Archiv für den Monat: November 2017

Strafzumessung, oder: Die strafmildernde Berücksichtigung ausländerrechtlicher Konsequenzen

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Der BGH, Beschl. v. 26.10.2017 – 4 StR 259/17 – nimmt noch einmal zur Berücksichtigung ausländerrechtlicher Konsequenzen bei der Strafzumessung Stellung. Dazu meint der BGH (noch einmal):

1. a) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen. In die Strafzumessungsentscheidung des Tatrichters kann das Revisionsgericht nur eingreifen, wenn diese Rechtsfehler aufweist, weil die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstoßen hat oder sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Nur in diesem Rahmen kann eine Verletzung des Gesetzes im Sinne des § 337 Abs. 1 StPO vorliegen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349).

b) Von diesem revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstab ausgehend kann der Strafausspruch des angefochtenen Urteils keinen Bestand haben, weil die Strafkammer sowohl bei der Strafrahmenwahl als auch bei der Strafzumessung im engeren Sinne mögliche ausländerrechtliche Konsequenzen der Verurteilung strafmildernd berücksichtigt hat, ohne hierfür eine auf die Umstände des Einzel-falls bezogene Begründung zu geben.

Ausländerrechtliche Folgen einer Verurteilung sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich keine bestimmenden Strafmilderungsgründe. Dies war bereits zur früheren ausländerrechtlichen Rechtslage auch für die damals vorgesehene zwingende Ausweisung anerkannt und gilt nunmehr vor dem Hintergrund der seit 17. März 2016 geltenden Regelung des § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG, nach der bei einer Ausweisungsentscheidung generell eine Abwägung zwischen Ausweisungsinteresse (§ 54 AufenthG) und Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) vorzunehmen ist, umso mehr. Eine andere strafzumessungsrechtliche Bewertung ist nur gerechtfertigt, wenn im Einzelfall zusätzliche Umstände hinzutreten, welche die Beendigung des Aufenthalts im Inland als besondere Härte erscheinen lassen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 2001 – 2 StR 273/01, NStZ 2002, 196; Beschlüsse vom 12. Janu-ar 2016 – 5 StR 502/15; vom 13. Oktober 2011 – 1 StR 407/11, NStZ 2012, 147; vom 31. August 2007 – 2 StR 304/07, StV 2008, 298; vom 27. Novem-ber 1998 – 3 StR 436/98, NStZ 1999, 240; vom 11. September 1996 – 3 StR 351/96, NStZ 1997, 77; Stree/Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 46 Rn. 55 mwN). Solche einzelfallbezogenen Umstände hat das Landgericht weder dargetan, noch sind sie angesichts des Umstands, dass gegen den Angeklagten bereits seit dem 23. Mai 2013 eine Ausweisungsverfügung vorliegt und die dagegen eingereichte Klage am 20. Februar 2015 abgewiesen worden ist, sonst ersichtlich.“

Klassischer Fehler, an der Grenze zum Anfängerfehler, oder: Die Unglaubwürdigkeit des Zeugnisverweigerungsberechtigten…

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In der letzten Zeit häufen sich m.E. Revisionsentscheidungen des BGH zu Beweiswürdigungsfehler.  Dazu zählt auch der BGH, Beschl. v. 05.10.2017 – 3  StR 401/17 -, ergangen in einem Verfahren wegen schwerer räuberischer Erpressung. Das LG Oldenburg hat den bestreitenden Angeklagten verurteilt. Der Zeugenaussage des Vaters des Angeklagten, wonach dieser ihn zur Tatzeit in einer Therapieeinrichtung besuchte, hat die Strafkammer nicht geglaubt. Sie hat dies mit folgenden Erwägungen begründet: Der Vater des Angeklagten habe „nicht annähernd plausibel erklären“ können, „warum er erst jetzt entsprechende Angaben gemacht habe“, obwohl er, wie er selbst eingeräumt habe, bereits kurze Zeit nach der Tat erfahren haben wolle, dass sein Sohn an der Tat beteiligt gewesen sein könnte. Dies sei umso weniger verständlich, als er eingeräumt habe, zunächst selbst geglaubt zu haben, dass sein Sohn an dem Überfall beteiligt gewesen sei. Er habe seinen Sohn dann aber – mindestens etliche Monate vor der Hauptverhandlung – darauf angesprochen, dass dieser ihn am Tattage doch besucht habe. Die Frage, warum er seinen Sohn dann „nicht bereits vorher durch Mitteilung des mutmaßlichen Alibis bei der Polizei“ entlastet habe, habe der Zeuge „nicht plausibel erklären“ können.

