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StPO I: Wirksamkeit der Revisionsrücknahme, oder: Prozessuale Handlungsfähigkeit?

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Und heute StPO- ein bisschen quer durch den Garten der StPO.

Ich beginne im Bereich „Revision“ mit einer Entscheidung des BGH, nämlich dem BGH, Beschl. v. 29.04.2024 – 5 StR 559/23 –, der sich noch einmal zur Rücknahme der Revision äußert.

Das LG hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtete sich die vom Beschuldigten fristgemäß eingelegte Revision. Mit Fax vom 19.05.2022 schrieb der Beschuldigte seinem Verteidiger: „Ich ziehe die Revision zurück! Bitte teilen Sie dies dem Gericht mit.“ Der Verteidiger nahm daraufhin mit dem LG am 23.05.2022 zugegangenem Schreiben vom 20.05.2022 „in Absprache mit meinem Mandanten“ die Revision zurück. Die Strafkammervorsitzende übersandte unter dem 24.05.2022 eine Kopie der Rücknahmeerklärung an den Beschuldigten. Am 27.06.2022 beschloss das LG die Kostenfolge nach § 473 Abs. 1 StPO.

Inzwischen hat der Verurteilte die Wirksamkeit der Revisionsrücknahme bestritten. Der BGH hat die Wirksamkeit der Rücknahme festgestellt:

„1. Der Beschuldigte hat die Revision durch seinen Verteidiger wirksam zurückgenommen (§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Er war bei der entsprechenden Auftragserteilung seines ausdrücklich von ihm ermächtigten Verteidigers (§ 302 Abs. 2 StPO) verhandlungsfähig. Zwar stand der Beschuldigte unter Betreuung. Es bedurfte ausweislich des vom Verteidiger vorgelegten Betreuerausweises aber für die Wirksamkeit von Willenserklärungen gegenüber Behörden nicht der Einwilligung des Betreuers. Der Beschuldigte war zudem prozessual handlungsfähig.

a) Die prozessuale Handlungsfähigkeit setzt voraus, dass ein Angeklagter oder Beschuldigter bei Abgabe einer Rechtsmittelrücknahmeerklärung in der Lage ist, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen und bei hinreichender Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung die Bedeutung seiner Erklärung zu erkennen. Dies wird – wie etwa § 415 Abs. 1 und 3 StPO für das Sicherungsverfahren gegen einen Schuldunfähigen belegen – allein durch eine Geschäfts- oder Schuldunfähigkeit nicht notwendig ausgeschlossen. Vielmehr ist von einer Unwirksamkeit der Rücknahmeerklärung erst auszugehen, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Rechtsmittelführer nicht dazu in der Lage war, die Bedeutung der von ihm abgegebenen Erklärung zu erfassen. Verbleiben Zweifel an seiner prozessualen Handlungsfähigkeit, geht dies zu seinen Lasten (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. März 2022 – 3 StR 29/22; vom 8. Oktober 2019 – 1 StR 327/19; vom 20. Februar 2017 – 1 StR 552/16, NStZ 2017, 487, 488 jeweils mwN).

b) Nach diesen Maßstäben liegen keine Anhaltspunkte vor, die Zweifel daran begründen könnten, der Beschuldigte sei sich zum Zeitpunkt der Rechtsmittelrücknahme nicht der Bedeutung und Tragweite der Erklärung bewusst gewesen. Dies stellt der Senat im Wege des Freibeweises auf Grundlage des Akteninhalts und der beim Verteidiger zu den Umständen der Rücknahme eingeholten Stellungnahme fest.

