Archiv für den Monat: Juli 2013

Anruf: „Komme in ein paar Minuten…“ – Verspätung interessiert Gericht aber nicht….

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Viele OLG-Entscheidungen befassen sich mit der Verwerfung der Berufung des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO wegen unentschuldiugten Ausbleibens, ein scharfes Schwert, zu dem die LG m.E. gern und manchmal auch ein wenig vorschnell greifen, Folge: Das Verwerfungsurteil wird vom Revisionsgericht aufgehoben.Mit einer solchen vorschnellen Entscheidung befasst sich der KG, Beschl. v. 30.04.2013 – (4) 161 Ss 89/13 (86/13). Da hatte der Angeklagte, der zu 09.00 Uhr geladen, aber nicht erschienen  war, seiner Verteidigerin um 09.10 Uhr telefonisch mitgeteilt, „er befinde sich „mit seinem Wagen an der Perleberger Brücke“ und werde „in ein paar Minuten kommen“,. Das hatte die um 09.12 Uhr an das Gericht weitergeleitet. Die Strafkammer hat das Vorbringen des Angeklagten als nicht hinreichend für eine Entschuldigung erachtet, weil ein Grund für die Verspätung nicht mitgeteilt worden sei. Ein weiteres Zuwarten über 15 Minuten hinaus hatte die Kammer weder aufgrund des Gebots eines fairen Verfahrens noch aufgrund der gerichtlichen Fürsorgepflicht als erforderlich angesehen. Sie hat die Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen und – und das ist jetzt ketzerisch – sich wahrscheinlich bis zum nächsten Termin in die Kantine oder ins Dienstzimmer begeben. Die Revision des Angeklagten hatte aber mit der Verfahrensrüge Erfolg.

„…2. Die Revision ist auch begründet. Zwar ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht allein die Mitteilung der Verspätung (verbunden mit der Ankündigung baldigen Erscheinens) nicht als genügende Entschuldigung im Sinne von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO angesehen hat. Es hat aber bei seiner Entscheidung verkannt, dass es die aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens abzuleitende Fürsorgepflicht geboten hätte, vor Verwerfung der Berufung einen längeren Zeitraum zuzuwarten. Die Verwerfung der Berufung gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Rechtsmittelführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Berufung dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Diese Vermutung entfällt jedoch, wenn der Angeklagte noch vor dem Termin oder in der normalen Wartezeit von fünfzehn Minuten die Gründe seiner (voraussichtlichen) Verspätung mitteilt und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt. Das Gericht ist in diesem Fall gehalten, einen längeren Zeitraum zuzuwarten (vgl. KG, Beschlüsse vom 21. November 2012 – (3) 161 Ss 239/12 (171/12) – und vom 13. Januar 2012 – (3) 161 Ss 474/11 (2/12) – m. w. Nachw.), wobei das Zuwarten hier – angesichts des der Kammer von der Verteidigerin um 9.12 Uhr mitgeteilten Umstandes, dass sich der Angeklagte auf dem Weg zum Verhandlungsort mit seinem Pkw gegen 9.10 Uhr bereits an der Perleberger Brücke und damit in unmittelbarer Nähe des Gerichts befand – voraussichtlich nur wenige Minuten betragen hätte. Mit einem noch hinreichend zeitnahen Eintreffen des Angeklagten an Gerichtsstelle war danach zu rechnen. Der Angeklagte hat in dem Telefonat mit seiner Verteidigerin die Gründe für seine Verspätung zwar nicht dargelegt. Die über die normale Wartezeit hinausgehende Wartepflicht besteht aber unabhängig davon, ob dem Angeklagten an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn, ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last (KG a.a.O.). Umstände, die auf eine derartige Einstellung des Angeklagten schließen lassen, sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen und ergeben sich auch aus der Revisionsbegründung nicht. Den Urteilsgründen ist auch nicht zu entnehmen, dass der Kammer ein weiteres Zuwarten wegen anstehender weiterer Termine – auch im Interesse anderer Verfahrensbeteiligter – schlechterdings nicht zumutbar gewesen ist (vgl. KG a.a.O.; Senat, Beschlüsse vom 29. Dezember 2006 – (4) 1 Ss 500/06 (239/06) – und vom 5. Mai 1997 – (4) 1 Ss 94/97 (41/97) – [juris]; jeweils m.w.Nachw.). Angesichts des Umstandes, dass erstinstanzlich auf eine Freiheitsstrafe von vier Monaten gegen den unbestraften Angeklagten erkannt worden ist und die Wartezeit absehbar nur wenige Minuten über die ohnehin regelmäßig einzuhaltende hinaus gegangen wäre, hätte die Kammer dem Angeklagten aufgrund der ihr obliegenden Fürsorgepflicht die Möglichkeit einräumen müssen, durch sein – wenn auch unentschuldigt verspätetes – Erscheinen die Folgen einer Säumnis abzuwenden.