Das passt dem BGH so nicht:

„b) Diese Würdigung der Aussage des Vaters des Angeklagten R. verstößt gegen den vom Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung her-vorgehobenen Grundsatz, dass die Unglaubwürdigkeit eines zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigten Zeugen aus Rechtsgründen nicht daraus hergeleitet werden darf, dieser habe im Ermittlungsverfahren geschwiegen und erst in der Hauptverhandlung seine entlastenden Angaben gemacht; denn selbst die Verweigerung des Zeugnisses hätte nicht zum Nachteil des Angeklagten R. gewertet werden dürfen. Würde die Tatsache, dass ein Zeugnisver-weigerungsberechtigter von sich aus (zunächst) nichts zur Aufklärung beigetragen hat, geprüft und gewertet, so könnte er von seinem Schweigerecht nicht mehr unbefangen Gebrauch machen, weil er befürchten müsste, dass daraus später nachteilige Schlüsse zu Lasten des Angeklagten gezogen würden (BGH, Urteil vom 2. April 1987 – 4 StR 46/87, BGHR StPO § 52 Abs. 1 Verweigerung 1; Beschlüsse vom 13. August 2009 – 3 StR 168/09, NStZ 2010, 101, 102; vom 8. Dezember 2015 – 3 StR 298/15, NStZ 2016, 301).“

Klassischer Fehler des LG – an der Grenze zum Anfängerfehler…

Die Revision im Lastenaufzug, oder: Nachschieben von Urteilsgründen

Der BGH, Beschl. v. 04.10.2017 – 3 StR 397/17 – befasst sich mit den Folgen einer zu spät zur Akte gelangten Revision. So geschehen beim LG Kleve. Da wird die Revision gegen ein Urteil vom  18.05.2017 bzw. das Telefax am 03.08.2017 „bei Wartungsarbeiten im Lastenaufzug aufgefunden“. Die Strafkammer hatte bis dahin, das schriftliche Urteil nach Maßgabe des § 267 Abs. 4 Sätze 1 bis 3 StPO in abgekürzter Form abgesetzt. Dazu der BGH:

„Die Revision ist fristgerecht eingelegt worden. Die schriftliche Erklärung ist zugegangen, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist und für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, davon Kenntnis zu nehmen. Das war bei der Übersendung per Telefax am 26. Mai 2017 der Fall. Da das Ende der Revisionseinlegungsfrist auf einen allgemeinen Feiertag fiel, endete die Frist gemäß § 43 Abs. 2 StPO mit Ablauf des nächsten Werktages, mithin am 26. Mai 2017. Auf die Tatsache, dass der Schriftsatz bis dahin nicht zu den Akten gelangt war, kommt es nicht an. § 341 Abs. 1 StPO stellt nur auf den Eingang bei dem Gericht ab und nicht auf den bei der zuständigen Abteilung (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 1999 – 3 StR 200/99, BGHR StPO § 341 Wirksamkeit 1). Für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist mangels Fristversäumung weder Raum noch Bedarf.“

Aber:

„Die Feststellung der Wahrung der Rechtsmittelfrist hat entsprechend § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO zur Folge, dass das Landgericht innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgesehenen Frist die Urteilsgründe noch ergänzen kann. Die Interessenlage entspricht derjenigen im Fall der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die Strafkammer durfte bei Abfassung des abgekürzten Urteils nach der Aktenlage von der Anwendbarkeit des § 267 Abs. 4 Satz 1 StPO ausgehen. Die nachträgliche Feststellung, dass ein solcher Fall nicht vorlag, macht es erforderlich, das weitere Verfahren entsprechend § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO zu gestalten. Insoweit besteht eine Regelungslücke im Gesetz, die durch analoge Anwendung des § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO zu schließen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2008 – 5 StR 114/08, BGHR StPO § 267 Abs. 4 Ergänzung 2). Die Frist für die Ergänzung der Urteilsgründe beginnt, sobald die Akten nach der Feststellung des Nichtvorliegens eines Abkürzungsgrundes gemäß § 267 Abs. 4 Satz 1 StPO bei dem für die Ergänzung zuständigen Gericht eingehen (vgl. BGH, Beschluss vom 10. September 2008 – 2 StR 134/08, BGHSt 52, 349, 352 ff.).“

OWi-Recht meets Insolvenzrecht 3.0, oder: Während des Insolvenzverfahrens ist Erzwingungshaft zulässig?

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Nachdem ich in der letzten Zeit bereits zweimal über die Frage der Zulässigkeit von Erzwingungshaft (§ 96 OWiG) in den Fällen der Insolvenz berichtet habe, nämlich über  AG Dortmund, Beschl. v. 12.09.2017 – 729 OWi 107/17 [b] – und den LG Duisburg, Beschl. v. 05.07.2017 – 69 Qs 22/17 -, die beide die Erzwingungshaft als unzulässig angesehen haben, heute dann zur „Abrundung“ der AG Bamberg, Beschl. v. 14.09.2017 – 23 OWi 708/17. Der sieht das – mit Blick auf die Herkunft des Beschlusses hätte ich fast „natürlich“ geschrieben – anders und sieht die Erzwingungshaft nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als zulässig an.

