Mit einem schon etwas älteren BGH, Beschluss schließ ich den heutigen Tag. Es ist der BGH, Beschl. v. 28.07.2016 – 3 StR 149/16 -, der eine Frage zum Schweigerecht des Angeklagten in der Hauptverhandlung klärt. Die Angeklagten sind vom LG wegen Volksverhetzung verurteilt worden. Einer der Angeklagte hat dagegen mit seiner Verfahrensrüge geltend gemacht, dass ihm entgegen § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO keine Gelegenheit gegeben worden sei, sich vor dem Eintritt in die Beweisaufnahme zur Sache zu äußern. Folgendes ist dazu in der Hauptverhandlugn abgelaufen:
Nachdem der Vorsitzende der Strafkammer die Angeklagten darauf hingewiesen hatte, dass es ihnen frei stehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, wurde die Hauptverhandlung auf Antrag der Verteidiger unterbrochen. Sie wollten ein Gespräch über eine mögliche Verständigung führen und eine Inaugenscheinnahme der Videos, deren Verbreitung den Angeklagten zur Last gelegt wurde, vor der angestrebten Verständigung vermeiden. Die Strafkammer hielt diese Vorgehensweise jedoch nicht für sachgerecht, sodass die Hauptverhandlung fortgesetzt wurde. Der Vorsitzende ordnete sodann die Inaugenscheinnahme der Videos an. Dem widersprachen die Verteidiger mit der Begründung, dass diese Beweiserhebung „zum jetzigen Zeitpunkt“ unzulässig sei, weil das Gericht „zunächst die Entscheidung der Angeklagten abzuwarten“ habe, ob sie sich zur Anklage äußern wollten. Die Be-anstandung wurde durch Beschluss der Strafkammer mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Angeklagten Gelegenheit gehabt hätten, sich einzulassen, und die Kammer Verständigungsgespräche vor der Inaugenscheinnahme der Videodateien nicht für angezeigt halte. Anschließend wurde die Beweisaufnahme fortgesetzt. Die Angeklagten äußerten sich erstmals am 4. Verhandungstag zur Sache, nachdem es am selben Tag zu einer Verständigung gekommen war.
Der BGH sagt:
„Die Rüge ist unbegründet. Der behauptete Verfahrensverstoß hat nicht stattgefunden.
1. Er ist entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers nicht schon des-halb bewiesen, weil sich dem Sitzungsprotokoll lediglich entnehmen lässt, dass die Angeklagten über ihre Äußerungsfreiheit belehrt wurden (§ 243 Abs. 5 Satz 1 StPO), ein ausdrücklicher Hinweis darauf, dass ihnen anschließend Gelegenheit gegeben wurde, sich zu der Anklage zu äußern, indes ebenso fehlt wie ein Vermerk über ihre Vernehmung zur Sache oder dazu, dass sie von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht haben. Dem Schweigen des Protokolls kommt insoweit nicht die ausschließliche Beweiskraft nach § 274 Satz 1 StPO zu.
Diese besteht zwar sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht: So wie das Protokoll einerseits unter Ausschluss des Rückgriffs auf andere Beweismittel beweist, dass das geschehen ist, was es angibt, belegt es andererseits auch, dass das unterblieben ist, was nicht in ihm bezeugt wird (LR/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 274 Rn. 22, 24; KK-Greger, StPO, 7. Aufl., § 274 Rn. 7 ff.). Jedoch erfasst § 274 Satz 1 StPO nur die für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten, worunter vor allem diejenigen im Sinne des § 273 Abs. 1 StPO zu verstehen sind (BGH, Beschluss vom 6. Februar 1990 – 2 StR 29/89, BGHSt 36, 354, 357; LR/Stuckenberg aaO, § 274 Rn. 14). Danach muss sich aus dem Protokoll insbesondere der gesetzmäßige Ablauf der Hauptverhandlung ergeben (LR/Stuckenberg aaO, § 273 Rn. 3; KK-Greger aaO, § 273 Rn. 2).
Die gesetzlichen Vorgaben, die in dem hier in Rede stehenden Verfahrensabschnitt einzuhalten sind, ergeben sich aus § 243 Abs. 5 StPO. Danach ist der Angeklagte im Anschluss an die Verlesung des Anklagesatzes (§ 243 Abs. 3 StPO) und die Mitteilung des Vorsitzenden über etwaige Verständigungsgespräche (§ 243 Abs. 4 StPO) darauf hinzuweisen, dass es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (§ 243 Abs. 5 Satz 1 StPO). Falls er zur Äußerung bereit ist, ist er zur Sache zu vernehmen (§ 243 Abs. 5 Satz 2 StPO), bevor sich die Beweisaufnahme anschließt (§ 244 Abs. 1 StPO). Dementsprechend lässt sich allein durch eine entsprechende Protokollierung beweisen, dass der Angeklagte über seine Aussagefreiheit belehrt und – falls er zur Äußerung bereit war – vor der Beweisaufnahme zur Sache vernommen wurde (LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 243 Rn. 58, 82; KK-Schneider, StPO, 7. Aufl., § 243 Rn. 44, 63). Der Protokollvermerk, dass der Angeklagte auf sein Schweigerecht hingewiesen wurde, belegt dagegen nicht, dass diesem anschließend auch Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde. Ebenso wenig ist indes das Gegenteil bewiesen, falls sich aus dem Protokoll nicht ergibt, dass er zur Sache vernommen wurde. Das Schweigen des Protokolls belegt insoweit nur, dass der Angeklagte nicht zur Sache vernommen worden ist sowie indirekt, dass er sich nicht geäußert hat (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Februar 1990 – 4 StR 426/89, StV 1990, 245; BayObLG, Urteil vom 1. Juli 1953 – RevReg. 1 St 113/53, MDR 1953, 755, 756; LR/Becker, aaO, Rn. 82 Fn. 275; KK-Schneider, StPO, 7. Aufl., § 243 Rn. 63; Schlothauer, StV 1994, 468 f.). Dies ergibt sich aus Folgendem:
243 Abs. 5 StPO sieht nicht ausdrücklich vor, dass der Angeklagte im Anschluss an den Hinweis auf sein Schweigerecht zu befragen ist, ob er zur Äußerung bereit ist, und ihm Gelegenheit zur Einlassung zu geben. Dies ergibt sich lediglich aus dem Sinn der Vorschrift; denn es wäre widersinnig, den Angeklagten über seine Aussagefreiheit zu belehren, ohne ihm sodann die Möglichkeit einzuräumen, Angaben zur Sache zu machen. Zudem setzt die Regelung des § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO, wonach der Angeklagte zur Sache zu vernehmen ist, falls er zur Äußerung bereit ist, ersichtlich voraus, dass ihm Gele-genheit dazu gegeben wird. Somit ist der Umstand, dass der Angeklagte nach seiner Belehrung Gelegenheit zur Einlassung hatte, zwar gesetzlich vorausgesetzt, indes keine wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung, die ausschließlich durch einen ausdrücklichen entsprechenden Protokollvermerk belegbar ist. Dass diese Gelegenheit eingeräumt wurde, ergibt sich im Regelfall vielmehr lediglich konkludent aus der Protokollierung, der Angeklagte habe sich zur Äußerung bereit gezeigt und zur Sache eingelassen, oder er habe erklärt, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen. Fehlt ein eindeutiger Ver-merk, so ist die Frage, ob dem Angeklagten Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde, daher im Wege des Freibeweises zu klären (vgl. dazu LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 337 Rn. 49).
Bisherige Rechtsprechung steht dem nicht entgegen. Soweit der Senat in seinem Beschluss vom 13. September 1991 (3 StR 338/91, NStZ 1992, 49) sich beiläufig gegenteilig geäußert hat, war dies für die dortige Entscheidung nicht tragend; der Senat würde hieran auch nicht festhalten. Der Beschluss des 4. Strafsenats vom 13. Dezember 1990 (4 StR 519/90, BGHSt 37, 260, 261 f.) betrifft die Anhörung des Angeklagten zu einem Adhäsionsantrag und differenziert, soweit er hierbei auf § 243 StPO Bezug nimmt, nicht näher zwischen der Beweiskraft des Protokolls dafür, dass sich der Angeklagte zur Sache äußerte, und dafür, dass ihm hierzu Gelegenheit gegeben wurde.
2. Die Prüfung im Wege des Freibeweises führt zu dem Ergebnis, dass der behauptete Verfahrensverstoß nicht bewiesen ist. Schon dem Vorbringen des Beschwerdeführers lässt sich im Gegenteil entnehmen, dass er durchaus Gelegenheit hatte, sich zu der Anklage zu äußern, sich dazu aber nicht bereit erklärte, weil er offenbar meinte, das Gericht dadurch an der Inaugenscheinnahme der Videos vor der von ihm angestrebten Verständigung hindern zu können. Das wird durch den Beschluss der Strafkammer bestätigt, mit dem diese die gegen die Anordnung der Inaugenscheinnahme gerichtete Beanstandung der Angeklagten zurückgewiesen hat. Danach hatte der Angeklagte „Gelegenheit zur Einlassung“, das Gericht hielt indes Verständigungsgespräche vor der Inaugenscheinnahme der Videos nicht für angezeigt.“
Der Beschluss ist zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung BGHSt vorgesehen….