Der nach Zurückverweisung nicht verlesene Anklagesatz, oder: Anfängerfehler?

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Bei der zweiten verfahrensrechtlichen Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um das BGH, Urt. v. 24.04.2018 – 1 StR 481/17. Es geht um die Nichtverlesung des Anklagesatze in der Hauptverhandlung. Das LG hat den Angeklagten in einem Verfahren wegen betruges verurteilt. In dem Verfahren war der Angeklagte schon einmal verurteilt worden, und zwar im Januar 2016. Das Urteil hatte der BGH im  September 2016 auf eine Verfahrensrüge des Angeklagten hin teilweise aufgehoben und das Verfahren zurückverwiesen. Gegen das neu ergangene Urteil hat sich der Angeklagte nun wiederum mit einer Verfahrensrüge gewendet, die erneut Erfolg hatte:

„I.
Die Revision rügt mit der Verfahrensrüge, dass in der vom 3. bis zum 30. Mai 2017 andauernden, neu durchgeführten Hauptverhandlung der die vorliegende Tat betreffende Anklagesatz aus der Anklageschrift vom 20. August 2015 nicht verlesen wurde.

II.

Auf die zulässig erhobene Verfahrensrüge war die Entscheidung des Landgerichts Kempten aufzuheben, sodass es auf die weitere Verfahrensrüge sowie auf die Sachrüge nicht ankommt.

1. Gemäß § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO ist nach der Vernehmung des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen der Anklagesatz zu verlesen. Dies erfüllt unter anderem den Zweck, den Angeklagten und die übrigen Verfahrensbeteiligten, insbesondere die Schöffen, aber auch die Öffentlichkeit über weitere Einzelheiten des Vorwurfs zu unterrichten (BGH, Urteil vom 28. April 2006 – 2 StR 174/05, NStZ 2006, 649, 650) und ihnen zu ermöglichen, ihr Augenmerk auf die Umstände zu richten, auf die es in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ankommt (Gorf in BeckOK/StPO, 29. Ed., § 243 StPO Rn. 17). Auf die Verlesung kann daher auch nicht verzichtet werden (LR-Becker, StPO, 26. Aufl., § 243 Rn. 39). Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt auch nach Zurückverweisung der Sache durch ein Rechtsmittelgericht, wobei nur insoweit Einschränkungen durch eine eingetretene Teilrechtskraft oder vorgenommene Beschränkungen oder Erweiterungen des Verfahrensgegenstandes nach § 154a Abs. 2 und 3 StPO zu berücksichtigen sind (LR-Becker, StPO, 26. Aufl., § 243 Rn. 51; Gorf in BeckOK/StPO, 29. Ed., § 243 StPO Rn. 25). Nur bei Zurückverweisung der Sache allein im Strafausspruch sind statt des Anklagesatzes insoweit das Ausgangsurteil und die zurückverweisende Revisionsentscheidung zu verlesen.

Vorliegend betraf die Aufhebung der Entscheidung vom 18. Januar 2016 auch den Schuldspruch, weshalb der entsprechende Teil des Anklagesatzes zu verlesen war. Die Verlesung des Anklagesatzes gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 273 Abs. 1 StPO, deren Einhaltung gemäß § 274 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (BGH, Urteil vom 13. Dezember 1994 – 1 StR 641/94, NStZ 1995, 200, 201). Nachdem das Sitzungsprotokoll hierzu schweigt, muss der Senat davon ausgehen, dass der Anklagesatz in der neuen Hauptverhandlung nicht verlesen wurde.

2. Die Verlesung des Anklagesatzes ist ein so wesentliches Verfahrenserfordernis, dass die Unterlassung im Allgemeinen die Revision begründet (BGH, Beschluss vom 7. Dezember 1999 – 1 StR 494/99, NStZ 2000, 214). Allenfalls in einfach gelagerten Fällen, in denen der Zweck der Verlesung des Anklagesatzes durch die Unterlassung nicht beeinträchtigt worden ist, kann ein Beruhen des Urteils auf der Nichtverlesung des Anklagesatzes unter Umständen ausgeschlossen werden (BGH, Beschluss vom 7. Dezember 1999 – 1 StR 494/99, aaO). Wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 9. Oktober 2017 ausführlich dargelegt hat, liegt der vorliegenden Strafsache schon angesichts des Umfangs der Tatschilderung in der angefochtenen Entscheidung kein einfach gelagerter Sachverhalt zu Grunde, was auch durch die umfangreiche Beweiswürdigung bestätigt wird. Auch wenn Teile des Revisionsbeschlusses und des angefochtenen Urteils in der Hauptverhandlung zur Verlesung kamen, reichte dies zur Information der Prozessbeteiligten, welche den Akteninhalt nicht kannten, erst recht nicht zur Information der Öffentlichkeit aus. Der Senat vermag daher nicht auszuschließen, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensverstoß beruht.“

In meinen Augen (mal wieder) so eine Entscheidung, bei der man sich fragt, warum es die eigentlich gibt. Oder: Merkt das denn eigentlich nieman, und zwar entweder in der Hauptverhandlung, dass der Anklagesatz noch nicht verlesen worden ist oder später, dass die Verlesung des Anklagesatzes – wenn sie erfolgt ist – nicht m Protokoll steht. Ob das ein „Anfängerfehler“ ist, mag jeder Leser selbst für sich entscheiden.

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