Pflichti II: Mazedonischer Analphabet, oder: Unfähigkeit der Selbstverteidigung

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Die zweite Entscheidung zur Bestellung eines Pflichtverteidigers hat mir der Kollege Just aus Hamburg geschickt. Es handelt sich um ein Verfahren wegen des Vorwurfs der gefährlichen Körperverletzung. Der Angeklagte stammt aus Mazedonien und ist Analphabet. Das AG hatte gemeint, dass ein Verteidiger nicht notwendig sei. Das sieht das LG Chemnitz im LG Chemnitz, Beschl. v. 17.05.2017 – 2 Qs 200/17 – dann aber anders:

„Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO vor.

Für die Notwendigkeit einer Verteidigung genügt es, wenn an der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen (Meyer-Goßner, Kommentar zur StPO, § 140, Rdnr. 30 m.w.N.).

Im Falle des Angeklagten bestehen solche Zweifel bereits auf Grund der Tatsache, dass die­ser Analphabet ist. Der Angeklagte bestreitet die ihm zur Last gelegten Taten und behauptet, er sei seinerseits von den mutmaßlichen Geschädigten angegriffen worden. Es wird deshalb im Rahmen der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht notwendig sein, die mutmaßlichen Geschädigten als Zeugen zu hören und deren Aussagen vor dem Hintergrund einer abwei­chenden Sachverhaltsschilderung des Angeklagten zu würdigen. Der Verteidiger des Ange­klagten hat hierzu nachvollziehbar dargelegt, dass eine sachgerechte Verteidigung zum einen Akteneinsicht voraussetzt und dass es ferner im Rahmen der Hauptverhandlung notwendig sein wird, den Zeugen Vorhalte aus den Vernehmungsprotokollen zu machen und auch das rechtsmedizinische Sachverständigengutachten zu überprüfen. Dies ist dem Angeklagten als Analphabet ohne Verteidiger nicht möglich (vgl. auch OLG Celle, Beschluss vom 14. Februar 1983 — 3 Ws 45/83 —, juris; OLG Celle, Beschluss vom 01. September 1992 — 1 Ss 256/92juris; Landgericht Hildesheim, Beschluss vom 09.11.2007, 12 Qs 57/07, veröffentlicht in: NJW 2008, 454).“

Dre Angeklagte ist dann übrigens frei gesprochen worden.

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