Zwar folgt aus den Urteilsgründen, dass der psychiatrische Sachverständige beim Beschuldigten eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert hat und sich offensichtlich wahnhaft geprägte Gedankengänge auch noch in den Einlassungen des Beschuldigten in der Hauptverhandlung offenbart haben. Dies ist für die Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung jedoch nicht von maßgeblicher Bedeutung (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Februar 2017 – 1 StR 552/16, NStZ 2017, 487, 488 mwN). Vielmehr zeigt schon das Schreiben vom 25. März 2022, mit dem er zunächst selbst die Revision einlegte und in dem er die „Gesamtanfechtung“ des Urteils und Verletzung seines Notwehrrechts nach § 32 StGB anführte, ebenso wie sein Aufforderungsschreiben an seinen Verteidiger vom 19. Mai 2022, dem Gericht die Rücknahme mitzuteilen, dass der Beschuldigte über Förmlichkeiten informiert war und entsprechend handelte. Der Verteidiger hat zudem in seiner Stellungnahme erklärt, es habe keinen Hinweis auf eine vorgelegene Geschäftsunfähigkeit des Beschuldigten gegeben. Dass dieser bei Abfassen seines Schreibens vom 19. Mai 2022 infolge der schizophrenen Erkrankung in seiner Willensentschließung und Willensbetätigung beschränkt war, ist danach nicht ersichtlich.“

Die vom BGH angesprochenen Fragen muss man im Auge haben 🙂 .

StPO I: Die Wirksamkeit der Revisionsrücknahme, oder: Hin und her, vor und zurück.

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Und dann heute gleich noch einmal ein StPO-Tag. Heute dann aber mit drei BGH-Entscheidungen.

Zunächst hier der BGH, Beschl. v. 16.12.2021 – 1 StR 285/21 -, der noch einmal zur Wirksamkeit einer Revisionsrücknahme Stellung nimt.

Der Angeklagte ist vom LG wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden. Der Verteidiger legt Revision ein. Danach schreibt der Angeklagte selbst am 18.11.2021 dem BGH, er würde das Rechtsmittel zurücknehmen, wenn er ab dem nächsten Monat seine Therapie beginnen könne. Auf den Hinweis des BGH, dass eine Rücknahme nur ohne Bedingung erklärt werden könne, schreibt der Angeklagte am 02.12.2021, dass er zwar gestern auf Rat seines Verteidigers diesem gegenüber schriftlich erklärt habe, er wolle die Revision durchführen. Inzwischen sei er aber nach reiflicher Überlegung zu dem endgültigen Entschluss gekommen, das Rechtsmittel doch zurückzunehmen. Er halte also nicht länger an seiner anderslautenden Erklärung vom Vortag fest.

Mit am 07.12.2021 beim BGH eingegangenem Schreiben vom selben Tage leitete der Verteidiger des Angeklagten dem BGH die vom Angeklagten am 01.12.2021 abgegebene Erklärung zu, auf der eine weitere (handschriftliche) Erklärung des Angeklagten vom 03.12.2021 aufgebracht ist, mit der dieser mitteilt, dass er am 03.12.2021 nochmals mit seinem Verteidiger gesprochen habe und er „nunmehr unwiderruflich“ erkläre, dass die Revision nicht zurückgenommen werden solle; sein Schreiben vom 02.12.2021 und die darin erklärte Rücknahme seien „gegenstandslos“. Mit weiterem Schreiben vom 03.12.2021, beim BGH eingegangen am 10.12.2021, teilte der Angeklagte mit, er habe das Schreiben vom 02.12.2021 im Zustand der Verwirrung und Panik verfasst, weil er gedacht habe, das Revisionsverfahren stehe einer Therapie entgegen.

Der BGH hat die Erklärung vom 02.12.2021 als wirksame Rücknahme des Revision angesehen:

„2. Der Angeklagte hat seine Revision mit Schreiben vom 2. Dezember 2021 wirksam zurückgenommen ( § 302 Abs. 1 StPO ). Da dies allerdings vom Angeklagten durch seine nachfolgenden Schreiben in Zweifel gezogen wird, stellt der Senat die eingetretene Rechtsfolge durch deklaratorischen Beschluss fest (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Juni 2021 ‒ 2 StR 27/21 Rn. 2 und vom 20. Februar 2017 ‒ 1 StR 552/16 Rn. 8 mwN).