Hier die Leitsätze der Entscheidung:

„Allein die Durchführung eines Insolvenzbzw. Restschuldbefreiungsverfahrens steht der Anordnung von Erzwingungshaft gemäß § 96 Abs. 1 OWiG nicht entgegensteht. Es ist dem Betroffenen auch während eines Insolvenzbzw. Restschuldbefreiungsverfahrens grundsätzlich zuzumuten, offene Geldbußen – auch solche, die aus der Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens herrühren – aus dem ihm verbleibenden Selbstbehalt bzw. aus seinem freien Vermögen in angemessenen Raten zu begleichen. Dem stehen auch die Vorschriften des Insolvenzrechts nicht entgegen (Fortführung von LG Deggendorf, Beschluss vom 28. März 2012 – 1 Qs (b) 62/12 –, juris, Rn. 9 ff.; LG Potsdam, Beschluss vom 14. September 2006 – 21 Qs 108/06 –, juris, Rn. 4 ff.; LG Berlin, Beschluss vom 03. Juli 2006 – 505 Qs 54/06 –, juris, Rn. 5 ff.; LG Potsdam, Beschluss vom 12. Januar 2016 – 24 Qs 52/15 –, juris, Rn. 7 ff.).

Erzwingungshaft gem. § 96 Absatz 1 OWiG kann auch dann verhängt werden, wenn dem Betroffenen nur unter den Pfändungsbzw. Haftungsgrenzen der §§ 850 bis 852 ZPO, §§ 36, 287 Absatz 2 InsO liegende Einkünfte zur Verfügung stehen. Von Zahlungsunfähigkeit i.S.d. §§ 95 Absatz 2, 96 Absatz Abs. 1 Nrn. 2 und 4 OWiG ist erst dann auszugehen, wenn es dem Betroffenen unmöglich ist, die Geldbuße unter zumutbaren Bedingungen auch aus pfändungs- und insolvenzfreiem Einkommen abzutragen.

Eine etwaige Zahlungsunfähigkeit gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 2 OWiG hat der Betroffene in jedem Fall auch während eines Insolvenzbzw. Restschuldbefreiungsverfahrens substantiiert vorzutragen und gegebenenfalls nachzuweisen.

PoliscanSpeed: Beim AG Bad Hersfeld gibt es einen Ausdruck der XML-Datei des Falldatensatzes

entnommen wikimedia.org
Urheber Sebastian Rittau

Über die Seite des Kollegen Gratz bzw. seinen VerkehrsrechtsBlog bin ich auf den AG Bad Hersfeld, Beschl. v. 26.10.2017 – 70 OWi 56/17 – gestoßen, der sich – was soll man schreiben?: „noch einmal“ oder „schon wieder“ oder „noch immer“ – mit der Frage der Einsicht in die Messdaten auseinander setzt. Dieses Mal ging es wieder um den  digitalen Falldatensatz. Der Verteidiger hatte allerdings nur die Herausgabe eine Ausdrucks der XML-Datei verlangt. Die bekommt er vom AG:

„In der vorbezeichneten Bußgeldsache hat das Regierungspräsidium Kassel wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung um 21 km/h außerhalb geschlossener Ortschaft gegen den Betroffenen einen Bußgeldbescheid 17.08.2017 erlassen und eine Geldbuße von 70,- Euro festgesetzt.

Der Verteidiger hat mit Schriftsatz vom 04.09.2017 einen Antrag nach § 62 OWiG auf gerichtliche Entscheidung und Beweismittelvervollständigung gestellt. Er begehrt die Herausgabe der abgedruckten XML-Falldatei zur vorliegenden Messung.

Mit Schreiben vom 21.09.2017 hat das Regierungspräsidium Kassel die Beweismittelvervollständigung abgelehnt.

Insoweit hat auch das OLG FfM mit Beschluss vom 26.08.2016 – 2 Ss OWI 589/16 entschieden, dass dem Betroffenen grundsätzlich das Recht zur Einsicht in die digitale Falldatei, mithin in die konkrete Messung – nicht in die vollständige Messreihe – , zusteht.

Hieraus folgt letztlich, dass dem Betroffenen auf Antrag die streitgegenständige XML-Datei zur Verfügung gestellt werden muss. Die Verwaltungsbehörde kann dem Antrag dadurch entsprechen, dass sie einen Ausdruck der ausgewerteten XML-Datei zur Akte nimmt und dem Verteidiger bzw. dem Betroffen zur Verfügung stellt.

Dass dieses Recht auf Beweismittelvervollständigung durch das Regierungspräsidium Kassel als „Herrin der Falldatei“ nicht gewährt worden ist, stellt eine Verstoß gegen das rechtliche Gehör da, weil nur hierdurch dem Betroffenen die Möglichkeit der Geltendmachung von konkreten Anknüpfungspunkten zur eventuellen Fehlerhaftigkeit der Messung gegenüber dem Gericht eröffnet wird.

Das Regierungspräsidium Kassel war deshalb auf Antrag durch gerichtliche Entscheidung hierzu zu verurteilen.“

Wenigstens etwas……..