Im BGH, Beschl. v. 11.04.2013 – 2 StR 442/12 findet der BGH mehr als deutliche Wort zu einem Urteil des LG Frankfurt/Main. Das hatte den Angeklagten wegen Mordes verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB angeordnet. Und zu letzterem findet der BGH eben mehr als deutliche Worte, man könnte auch sagen: Ihm springt der Draht aus der Mütze“ oder: Er watscht die Strafkammer ab. Und der Sachverständige bekommt auch gleich noch einen mit. So geht es:
„Der Maßregelausspruch kann nicht bestehen bleiben. Das Landgericht hat zur Prognose im Sinne von § 64 StGB ausgeführt, die Behandlung sei „nicht völlig aussichtslos“, auch der Sachverständige Dr. B. habe darauf hingewiesen, „dass von einer Aussichtslosigkeit nicht gesprochen werden könne“.Das ist rechtsfehlerhaft. Bereits im Jahr 1994 hat das Bundesverfassungsgericht die damalige Regelung des § 64 Abs. 1 aF StGB für verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 91, 1). In einer großen Vielzahl von Entscheidungen haben danach alle Strafsenate des Bundesgerichtshofs immer wieder Urteile aufgehoben, die auf einer Anwendung des verfassungswidrigen Kriteriums der „Aussichtslosigkeit“ beruhten. Bei der ab 20. Juli 2007 geltenden Neufassung des § 64 StGB hat der Gesetzgeber auch den Wortlaut des § 64 Satz 2 StGB angepasst und klargestellt, dass es einer „hinreichend konkreten Erfolgsaussicht“ bedarf; dies ist mit dem Fehlen von „Aussichtslosigkeit“ ersichtlich nicht gleichbedeutend. Wenn Tatgerichte beinahe 20 Jahre nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und mehr als fünf Jahre nach der Gesetzesänderung immer noch auf das vom Bundesgerichtshof vielfach bemängelte verfassungswidrige Kriterium abstellen, mag das auch darauf be-ruhen, dass fehlerhafte, ihrerseits uninformierte Sachverständigengutachten kritiklos übernommen werden. Dies zeigt zunächst – jedenfalls hier – eine die Sachkunde in Frage stellende Unkenntnis des Sachverständigen von den nor-mativen Grundlagen seines Gutachtensauftrags. Verantwortlich ist aber in je-dem Fall das Gericht, das den Sachverständigen anzuleiten und Fehler seines Gutachtens kritisch zu hinterfragen hat.
Vorliegend lässt sich auch aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe nicht entnehmen, dass das Landgericht inhaltlich den richtigen Prognosemaßstab angewendet hat. Über die Maßregelanordnung ist daher neu zu entscheiden.“
Wie verärgert der BGH ist, kann man m.E. daran erkennen, dass er Belege/andere Entscheidungen erst gar nicht mehr anführt, sondern nur auf eine „große Vielzahl von Entscheidungen“ verweist. So nach dem Motto: Das sollte man wissen….
Hier läuft doch was falsch.
Einem verurteilten Mörder, für den die Alternative im sofortigen Antritt einer mindestens 15jährigen Strafhaft besteht, wird auf diese Weise die Chance auf eine professionelle Entziehung genommen. Das hat das BVerfG sicher nicht gemeint.
BGH watscht Strafkammer und Sachverständigen ab: Rechtsprechung aus 1994 sollte man kennen via @burhoff http://t.co/t1xJUXN6y3
Was schlagen Sie vor?
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Noch deutlicher ist die „Watsche“, die der Sachverständige abbekommt. Ich halte die Vielzahl der schlechten Sachverständigen und Gutachten, mit denen man immer wieder konfrontiert noch schlimmer, gerade, weil die Gerichte diese meist kritiklos hinnehmen (müssen). Eine Lösung dafür habe ich aber auch nicht.
Das stimmt. Den SV wird die Kammer kaum mehr nehmen (dürfen).
Der Sachverständige „Dr. B.“ kann eigentlich nur der fast schon legendär vom BGH in StV 2005, 124 in Grund und Boden abgewatschte Dr. B. aus W. sein, der gerade in Ffm. noch immer „gern‘ genommen“ wird.
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Nochmal: BVerfG und Gesetz meinen doch offensichtlich den Fall, dass jemand eingewiesen wird, der sonst in Freiheit bleiben könnte (nur dann ist die Maßregel eine selbständig „freiheitsentziehende Maßnahme“, worauf das BVerfG wiederholt abhebt).
Was soll deshalb falsch oder gar skandalös daran sein, dass ein schwer alkoholabhängiger Langzeithäftling bereits dann einen Teil seiner Strafe in einer Entziehungsanstalt absitzen kann, wenn der Erfolg dieser Maßregel nicht mit konkreten Tatsachen, sondern nur mit abstrakten Erfahrungssätzen begründet werden kann?
Letztlich werden hier Leute „abgewatscht“, weil sie das Gesetz im Interesse des alkoholkranken Verurteilten interpretiert haben (methodisch nennt man das übrigens „teleologische Auslegung“).
@Wilfried
Es wird dem Verurteilten hier keineswegs, wie Sie annehmen, „die Chance auf eine professionelle Entziehung genommen“. Es stehen im auch im Rahmen des Strafvollzugs Möglichkeiten bereit, _freiwillig_ an Entziehungsprogrammen teilzunehmen. Hier geht es darum, ob die gesetzlichen/verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind, daß er zu einer solchen Teilnahme gezwungen wird.
Ihre Argumentation, der Verurteilten sei doch sowieso in Unfreiheit und deshalb brauche es man mit diesen Voraussetzungen nicht so eng zu sehen, würde darauf hinauslaufen, die Freiheitsentziehung, die für sich schon ein Grundrechtseingriff ist, als selbstständige Legitimation für einen weiteren Eingriff (in die Selbstbestimmungsfreiheit) anzusehen.
Davon abgesehen ist der Aufenthalt in einer Enziehungsanstalt (typischerweise eine Klinik für Forensische Psychiatrie) im Verhältnis zum Aufenthalt in einer JVA keineswegs eine Wohltat.
@ Garcia: Was die Therapiemöglichkeiten im Normalvollzug angeht, beruht Ihr Posting auf Annahmen, die an der Realität leider vorbeigehen.
An der Realität vorbei geht auch die Annahme, ein vor die Wahl gestellter Verurteilter würde in der Regel den Knast der Entziehungsanstalt vorziehen.
Es geht deshalb auch gerade nicht um den Fall, dass jemand zur Therapie „gezwungen“ werden soll. Es geht um den Fall, dass nicht mit konkreten Tatsachen belegt werden kann, ob eine Therapie konkrete Erfolgsaussichten hat.
die sachverständigenschelt halte ich allerdings für deplaziert. es ist sache des gerichts, die sachkunde des sachverständigen in die juristisch korrekten bahnen zu leiten.
ich gehe allerdings davon aus, dass die sachverständigenschelte hier nicht den falschen getroffen hat. 😉
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