Und dann zum Tagesschluss noch der BayObLG, Beschl. v. 09.01.2024 – 202 StRR 98/23 – zur Frage der Anfechtbarkeit eines Einstellungsbeschlusses nach § 153 Abs. 2 StPO und zur Umdeutung einer „Revision“ in eine „Beschwerde“.
Folgender Sachverhalt: Dem Angeklagten, einem tschechischen Staatsangehörigen, ist in der Anklageschrift u.a. ein Verbrechen des schweren Bandendiebstahls zur Last gelegt worden. Das AG hat ihn wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. In der Hauptverhandlung hat das LG das Verfahren mit Zustimmung des Vertreters der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gemäß § 153 Abs. 2 StPO eingestellt. Der Angeklagte gegen das „Urteil“ des Landgerichts „Revision“ ein, die er unter Hinweis auf ein „fehlerhaftes Verfahren“ mit der „Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte“ und der „Verletzung grundlegender Menschenrechte und Freiheiten“ begründete.
Das BayObLG hat das Schreiben des Angeklagten nicht als Revision angesehen, sondern nach dem Rechtsgedanken des § 300 StPO in eine Beschwerde gegen den Beschluss der Berufungskammer umgedeutet:
„1. Eine Revision gegen den Einstellungsbeschluss ist unstatthaft. Sie ist gemäß § 333 StPO ausschließlich gegen Urteile der Landgerichte sowie gegen die im ersten Rechtszug ergangenen Urteile der Oberlandesgerichte zulässig.
2. Trotz der eindeutigen Bezeichnung des Rechtsmittels als „Revision“ ist dieses gemäß § 300 StPO aber in eine Beschwerde umzudeuten.
a) Die ausdrückliche Bezeichnung des Rechtsmittels als „Revision“ durch den Beschwerdeführer als juristischen Laien, der überdies tschechischer Staatsangehöriger und, was schon durch die Hinzuziehung einer Dolmetscherin in der Berufungshauptverhandlung indiziert wird, der deutschen Sprache zumindest nicht hinreichend mächtig ist, steht der Umdeutung nicht im Wege. Denn nach § 300 StPO soll gerade gewährleistet werden, dass der Wille des Beschwerdeführers auf gerichtliche Kontrolle in effektiver Weise umgesetzt wird (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 66. Aufl. § 300 Rn. 1).
b) Zwar verbietet § 300 StPO die Umdeutung in ein unzulässiges Rechtsmittel (BGH, Beschl. v. 06.06.2016 – 2 ARs 399/15 bei juris = BeckRS 2016, 14599). Jedoch steht dies einer solchen nicht entgegen, weil eine zulässige Beschwerde gegen den Einstellungsbeschluss des Landgerichts in Betracht kommt.
aa) Gegen die im Berufungsverfahren erlassenen Beschlüsse ist gemäß § 304 Abs 1 Alt. 2 StPO grundsätzlich die Beschwerde statthaft.
bb) Dies gilt auch für die Anfechtung eines Einstellungsbeschlusses nach § 153 Abs. 2 Satz 1 StPO. Die Bestimmung des § 153 Abs. 2 Satz 4 StPO, die den Einstellungsbeschluss für unanfechtbar erklärt, steht dem nicht entgegen. Trotz des Wortlauts dieser Norm ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass auch der gerichtliche Beschluss, mit dem ein Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt wird, nicht jeglicher Anfechtung entzogen ist. Die Vorschrift ist vielmehr einschränkend dahin auszulegen, dass sich die Unanfechtbarkeit allein auf die Ermessensentscheidung bezieht, die Beschwerde für den Angeklagten (und die Staatsanwaltschaft) jedoch dann gegeben ist, wenn eine prozessuale Voraussetzung für die Einstellung fehlte, namentlich dann, wenn das Verfahren ein die Verfahrenseinstellung nach § 153 Abs. 2 StPO hinderndes Verbrechen zum Gegenstand hat (BGH, Urt. v. 22.03.2002 – 4 StR 485/01 = BGHSt 47, 270 = StV 2002, 294 = NJW 2002, 2401 = NStZ 2002, 491 = BGHR StPO vor § 1/Verfahrenshindernis Strafklageverbrauch 4 = JR 2003, 125 = BeckRS 2002, 3727 m.w.N.), was nach Aktenlage nahe liegt.
