Die zweite Entscheidung kommt mit dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 29.09.2002 – 2 W 47/22 – aus dem Zivilrecht. Ergangen ist er in einem Verfahren, in dem die Parteien um Schadensersatzansprüche wegen der Beteiligung der Beklagten am sog. Lkw-Kartell streiten. Beim LG Stuttgart fallen solche Streitigkeiten u. a. in die Zuständigkeit der 53. Zivilkammer.
Die Klägerin hat den lehnt den Vorsitzenden der 53. Zivilkammer, Vorsitzenden Richter am Landgericht X, u.a. mit der Begründung abgelehtn, dass dessen Ehefrau von Mai 2011 bis Oktober 2021 bei der Beklagten als Manager, später als Senior Manager angestellt und zum Oktober 2021 zur D. in eine Führungsposition im Bereich Compliance gewechselt sei. Die D. sei gegenüber der Beklagten im Innenverhältnis zur Freistellung von den streitgegenständlichen Schadensersatzansprüchen verpflichtet. Der abgelehnte Richter habe zudem gegen seine Pflicht zur rechtzeitigen Offenbarung dieser Umstände verstoßen. In seiner dienstlichen Äußerung hat der abgelehnte Richter die berufliche Tätigkeit seiner Ehefrau bestätigt.
Das Befangenheitsgesuch gegen den Vorsitzenden Richter veranlasste den Richter am Landgericht Y, der ebenfalls der 53. Zivilkammer angehört, zu dem Hinweis, dass seine Partnerin bis 30.11.2021 im Personalbereich der Beklagten tätig war und im Anschluss daran im Personalbereich der D. Die Klägerin sieht hierin einen Grund zur Besorgnis der Befangenheit und lehnt auch den Richter am Landgericht Y ab.
Das Landgericht hat die Ablehnungsgesuche zurückgewiesen. Dagegen die sofortige Beschwerde der Klägerin, die Erfolg hatte. Wegen der Einzelheiten der Begründung verweise ich auf den verlinkten Volltext. Das OLG hat seiner Entscheidung folgende Leitsätze gegeben:
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- Die Besorgnis der Befangenheit ist begründet, wenn die Ehegattin oder feste Partnerin des abgelehnten Richters bei einer Partei des Rechtsstreits beschäftigt ist und bei vernünftiger Betrachtungsweise aus Sicht des ablehnenden Klägers die Befürchtung besteht, dass sie sich aufgrund ihrer gehobenen beruflichen Tätigkeit in besonderem Maße mit den Interessen und Zielen des Unternehmens identifiziert, deshalb bei Rechtsstreitigkeiten von herausragender Bedeutung für das Unternehmen dessen Position einnimmt oder sich mit diesem solidarisiert, dies auch ihrem Ehegatten – dem abgelehnten Richter – vermittelt und aufgrund der besonderen Nähebeziehung des Paares dessen Meinungsbildung zugunsten der Partei bewusst oder unbewusst beeinflusst, sodass die Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Richters nicht mehr gewährleistet ist.
- Ist oder war die Ehefrau bzw. feste Partnerin eines Richters bei einer Partei beschäftigt, hat der Richter dies den Parteien des Rechtsstreits vor oder spätestens bei der ersten richterlichen Handlung anzuzeigen.
Interessant und darauf will ich hier dann doch konkret hinweise ist m.E. dann das, was das OLG zur Selbstanzeige ausführt, nämlich:
„dd) Darüber hinaus kann die Klägerin als ablehnende Partei aber auch deshalb berechtigten Anlass für Zweifel an der Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters haben, weil dieser die Verfahrensbeteiligten zunächst nicht auf das Beschäftigungsverhältnis seiner Ehefrau bei der Beklagten bzw. der D. hingewiesen hat.
(1) Gemäß § 48 ZPO hat das für die Erledigung eines Ablehnungsgesuchs zuständige Gericht auch dann zu entscheiden, wenn ein Richter von einem Verhältnis Anzeige macht, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte. Aus dem Sinn und Zweck dieser Bestimmung bzw. ihrer Funktion im Zusammenhang mit den Verfahrensgrundrechten aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG und Artikel 103 Absatz 1 GG folgt eine Verpflichtung des Richters zur Anzeige solcher Verhältnisse (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juni 1993 – 1 BvR 878/90, juris Rn. 28 ff.). Die in § 48 ZPO vorgesehene Anzeige bestimmter Gründe durch den Richter dient der Gewährleistung des Verfassungsrechts der Parteien, nicht vor einen Richter gestellt zu werden, dem es an der gebotenen Neutralität fehlt (BGH, Urteil vom 15. Dezember 1994 – I ZR 121/92, juris Rn. 32).
