Die zweite Entscheidung des BVerfG, der BVerfG, Beschl. v. 09.01.2023 – 2 BvR 2697/18 -, befasst sich noch einmal mit der Erforderlichkeit der Erhebung einer Anhörungsrüge vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde und dem Gegenbeweis nach § 418 ZPO.
Das BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde verworfen und dabei zu den beiden Punkten wie folgt Stellung genommen:
„Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie mangels erhobener Anhörungsrüge gemäß § 33a StPO dem Grundsatz der Subsidiarität nicht gerecht wird.
I.
Der in § 90 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt, dass Beschwerdeführer alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>; 112, 50 <60>). Das kann auch bedeuten, dass Beschwerdeführer zur Wahrung des Subsidiaritätsgebots gehalten sind, im fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung mit den gegebenen Rechtsbehelfen, insbesondere mit einer Anhörungsrüge, anzugreifen. Dies gilt selbst dann, wenn sie im Rahmen der ihnen insoweit zustehenden Dispositionsfreiheit mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen wollen (vgl. BVerfGE 126, 1 <17 f.>), durch den fachgerichtlichen Rechtsbehelf aber die Möglichkeit wahren, dass bei Erfolg der Anhörungsrüge in den vor den Fachgerichten gegebenenfalls erneut durchzuführenden Verfahrensschritten auch andere Grundrechtsverletzungen, durch die sie sich beschwert fühlen, beseitigt werden (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 Rn. 27>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. April 2005 – 1 BvR 644/05 -, Rn. 10).
Die Verweisung auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde steht allerdings unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit einer anderweitigen prozessualen Möglichkeit zur Abhilfe (vgl. BVerfGE 132, 99 <117 Rn. 45>). Zur Vermeidung der Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, in der sich der Beschwerdeführer nicht auf eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG beruft, muss er eine Anhörungsrüge oder den sonst gegen eine Gehörsverletzung gegebenen Rechtsbehelf nur dann ergreifen, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten ist, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 f. Rn. 28>).
II.
So liegt der Fall hier. Soweit der Beschwerdeführer rügt, das Landgericht habe unzulässig im Rahmen der – vorgelagerten – Prüfung der ordnungsgemäßen Zustellung die Anforderungen an die Erschütterung der Beweiskraft der Postzustellungsurkunde nach § 418 Abs. 2 ZPO mit dem – die nachgelagerte Frage der Wiedereinsetzung betreffenden – Glaubhaftmachungsmaßstab des § 45 Abs. 2 StPO vermengt und in der Folge seine Beweisangebote unzulässigerweise abgelehnt, hätte es für einen vernünftigen Verfahrensbeteiligten nahegelegen, eine Anhörungsrüge zum Landgericht zu erheben.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt die Nichtberücksichtigung eines als sachdienlich und erheblich angesehenen Beweisangebots dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfGE 69, 141 <144>; 105, 279 <311>). Auch in Verfahren, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, darf die Nichtberücksichtigung eines Beweisantrags nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen, sondern muss eine Stütze im Prozessrecht finden (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. September 2009 – 1 BvR 3501/08 -, juris, Rn. 13). Bei einem Einspruch gegen den Strafbefehl ist vom Gericht zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob die Einspruchsfrist des § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO gewahrt ist. Dabei ist es von Verfassungs wegen geboten, dass das Gericht sich mit besonderer Sorgfalt die erforderliche Überzeugung vom Beginn der Einspruchsfrist verschafft (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Oktober 2020 – 2 BvR 554/20 -, juris, Rn. 31, 34 m.w.N.).
2. Hiernach liegt eine Gehörsverletzung durch das Landgericht jedenfalls nahe.
Der Beschwerdeführer beruft sich darauf, dass seine Beweisangebote betreffend den Beginn der Einspruchsfrist unter dem Gesichtspunkt der Glaubhaftmachung durch das Landgericht als unstatthaft erachtet worden seien, während tatsächlich gemäß § 418 Abs. 2 ZPO Beweis über den Zustellungszeitpunkt hätte erhoben werden müssen; daher sei das Landgericht unter Verkennung des fachprozessualen Maßstabs davon ausgegangen, dass die Einspruchsfrist am 17. April 2018 in Gang gesetzt worden und der Einspruch vom 9. Mai 2018 somit verfristet gewesen sei. In der Sache macht der Beschwerdeführer also die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots unter eklatantem Verstoß gegen das Prozessrecht geltend. Diese Rüge dürfte zutreffen.
a) Wird ein Strafbefehl nicht ordnungsgemäß zugestellt, wird die Einspruchsfrist nicht in Gang gesetzt. Die Frage des Zustellungszeitpunktes ist daher der Frage einer möglichen Verfristung und anschließenden Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist vorgelagert. Bei der Prüfung, ob einem Beschuldigten ein Strafbefehl wirksam zugestellt wurde, sind die Fachgerichte gehalten, den Grundsatz rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung zu beachten. Sie dürfen bei der Anwendung und Auslegung der prozessrechtlichen Vorschriften, die die Gewährung rechtlichen Gehörs sichern sollen, keine überspannten Anforderungen stellen. Dies gilt insbesondere, wenn – wie hier – der erste Zugang zu Gericht infrage steht (vgl. BVerfGE 37, 100 <101 f.>; vgl. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31. Juli 2007 – Vf. 16-VI-07 -, juris, Rn. 19).