Der Angeklagte hat seine Revision mit am 6. Dezember 2021 beim Bundesgerichtshof eingegangenem Schreiben vom 2. Dezember 2021 wirksam zurückgenommen. Mit der von ihm ‒ unbedingt abgegebenen ‒ Erklärung vom 2. Dezember 2021 hat er ausdrücklich und unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er das Rechtsmittel zurücknimmt. Diese Rücknahmeerklärung ist unwiderruflich und unanfechtbar ( BGH, Beschluss vom 8. Juni 2021 ‒ 2 StR 27/21 Rn. 3 mwN; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Aufl., § 302 Rn. 9 mwN) und hat daher trotz der nachfolgenden Erklärungen des Angeklagten, er wolle an seinem Rechtsmittel festhalten, sein Schreiben vom 2. Dezember 2021 sei „gegenstandslos“, Bestand. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte bei Abgabe der Rücknahmeerklärung nicht in der Lage gewesen sein könnte, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, seinen Willen frei zu bilden und zu erklären sowie die Bedeutung seiner Erklärung zu verstehen, liegen ‒ auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des Angeklagten in seinem am 10. Dezember 2021 beim Bundesgerichtshof eingegangenen Schreiben vom 3. Dezember 2021 ‒ nicht vor; der Inhalt des Schreibens des Angeklagten vom 2. Dezember 2021, das dieser nach einem Gespräch mit seinem Verteidiger über die Frage der Revisionsrücknahme verfasst hat, lässt erkennen, dass der Angeklagte seine Entscheidung über die Revisionsrücknahme nach einer gründlichen Abwägung getroffen hat.“

StPO I: Zwei Verteidiger – eine Revisionsrücknahme, oder: Wirksamkeit der Rücknahme?

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Heute will ich dann drei verfahrensrechtliche Entscheidungen des BGH, alle in Zusammenhang mit der Revision, vorstellen.

Als Opener kommt hier der BGH, Beschl. v. 08.10.2019 – 1 StR 327/19, in dem der BGH zur Wirksamkeit einer Revisionsrücknahme Stellung nimmt. Das LG hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt. Gegen dieses Urteil haben sowohl der Wahlverteidiger am 20.03.2019 als auch die Pflichtverteidigerin des Angeklagten am 21.03.2019 fristgerecht Revision eingelegt. Der Wahlverteidiger hat die von ihm eingelegte Revision mit der näher ausgeführten Sachrüge mit Schriftsatz vom 20.05.2019 begründet.

Mit Schriftsatz vom 28.05.2019, eingegangen bei Gericht am 29.05.2019, hat die Pflichtverteidigerin des Angeklagten erklärt, dass sie die Revision „nach ausführlicher Rücksprache“ mit dem Angeklagten zurücknehme. Dieser Rücknahme hat der Wahlverteidiger des Angeklagten am 31.05.2019 widersprochen. Er erachtet die Rücknahme für unwirksam, weil der Angeklagte unter Betreuung stand, die Betreuerin der Rücknahme nicht zugestimmt habe und der Angeklagte im Zeitpunkt der Rücknahme nicht verhandlungsfähig gewesen sei.

Der BGH stellt die Wirksamkeit der Revisionsrücknahme der Pflichtverteidigerin fest:

„Die Revision des Angeklagten wurde durch seine Pflichtverteidigerin wirksam zurückgenommen (§ 302 Abs. 1 StPO). Da dies in Zweifel steht, stellt der Senat die eingetretene Rechtsfolge durch deklaratorischen Beschluss fest (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Februar 2017 – 1 StR 552/16 Rn. 8 mwN).