(a) In der Anklageschrift vom 03.06.2022 lag dem Angeklagten unter anderem ein Verbrechen des schweren Bandendiebstahls gemäß § 244a Abs. 1 i.V.m. 244 Abs. 1 Nrn. 1 und 2, 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StGB zur Last.
(b) Allerdings kommt eine Einstellung nach § 153 Abs. 2 StPO trotz des ursprünglichen Verbrechensvorwurfs auch dann in Betracht, wenn dieser entfallen ist, die Tat mithin nur noch unter dem Gesichtspunkt eines Vergehens verfolgbar ist (BGH a.a.O.). Hierfür gibt es indes keine hinreichenden Anhaltspunkte.
(1) Zwar hat das Amtsgericht den Angeklagten lediglich wegen Diebstahls gemäß § 242 Abs. 1 StGB verurteilt. Aus den Urteilsgründen ergibt sich indes kein hinreichender Anhaltspunkt dafür, aus welchen Gründen das Erstgericht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der Angeklagte, der immerhin als „Mittäter“ von zwei Mitangeklagten und einer weiteren gesondert verfolgten Person, die nach den Feststellungen im amtsgerichtlichen Urteil übereingekommen waren, sich in der Bundesrepublik Deutschland durch Diebstähle aus Elektromärkten eine Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Gewicht zu verschaffen, bezeichnet wurde, nicht wegen schweren Bandendiebstahls schuldig gesprochen wurde. Die durch die Beweiswürdigung nicht belegte Erwägung im Rahmen der rechtlichen Würdigung, dass „die notwendige Bandenabrede nicht nachgewiesen werden konnte“, stellt unter Zugrundelegung der Feststellungen des Ersturteils keine nachvollziehbare Begründung dar, die den ursprünglichen Verbrechensvorwurf entfallen ließe. Dies gilt umso mehr, als das vom Amtsgericht zugrunde gelegte Ergebnis auch im Widerspruch zur Beweiswürdigung im Übrigen steht, wonach sich die drei Angeklagten durch die Begehung grenzüberschreitender Diebstähle eine Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Gewicht erschließen wollten. Ganz offensichtlich hat das Amtsgericht bei seiner Wertung verkannt, dass eine Bandenabrede auch durch schlüssiges Verhalten erfolgen kann (st.Rspr., vgl. nur BGH, Urt. v. 26.10.2023 – 5 StR 257/23 bei juris = BeckRS 2023, 32472; 29.09.2021 – 2 StR 313/20 bei juris = BeckRS 2021, 40957; 16.06.2005 – 3 StR 492/04 = BGHSt 50, 160 = NJW 2005, 2629 = StV 2005, 555 = wistra 2005, 430 = BGHR BtMG § 30 Abs 1 Nr 1 Bande 6 = BGHR BtMG § 30 Abs 1 Nr 1 Bande 7 = NStZ 2006, 174; Beschl. v. 08.11.2022 – 2 StR 102/22 = StV 2023, 474 = NStZ 2023, 683).
(2) Dass die Berufungskammer nach eigener Prüfung aufgrund durchgeführter Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass der Verbrechensvorwurf entfallen sei, ergibt sich weder aus dem Protokoll noch aus dem Einstellungsbeschluss, der bei einer derartigen Verfahrenssituation zumindest einer Begründung dahingehend bedurft hätte, weshalb der ursprüngliche Verbrechensvorwurf nicht mehr aufrechtzuerhalten war.
(3) Der Verbrechensvorwurf war auch nicht etwa wegen des Verschlechterungsverbots nach § 331 Abs. 1 StPO obsolet. Zwar hat allein der Angeklagte gegen die Verurteilung wegen des Vergehens des Diebstahls gemäß § 242 Abs. 1 StGB Berufung eingelegt. Das Landgericht hätte aber aufgrund seiner Kognitionspflicht den Sachverhalt auch unter dem Gesichtspunkt eines Verbrechens, das weiterhin im Raum stand, aufklären müssen, zumal das Verbot der reformatio in peius sich ausschließlich auf den Rechtsfolgenausspruch bezieht, einer Verschärfung des Schuldspruchs aber von vornherein nicht entgegensteht (st.Rspr., vgl. nur BGH, Beschl. v. 15.09.2023 – 5 StR 134/23 bei juris = BeckRS 2023, 25926; 01.08.2023 – 5 StR 174/23 = NStZ 2023, 735; 06.06.2023 – 4 StR 85/23 = NStZ-RR 2023, 250).“