Gemäß § 418 Abs. 1 ZPO begründen öffentliche Urkunden wie die Postzustellungsurkunde zwar vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, also insbesondere den Umstand der Zustellung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Allerdings lässt § 418 Abs. 2 ZPO den Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen zu. Dieser Gegenbeweis lässt sich aber nicht durch die bloße Behauptung führen, das betreffende Schriftstück nicht erhalten zu haben, weil es für die Wirksamkeit der Zustellung nicht darauf ankommt, ob und wann der Adressat das Schriftstück seinem Briefkasten entnommen und ob er es tatsächlich zur Kenntnis genommen hat. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen erfordert vielmehr den Beweis eines anderen als des beurkundeten Geschehensablaufs, der damit ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt. Hierfür bedarf es einer substantiierten Darlegung der Umstände, die gegen die Richtigkeit des Inhalts der öffentlichen Urkunde sprechen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Februar 2002 – 2 BvR 2017/01 -, Rn. 4; Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31. Juli 2007 – Vf. 16-VI-07 -, juris, Rn. 23 m.w.N.). Hinreichend substantiierte Darlegungen können – selbst wenn sie die Beweiskraft der Zustellungsurkunde nicht beseitigen – den Gerichten Anlass bieten, weitere Nachforschungen anzustellen (vgl. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31. Juli 2007 – Vf. 16-VI-07 -, juris, Rn. 25; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Februar 2002 – 2 BvR 2017/01 -, Rn. 7). Kommt ein Gericht zu dem Ergebnis, dass der volle Beweis für den Zugang eines Schriftstücks mit den vorgelegten Mitteln der Glaubhaftmachung nicht erbracht ist, muss es darauf hinweisen und den Betroffenen Gelegenheit geben, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen; sodann hat es – auf Antrag oder von Amts wegen – über die behaupteten Umstände Beweis zu erheben (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZB 39/19 -, juris, Rn. 18 zur fristgerechten Einreichung eines Berufungsschriftsatzes).
b) Dies zugrunde gelegt, liegt es nahe, dass die Rechtsanwendung des Landgerichts keine Stütze im Prozessrecht mehr findet.
Zwar begegnet es keinen Bedenken, dass das Landgericht im Ausgangspunkt angenommen hat, dass mit der Postzustellungsurkunde zunächst der volle Beweis über die Zustellung des Strafbefehls am 17. April 2018 erbracht gewesen sei. Der Beschwerdeführer hatte hierzu jedoch vorgetragen, dass durch eine Vernehmung seines Bruders sowie des Postzustellers die Unrichtigkeit der in der Postzustellungsurkunde bezeugten Tatsachen bewiesen werden könne, und eine entsprechende Beweiserhebung beantragt. Mit seinem Tatsachenvortrag zum Ablauf der Zustellung und seinem diesbezüglichen Beweisangebot hat der Beschwerdeführer die Frage nach der Erschütterung der Postzustellungsurkunde und dem darin bezeugten Zustellzeitpunkt aufgeworfen. Nach den unter a) ausgeführten Maßstäben wäre diesem Tatsachenvortrag gemäß § 418 Abs. 2 ZPO im Rahmen der Frage, wann dem Beschwerdeführer der Strafbefehl zugegangen ist, weiter nachzugehen beziehungsweise hierüber Beweis zu erheben gewesen, sofern dieser Vortrag hinreichend substantiiert und das angebotene Beweismittel erheblich war; insbesondere gilt insoweit keine Beschränkung auf präsente Beweismittel.
Der Umstand, dass das Landgericht als Zeitpunkt für die Zustellung des Strafbefehls und damit für den Fristbeginn ohne gesonderte Begründung den 17. April 2018 feststellt, legt nahe, dass das Landgericht den dargestellten Prüfungsmaßstab verkannt hat. Stattdessen prüft es das Vorbringen des Beschwerdeführers ausschließlich als Wiedereinsetzungsantrag am Maßstab des § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO; lediglich im Rahmen dieser Prüfung kommt es auf § 418 Abs. 2 ZPO zu sprechen. Nach seiner Auffassung habe der Beschwerdeführer den vollen Gegenbeweis nicht erbracht, da es an einem geeigneten Mittel der Glaubhaftmachung fehle. Es sei nicht Sache des Gerichts, von sich aus Zeugen zu vernehmen oder vernehmen zu lassen. Wie ausgeführt, ist der Beschwerdeführer hinsichtlich des Gegenbeweises zum in der Postzustellungsurkunde genannten Zustellzeitpunkt jedoch nicht auf präsente Beweismittel beschränkt. Sofern der Tatsachenvortrag hinreichend substantiiert und erheblich ist, hat das Gericht dem Beweisangebot nachzugehen.
c) Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf der naheliegenden Verletzung des Prozessgrundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. zu diesem Erfordernis BVerfGE 86, 133 <147>; 89, 381 <392>; 92, 158 <184 f.>). Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht, sofern es den zutreffenden prozessrechtlichen Maßstab zugrunde gelegt hätte, das Vorbringen des Beschwerdeführers als hinreichend substantiiert und erheblich berücksichtigt und eine Vernehmung seines Bruders durchgeführt hätte.“