Mit Blick auf einen möglichen Ablehnungsgrund ist eine Pflicht zur Anzeige gegeben, wenn ein Ablehnungsgesuch nach den Maßstäben des § 42 ZPO begründet sein könnte. Offen zu legen sind alle Umstände, die Zweifel an der Unparteilichkeit oder Unabhängigkeit des Richters wecken können (OLG München, Urteil vom 26. März 2014 – 15 U 4783/12, juris Rn. 15; OLG Düsseldorf, Urteil vom 11. Oktober 2017 – VI-U (Kart) 9/17, juris Rn. 81). Die Anzeige hat vor oder spätestens bei der ersten richterlichen Handlung zu erfolgen (Vollkommer in: Zöller, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 34. Auflage 2022, § 48 ZPO Rn. 3). Ob und gegebenenfalls wann ein materieller Grund für die Annahme der Befangenheit eines Richters gegeben ist und ob eine Befangenheit tatsächlich besteht, ist für die Verpflichtung eines Richters, objektive Umstände anzuzeigen, welche die Besorgnis der Befangenheit aus Sicht der Parteien nahelegen können, grundsätzlich ohne Belang (BGH, Urteil vom 7. Mai 2009 – RiZ (R) 1/08, juris Rn. 38).
Allerdings hat der Richter nicht auf „alles Mögliche“, sondern nur auf Umstände hinzuweisen, von denen er annehmen muss, sie könnten bei vernünftiger Betrachtung Zweifel an seiner Unbefangenheit und Unparteilichkeit erwecken (Kammergericht, Beschluss vom 7. Juli 2010 – 20 SchH 2/10, juris Rn. 20; OLG Hamm, Beschluss vom 5. Oktober 2011 – I-8 SchH 1/11, juris Rn. 22). Wie bei der Beurteilung nach § 42 ZPO ist unbeachtlich, ob der Richter sich tatsächlich befangen fühlt, da es darum geht, bereits den bösen Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit und Objektivität zu vermeiden (OLG München, Urteil vom 26. März 2014 – 15 U 4783/12, juris Rn. 15). Die Anzeigepflicht gewährleistet, dass die Parteien von etwaigen, ihnen unbekannten Ablehnungsgründen Kenntnis erlangen und sich zu ihnen äußern können (BGH, Urteil vom 15. Dezember 1994 – I ZR 121/92, juris Rn. 33). Zudem stärkt die Hinweispflicht das Vertrauen der Rechtsuchenden in die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Gerichts.
Die pflichtwidrig unterlassene Selbstanzeige kann für sich allein oder in der Zusammenschau mit weiteren Umständen die Besorgnis der Befangenheit begründen (Vossler in: Beck’scher Onlinekommentar zur ZPO, 45. Ed. 01. Juli 2022, § 48 ZPO Rn. 7). Dies gilt allerdings nicht für Umstände, die eindeutig und klar ungeeignet sind, die Besorgnis der Befangenheit des Richters zu begründen (Kammergericht, Beschluss vom 7. Juli 2010 – 20 SchH 2/10, juris Rn. 20). Da die Abgrenzung zu Gründen, die eine Befangenheit nahelegen, nicht immer klar ist, wird eine einfache Fehleinschätzung im Einzelfall nicht dazu führen, dass aus der Sicht einer Partei durch den unterbliebenen Hinweis Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln (BGH, Urteil vom 4. März 1999 – III ZR 72/98, juris Rn. 14). Anders liegt es hingegen, wenn sich dem Richter eine Offenlegungspflicht in der konkreten Situation aufdrängen musste (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Januar 2019 – I ZB 46/18, juris Rn. 23).
(2) Nach diesen Maßstäben hat der abgelehnte Richter durch den nicht rechtzeitig (vor oder spätestens bei der ersten richterlichen Handlung) erteilten Hinweis der ablehnenden Partei Anlass gegeben, an seiner Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit zu zweifeln.
Der Umstand, dass die Ehefrau langjährig bei der Beklagten beschäftigt war und weiterhin bei der durch die Konzernaufspaltung hervorgegangenen D. beschäftigt ist, löste die Verpflichtung des abgelehnten Richters zur Anzeige dieser Umstände aus. Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ergibt sich, dass die berufliche Tätigkeit eines Ehegatten die Besorgnis der Befangenheit im Einzelfall begründen kann (BGH, Beschluss vom 19. November 2020 – V ZB 59/20, juris Rn. 10). Soweit der abgelehnte Richter selbst die relevanten Umstände in seiner dienstlichen Äußerung als „völlig unerheblich“ bezeichnet hat, ist diese Einschätzung nicht nachvollziehbar. Da bei einer Beschäftigung der Ehefrau bei einer Partei die Besorgnis der Befangenheit von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls abhängt, musste sich dem abgelehnten Richter die ernsthafte Möglichkeit aufdrängen, dass das für die Entscheidung über die Ablehnung zuständige Gericht auf eine entsprechende Anzeige gemäß § 48 ZPO die Besorgnis der Befangenheit für begründet erklären könnte.“