1. Die Verteidigerin war zur Rechtsmittelrücknahme ermächtigt. Im Zeitpunkt der Abgabe der Rücknahmeerklärung lag die gemäß § 302 Abs. 2 StPO erforderliche ausdrückliche Ermächtigung des Angeklagten vor. Für diese ist eine bestimmte Form nicht vorgeschrieben, so dass sie auch mündlich und telefonisch erteilt werden kann. Für ihren Nachweis genügt die anwaltliche Versicherung des Verteidigers (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Februar 2017 – 1 StR 552/16 Rn. 9 und vom 15. April 2015 – 1 StR 112/15 Rn. 10).

Eine solche anwaltliche Versicherung enthielt die Erklärung der Verteidigerin vom 28. Mai 2019. Die Rücknahme erfolgte „nach ausführlicher Rücksprache“ mit dem Mandanten, so dass die Verteidigerin zur Rücknahme ausdrücklich ermächtigt war.

2. Auch die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten unterliegt keinem Zweifel, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt keine Bedenken gegen die Wirksamkeit der Ermächtigung zur Rücknahme bestehen.

a) Der Wirksamkeit der Rücknahme steht nicht entgegen, dass der Angeklagte unter Betreuung stand (vgl. insoweit auch BGH, Beschluss vom 17. Februar 2011 – 4 StR 691/10 Rn. 9). Ausweislich des vom Wahlverteidiger vorgelegten Betreuerausweises bedarf der Angeklagte für die Wirksamkeit von Willenserklärungen gegenüber Behörden nicht der Einwilligung der gesetzlichen Betreuerin.

b) Auch bestehen an der prozessualen Handlungsfähigkeit des Angeklagten keine Zweifel. Dies stellt der Senat im Wege des Freibeweises auf Grundlage des Akteninhalts fest (BGH, Beschluss vom 20. Februar 2017 – 1 StR 552/16 Rn. 11 mwN).

aa) Ein Angeklagter muss bei Abgabe einer Rechtsmittelrücknahmeerklärung bzw. der Ermächtigung hierzu in der Lage sein, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen und bei hinreichender Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung die Bedeutung seiner Erklärung zu erkennen. Dies wird allein durch eine Geschäfts- und Schuldunfähigkeit des Angeklagten nicht notwendig ausgeschlossen. Vielmehr ist von einer Unwirksamkeit der Rücknahmeerklärung erst auszugehen, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Rechtsmittelführer nicht in der Lage war, die Bedeutung der von ihm abgegebenen Erklärung zu erfassen (BGH, Beschlüsse vom 20. Februar 2017 – 1 StR 552/16 Rn. 12 und vom 15. Dezember 2015 – 4 StR 491/15 Rn. 6; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 302 Rn. 8a mwN). Verbleiben Zweifel an seiner prozessualen Handlungsfähigkeit, geht dies zu Lasten des Angeklagten (BGH, Beschlüsse vom 20. Februar 2017 – 1 StR 552/16 Rn. 12 und vom 11. Oktober 2007 – 3 StR 368/07 Rn. 6 mwN).

bb) Nach diesen Maßstäben hat der Senat keine Zweifel daran, dass der Angeklagte bei Abgabe der Ermächtigung zur Rücknahmeerklärung verhandlungs- und damit prozessual handlungsfähig war. Das sachverständig beratene Landgericht hat beim Angeklagten zwar eine leichte Intelligenzminderung und eine undifferenzierte, zu den Tatzeiten vollständig remittierte Schizophrenie festgestellt, ist aber von einer vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten ausgegangen. Weder die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten noch seine Steuerungsfähigkeit seien im Tatzeitraum aufgehoben gewesen und es seien sowohl vom Angeklagten selbst als auch von den Zeugen keinerlei Tatsachen geschildert worden, die eine fehlende oder eingeschränkte Willensfreiheit begründen könnten.

c) Die durch die Pflichtverteidigerin erklärte Rechtsmittelrücknahme ist daher wirksam und als Prozesshandlung weder widerruflich noch anfechtbar. Sie erstreckt sich auch auf die vom Wahlverteidiger des Angeklagten eingereichte Rechtsmittelerklärung (BGH, Beschluss vom 7. Juli 1995 – 3 StR 205/95, BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 15).“