„…sprechen Sie bitte lauter…“ – das schwierige Hören in der Hauptverhandlung

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Wer in der Hauptverhandlung anwesend ist, aber nichts versteht, weil zu leise gesprochen wird, der muss den Mund aufmachen, wenn er später darauf eine Verfahrensrüge stützen will – und natürlich – § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO – zur Begründung der Verfahresnrüge auch vortragen, dass er lauteres Sprechen angemahnt hat. So der BGH, Beschl. v. 19.06.2013 – 4 StR 26/13. Da war die Rüge der Nichtwahrnehmbarkeit von Erklärungen (§ 338 Nr. 5 StPO) erhoben worden. Die hat der BGH zurückgewiesen:

„…Soweit die Revisionen den Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO darin sehen, dass die von Zeugen bei der Inaugenscheinnahme abgegebenen Erklärungen für die nicht an den Richtertisch getretenen Verfahrensbeteiligten in Einzelfällen nicht wahrnehmbar gewesen seien, ist die Rüge nicht ordnungsgemäß ausgeführt. Abwesend im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO (vgl. Franke in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 338 Rn. 83) ist ein Verfahrensbeteiligter, der sich im Gerichtssaal aufhält und sich an der Hauptverhandlung beteiligt, erst dann, wenn er nach den konkreten Gegebenheiten während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung außer Stande ist, auf die Verhandlung – sei es auch nur mit der Bitte, lauter zu sprechen oder das Mikrofon zu benutzen, – Einfluss zu nehmen. Dazu, dass dies in den gerügten Verhandlungssituationen der Fall war, verhält sich das Sachvorbringen der Beschwerdeführer nicht...“

Das alltägliche Blitzmarathon (in NRW); oder: Jetzt „Abzocke“ erlaubt?

In den 13.00 Uhr Nachrichten lief gerade die Meldung, die m.E. auch unter der Überschrift: „Der alltägliche Blitzmarathon“und nicht wie in der PM des Innenministerium NRW unter “ Kommunen können Blitzer flexibler einsetzen – Innenminister Jäger: Neue Reglung ist besonders transparent – Verkehrsminister Groschek: Ein wichtiger Beitrag zu mehr Verkehrssicherhei“ laufen könnte.

Berichtet wurde über eine Änderung der entsprechenden Erlasse und Richtliniene  zur Geschwindigkeitsüberwachung, was ich jetzt so schnell nicht geprüft habe. In der PM heißt es:

Seit heute können die Ordnungsämter der Kreise, der Großen kreisangehörigen und der kreisfreien Städte in NRW die Geschwindigkeit wesentlich flexibler überwachen. Dazu nutzen sie stationäre und mobile Messanlagen. Bisher waren sie auf Unfallbrennpunkte oder besonders schutzwürdige Zonen festgelegt, beispielsweise unmittelbar vor Schulen und Kindergärten. Das können die Kommunen auch weiterhin. „Unser Ziel ist, dass weniger Menschen im Straßenverkehr getötet oder verletzt werden“, erläuterte Minister Jäger. Jetzt kann auch der gesamte Weg der Schulkinder kontrolliert werden. Auch Radfahrer und Fußgänger werden besser geschützt. „Wir können jetzt viel gezielter reagieren. Und wir wissen von vielen Bürgern, wo Gefahrenschwerpunkte in unserer Stadt sind“, hob der Leiter des Kölner Ordnungsamtes Robert Kilp hervor.

Ganz unumstritten ist/war das nicht: Der NRW-Chef der Gewerkschaft der Polizei, Arnold Plickert, kritisiert, Blitzer könnten künftig dort aufgebaut werden, „wo sie das meiste Geld in die Kassen der Kommunen spülen – und nicht, wo es der Sicherheit der Bürger dient“.

Mal sehen, wie die Kommunen und Kreisen damit umgehen. Gegen Überwachung an „Gefahrenschwerpunkten“ ist nichts einzuwenden, gegen „Abzocke“ ja…

Pflichtverteidiger im Widerrufsverfahren? Ja, aber endlich gesetzlich regeln

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Manche Beschlüsse/Verfügungen verdienen m.E. das Prädikat „nachahmenswert“. Um eine solche Verfügung handelt es sich bei der AG Backnang, Verf. v. 04.07.2013 – 2 BWL 117/12. In der Sache geht es um einen Bewährungswiderruf wegen eines Weisungsverstoßes. Und das AG Backnang macht etwas, was ich so bislang in der veröffentlichten Rechtsprechung noch nicht gefunden habe:

Es ordnet im Strafvollstreckungsverfahren einen Pflichtverteidiger bei – insoweit noch nicht so ganz besonders, aber immerhin – und das bereits in einem Verfahrensstadium, in dem ein Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft noch gar nicht vorliegt, sondern der bloß angekündigt ist.

