Als zweite Entscheidung betreffend Pflichtverteidigungsfragen dann der OLG Hamm, Beschl. v. 15.05.2018 – 4 RVs 47/18. Eine in meinen Augen „erstaunliche“ Entscheidung. Warum? Dazu siehe unten.
Zunächst die Entscheidung, bei der das OLG über folgenden Sachverhalt zu entscheiden hatte: Dem Angeklagten ist der Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung gemacht worden. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens ist die Belastungszeugin T richterlich vernommen worden. Der Angeklagte war von dieser Vernehmung ausgeschlossen, ohne dass ihm ein Pflichtverteidiger bestellt wurde. In der Hauptverhandlung hat das AG u.a. den Vernehmungsrichter als Zeugen vernommen sowie einen Arztbericht verlesen und Lichtbilder in Augenschein genommen. Das AG hat den Angeklagte freigesprochen. Auf die gegen das Urteil gerichtete Berufung der Staatsanwaltschaft hat das LG das amtsgerichtliche Urteil aufgehoben und den Angeklagten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hatte keinen Erfolg.
Das OLG meinet: Es hatte ein Verteidiger nach § 141 Abs. 3 StPO i.V.m. Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK bestellt werden müssen. Denn jedenfalls im Verlauf der richterlichen Vernehmung, von der A gemäß § 168c Abs. 3 StPO ausgeschlossen worden sei, habe sich abgezeichnet, dass die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren notwendig sein würde.
Aber: Kein Beweisverwertungsverbot bze. der Verfahrensfehler führe aber nicht zur Unverwertbarkeit der Aussage der richterlichen Verhörperson, sondern – vergleichbar mit Fällen einer pflichtwidrig versagten Beteiligung an der richterlichen Vernehmung oder des anonymen Zeugen – zu besonders strengen Beweis- und Begründungsanforderungen.
Warum nun eine erstaunliche Entscheidung? Erstaunlich m.E. deshalb, weil das OLG mit keinem Wort auf die durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) geschaffene neue Rechtslage eingeht, sondern sich auf die zum alten Recht ergangene Rechtsprechung zurückzieht (vgl. dazu BGHSt 34, 231; BGHSt NStZ 1998, 312; BGH StV 2017, 776; s.a. noch BGHSt 46, 93, 103). Zwar hat zum Zeitpunkt der Vernehmung der Belastungszeugin der neue § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO noch nicht gegolten, die Neuregelung hat aber genau den hier vom OLG entschiedenen Fall im Auge und sieht dafür jetzt zwingend die Bestellung eines Pflichtverteidigers vor. Man hätte daher m.E. schon erwarten können/dürfen, dass sich das OLG im Hinblick auf die neue Rechtslage – ich gehe davon aus, dass dem OLG die bekannt ist – und die Intention des Gesetzgebers dann vielleicht doch mal zu der neu zu entscheidenden Frage eines Beweisverwertungsverbotes Stellung nimmt und nicht einfach nur „alten Wein in neuen Schläuchen“ präsentiert. An anderer Stelle hat man ja – wenn es zu Lasten der Angeklagten geht – auch kein Problem damit, die Neuregelung auf Altfälle anzuwenden (vgl. dazu OLG Rostock, Beschl. v. 03.11.2017 – 1 Ss 94/17 und Blutentnahme nach altem Recht – “gesund gebetet” nach neuem Recht, oder: Asche auf mein Haupt betreffend „Richtervorbehalt“). Hätte man das getan, hätte man m.E. nicht (mehr) guten Gewissens ein Beweisverwertungsverbot verneinen und sich auf die Beweiswürdigungslösung des BGH, die ja auch nicht unumstritten ist, zurückziehen müssen. Denn das Gesetz verlangt in dem hier entschiedenen Fall vergleichbaren Fällen jetzt ausdrücklich einen Pflichtverteidiger. Wird der nicht bestellt, wird man das sanktionieren müssen. Denn was sollen alle Gebote, wenn deren Übertretung keine Folgen haben soll? Dann sind sie nichts als Lippenbekenntnisse.