jeweilige Abwesenheitsgeld eines Rechtsanwalts, dessen Kanzlei sich nicht im Bezirk des Prozessgerichts befindet und der dort auch nicht wohnt, nach § 464 a Abs. 2 Nr. 2 StPO i. V. m. § 91 Abs. 2 S. 1 ZPO nur zu erstatten, wenn das zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig ist. Das war hier allerdings der Fall. So legt die Rechtsprechung bei besonders schwerwiegenden Vorwürfen, insbesondere in Schwurgerichtssachen, einen großzügigeren Maßstab an (OLG Celle, Beschluss vom 28.10.1991, 3 Ws 226/91). Ebenso kommt dem Gesichtspunkt des Vertrauensverhältnisses zu dem Verteidiger nach der Rechtsprechung besonderes Gewicht zu, wenn der Tatvorwurf massiv in die berufliche und wirtschaftliche Existenz des Angeklagten eingreift (OLG Braunschweig, Beschluss vom 17.09.2013, 1 Ws 255/13 [unveröffentlicht]; OLG Naumburg, StraFo 2009, S. 128). Beide Voraussetzungen sind hier erfüllt und es kommt noch hinzu, dass sich die Mehrkosten durch die Beauftragung von Rechtsanwalt Dr. H., der den Freigesprochenen zuvor sowohl gegenüber dem Arbeitgeber als auch im berufsrechtlichen Verfahren vertreten hatte, angesichts der Entfernung von Hannover nach Göttingen nur maßvoll erhöht haben.
2. Eine Erstattung der Auslagen von zwei Wahlverteidigern kommt indes in Bezug auf die im Revisionsverfahren entstandenen Auslagen nicht in Betracht, so dass es insoweit bei den vom Landgericht festgesetzten Kosten verbleibt. Eine Erstattung scheidet deshalb zunächst in Bezug auf die Terminsgebühr für die Revisionshauptverhandlung in Höhe von 560,- € (Nr. 4132 des Vergütungsverzeichnisses), die Fahrtkosten nach Leipzig in Höhe von 157,20 € (Nr. 7003 des Vergütungsverzeichnisses), das Abwesenheitsgeld in Höhe von 150,- € (Nr. 7005 des Vergütungsverzeichnisses) sowie die darauf entfallende Umsatzsteuer in Höhe von 164,77 €. Diese Auslagen (insgesamt: 1.031,97 €) des Rechtsanwalts Dr. H. sind neben jenen des Rechtsanwalts Prof. Dr. S. nicht zu ersetzen, weil der Prüfungsumfang des Revisionsgerichts durch die von der Staatsanwaltschaft nur erhobene Sachrüge in diesem Zeitpunkt feststand (§§ 344, 352 StPO). Ein auf das Revisionsrecht spezialisierter Wahlverteidiger — wie hier Prof. Dr. S. — konnte sich auf die Verhandlung allein vorbereiten, weil klar war, dass die Urteilsgründe lediglich in sachlich rechtlicher Sicht geprüft werden. Im Gegensatz zur Auffassung des Beschwerdeführers war nicht damit zu rechnen, dass der Bundes-gerichtshof unerwartete Fragen zu Details aus Patientenakten, die nicht Prüfungsgegenstand waren, stellen würde.
Dass die Urteilsgründe mit 1.232 Seiten äußerst umfangreich waren und die Revisionserwiderung, die auf den gemeinsamen Überlegungen und Anstrengungen beider Verteidiger beruht hat, im „Tandem“ möglicherweise leichter zu fertigen war, ändert an dieser Bewertung nichts. Maßgeblich ist allein, dass ein Verteidiger den Stoff des Revisionsverfahrens, mag er auch umfangreich sein, allein hätte bewältigen können. Das ist hier der Fall, weil es darum ging, die Urteilsgründe gegenüber der Revisionsbegrün-dung der Staatsanwaltschaft, die keine Verfahrensrüge erhoben hatte, zu verteidigen. Eines Rückgriffs auf die umfangreichen Akten bedurfte es insoweit nicht. Würde der Senat hier anders entscheiden, würde er nicht lediglich im Wege der teleologischen Reduktion eine planwidrige Regelungslücke schließen, sondern sich über die klare Regelung des § 91 Abs. 2 S. 2 ZPO hinwegsetzen.
Kein anderes Ergebnis ergibt sich für die Verfahrensgebühr in Höhe von 1.110,- € (Nr. 4130 des Vergütungsverzeichnisses). Zwar entsteht die Verfahrensgebühr nebst Aus-lagenpauschale in Höhe von 20,- (Nr. 7002 des Vergütungsverzeichnisses) sowie Umsatzsteuer in Höhe von 214,70 (insgesamt also 1.344,70 €) bereits mit der ersten Tätigkeit des Verteidigers im Revisionsverfahren (Burhoff in Burhoff/Volpert, RVG, VV 4130, Straf- und Bußgeldsachen, 5. Aufl., Rn.14), so dass sie bei der Einlegung einer staatsanwaltlichen Revision nicht von der Kenntnis der Revisionsanträge oder deren Begründung abhängt. Es gab in diesem frühen Verfahrensstadium, in dem der Freigesprochene lediglich über die Konsequenzen der Revisionseinlegung zu beraten war, aber keinen Anlass für die Mitwirkung von zwei Verteidigern.
Dass sich die Beiordnung eines Pflichtverteidigers auf das Revisionsverfahren erstreckt hätte, mag zutreffen, führt aber nicht zur Ersatzfähigkeit der Auslagen für zwei Wahlverteidiger. Denn diese waren nicht notwendig. Dem Freigesprochenen war gerade kein Pflichtverteidiger beigeordnet und er hätte die Verteidigung nach dem erstinstanzlichen Freispruch jederzeit durch Kündigung des zweiten Mandats auf einen Wahlverteidiger beschränken können. Er hätte dann zunächst abwarten können, ob das Revisionsverfahren (beispielsweise durch eine äußerst umfangreiche Revisions-begründung der Staatsanwaltschaft mit einer Vielzahl von Verfahrensrügen) wiederum nur durch zwei Wahlverteidiger zu bewältigen war.“
M.E. zutreffend. Über die Kosten der Revision kann man streiten. Und: Der Kollege wird bei der weiteren Abrechnung Vorbem. 4 Abs. 5 VV RVG i.V.m. Nr. 3500 VV RVG nicht übersehen 🙂 .