„Die Staatsanwaltschaft hat angekündigt, sie erwäge einen Widerrufsantrag für den Fall, dass sich der Verurteilte weiterhin nicht an die ihm auferlegten Weisungen hält. Auf die in der Verfügung des Gerichts vom 30.April 2013 erteilten Hinweise, wonach ein etwaiger Weisungsverstoß wohl nicht zum Bewährungswiderruf führen würde, hat die Staatsanwaltschaft bislang nicht erwidert. Dies legt für das Gericht den Eindruck nahe, dass seitens der Staatsanwaltschaft der mögliche Widerrufsgrund bereits in dem Weisungsverstoß erblickt wird, jedenfalls ist zu den weiteren Voraussetzungen des § 56f Abs.1 Nr.2 StGB bislang nichts ausgeführt worden. Eine solche Auffassung ist nach Ansicht des Gerichts unzutreffend, sodass sich der Verurteilte hiergegen im Falle der Antragsstellung zur Wehr setzen muss. Allein der beharrliche und gröbliche Verstoß des Verurteilten gegen ihm erteilte Weisungen oder das beharrliche Sich-Entziehen der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers rechtfertigt nämlich schon nach dem Gesetzeswortlaut den Widerruf der Strafaussetzung nicht (BVerfG NStZ-RR 2007, 338; OLG Hamm Jurion Rs 2013, 35820), der Bewährungswiderruf ist keine Strafe für den Weisungsverstoß. Maßgeblich ist vielmehr, ob unter Berücksichtigung der gesamten Umstände der Verstoß zu der kriminellen Neigung oder Auffälligkeit des Verurteilten so in einer kausalen Beziehung steht, dass die Gefahr weiterer Straftaten besteht. Dies setzt eine erneute Prognosestellung voraus, welche auf konkreten und objektivierbaren Anhaltspunkten zu beruhen hat.“

Und: Die „Schwierigkeit der Verfahrens“ i.S. des § 140 Abs. 2 StPO wird auch bejaht.

„Die – in der Praxis häufig Probleme bereitende (Fischer, StGB, 60. Aufl. 2013, § 56f StGB, Rn. 11a) –  Prüfung, ob diese Voraussetzungen für einen Bewährungswiderruf vorliegen oder ob trotz der Verstöße eine Korrektur der ursprünglichen Prognose nicht angezeigt ist, ist dem Verurteilten alleine nicht möglich, er wird die einschlägige Rechtsprechung kaum kennen. Es war ihm daher in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Dies gebietet im Übrigen auch der Umstand, dass hinsichtlich der Weisung, „seine Lehrstelle nicht von sich aus aufzugeben“, im Verfahren geprüft werden muss, ob dem Verurteilten die Beendigung des Ausbildungsverhältnisses tatsächlich angelastet werden kann oder ob die arbeitgeberseitige Kündigung womöglich zu Unrecht erfolgt ist.“

In beiden Punkten m.E. nachahmenswert. Und der Beschluss führt für mich mal wieder zu der Frage: Warum ändert der Gesetzgeber an der Stelle eigentlich nicht die StPO und führt ausdrücklich die Beiordnung des Pflichtverteidigers auch im Strafvollstreckungsverfahren ein. Wenn man schon durch Schaffung neuer Gebührentatbestände im RVG mit den Gebühren in Teil 4 Abschnitt 2 VV RVG für eine bessere Verteidigung auch im Strafvollstreckungsverfahren sorgen will, dann muss dafür m.E. auch die Grundlagen schaffen. Und dazu gehört auch die Pflichtverteidigung.

Jedenfalls: Nachahmenswert. Ich bin mal gespannt, ob die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die wohl zuständig ist, das mitmacht oder ob sie ins Rechtsmittel geht.

Lesetipp: Rechtsprechungsübersicht zum Verkehrsstrafrecht I

Auch an dieser Stelle dann ein Lesetipp. Seit gestern steht auf meiner Homepage Burhoff-online zum kostenlosen Download bereit der 1. Teil meines Zweiteilers aus dem VRR, und zwar VRR 2013, 246: Die Rechtsprechung im Verkehrsstrafrecht in den Jahren 2010 – 2012. Den zweiten Teil gibt es dann im August. Der 1. Teil stellt die Rechtsprechung aus folgenden Bereichen vor:

I. Führen eines Fahrzeugs im öffentlichen Verkehrsraum
II.Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB)
1. Begriff des Unfalls
2. Begriff des Unfallortes
3. Vorsatz beim unerlaubten Entfernen
a) Feststellungen zum Schadensbild
b) Abgrenzung bedingter Vorsatz/bewusste Fahrlässigkeit
III. Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b StGB)
1. Allgemeiner Hinweis
2. Gefährlicher Eingriff auch außerhalb des öffentlichen Verkehrsraums?
3. Beinaheunfall
4. Konkrete Gefahr
5. Wertgrenze für den drohenden bedeutenden Schaden
IV. Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB).