Seit der Novellierung des § 478 StPO im Zuge des 2. Opferrechtsreformgesetzes vom 29.07.2009 (BGBl I S. 2280) ist (auch) eine Beschwerde gegen die Entscheidung des Vorsitzenden des Gerichts über die Gewährung von Auskünften und Akteneinsicht für Privatpersonen und andere Stellen (§ 475 StPO) statthaft. Bis dahin waren ausschließlich Entscheidungen der Staatsanwaltschaft anfechtbar.
Diese Gesetzesänderung hatte das KG im KG, Beschl. v. 28.06.2012 – 4 Ws 61/12 -, also gut drei Jahre (!!) später übersehen; vielleicht hatte man die neuen Gesetzestexte ja noch nicht ausgepackt. Dort war in einem Verfahren wegen versuchten Totschlags, über das in der Presse berichtet worden war, dem anwaltlichen Vertreter einer Zeitschrift, in der ein Bericht veröffentlicht worden war und gegen die der Angeklagte wegen der Berichterstattung Klage erhoben hatte, ohne weiteres Akteneinsicht gewährt worden. Dagegen die Beschwerde des Angeklagten, die das LG mit dem Hinweis auf § 478 Abs. 3 StPO a.F. zuürckgewiesen hatte. Auch eine Gegenvorstellung hatte dann keinen Erfolg.
Erfolg hatte aber dann jetzt im Sommer die Verfassungsbeschwerde des Angeklagten beim BVerfG. Das hat dem KG mit wohl gesetzten Worten eine „objektiv willkürliche Gesetzesauslegung“ bescheinigt:
a) Dies gilt jedenfalls dann, falls das Kammergericht die Entscheidung auf Grundlage des § 478 Abs. 3 StPO a. F. getroffen hat. Denn die Anwendung einer außer Kraft getretenen Norm ist mit der Nichtanwendung einer offensichtlich einschlägigen Norm vergleichbar. Trotz der anders lautenden, ausdrücklichen Erklärung des Kammergerichts im die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers verwerfenden Beschluss vom 29. August 2012 spricht vieles für eine irrtümliche Anwendung des veralteten Gesetzestextes.
Das Kammergericht hat die den teilweisen Ausschluss der Beschwerde regelnde Vorschrift des § 478 Abs. 3 Satz 3 StPO n. F. weder im angegriffenen Beschluss vom 28. Juni 2012 noch in seinem Beschluss vom 29. August 2012 zur Begründung seiner Entscheidung angeführt, sondern allein auf die Sätze 1 und 2 des Absatzes 3 der Vorschrift Bezug genommen. Diese Sätze regeln aber nicht (mehr) den Ausschluss der Beschwerde. Auch die seitens des Kammergerichts angeführten Fundstellen sprechen für eine irrtümliche Anwendung des veralteten Gesetzestextes. Eine vom Kammergericht in Bezug genommene Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg führte zur Begründung den genauen Wortlaut des damaligen Beschwerdeausschlusses gemäß § 478 Abs. 3 Satz 2 StPO a. F. an (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 3. Januar 2002 – 2 Ws 258/01 -, juris, Rn. 3 f.; vgl. auch Rübenstahl, StraFo 2013, S. 341). Die zusätzlich vom Kammergericht zitierte Literatur war teilweise veraltet – so war der von dem Kammergericht zitierte Karlsruher Kommentar auf dem Stand des Jahres 2008 – oder nahm ersichtlich irrtümlich die veraltete Gesetzeslage in Bezug (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. 2011, § 304 Rn. 5; siehe hierzu Rübenstahl, StraFo 2013, S. 341 <342 Fn. 6>).
b) Doch selbst wenn das Kammergericht – so wie von ihm angegeben – § 478 Abs. 3 Sätze 1 und 2 StPO n. F. angewendet haben sollte, ist die Entscheidung objektiv willkürlich.
Nach § 304 Abs. 1 StPO ist die Beschwerde gegen Verfügungen des Vorsitzenden zulässig, soweit das Gesetz sie nicht ausdrücklich einer Anfechtung entzieht. Ein derartiger Ausschluss der Beschwerde ist nach dem Wortlaut in § 478 Abs. 3 Sätze 1 und 2 StPO n. F. nicht (mehr) angeordnet. Angesichts der klaren Regelung des § 304 Abs. 1 StPO („… ausdrücklich einer Anfechtung entzieht“) kann nicht etwa im Wege eines Umkehrschlusses, auf den sich das Kammergericht im Übrigen auch nicht beruft, aus der Anordnung des Rechtsbehelfs in § 478 Abs. 3 Satz 1 StPO n. F. gegen die Entscheidung des Staatsanwaltes nach § 478 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StPO auf das Fehlen eines Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung des Vorsitzenden nach § 478 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 StPO geschlossen werden….“
Na ja, schöne „Einlassung“, man habe die neue Fassung angewendet (?). Passt nicht so ganz, wenn man dann alte Literatur anführt. Denn in der neuen stand es schon (lange) anders – so bei Meyer-Goßner und auch in meinem „Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 5. Aufl., 2010, Rn. 128. Das weiß ich deshalb, weil ich gerade noch einmal nachgeschaut habe 🙂 und ich mich daran erinnere, dass ich damls ganz erschrocken war, als ich den KG, Beschl. v. 28.o6.2012 – 4 Ws 61/12 – gelesen hatte. Frage war nämlich: Fehler bei mir oder beim KG. Nun, das hat sich geklärt.