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Prozesskostenhilfe für den Nebenklägerbeistand, oder: Privilegierter/normaler Nebenkläger

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Und im zweiten Posting dann etwas zur Prozesskostenhilfe für den Nebenklägerbeistand. Dazu äußert sich der OLG Schleswig, Beschl. v. 08.02.2022 – 1 Ws 42/22.

Der Nebenklägerbeistand hatte in einem Sicherungsverfahren beantragt, dem Nebenkläger Prozesskostenhilfe für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zu gewähren. Das LG hat den Antrag abgelehnt. Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte beim OLG Erfolg:

„Die gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthafte Beschwerde ist zulässig und auch begründet.

Die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein hat in ihrer Zuschrift vom 3. März 2022 ausgeführt:

„Der Antrag ist – da für den Beschwerdeführer günstiger – als Antrag auf Bestellung eines Rechtsanwalts als Beistand gemäß § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO auszulegen. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, die u.a. eine zusätzliche Bedürftigkeitsprüfung voraussetzt, kommt nämlich nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen des § 397a Abs. 1 StPO nicht vorliegen. Der Anspruch auf Bestellung eines anwaltlichen Beistands besteht auch dann, wenn zwar die Anklage nicht auf ein versuchtes Tötungsdelikt gestützt wird, aber die wenn auch nur geringe Möglichkeit besteht, dass der Angeklagte ein solches Delikt begangen hat und seine Verurteilung deswegen in Betracht kommt (BGH, Beschluss vom 12. Mai 1999 – 1 ARs 4 – 99, NJW 1999, 2380). So liegt der Fall hier. Nachdem die Staatsanwaltschaft in der Abschlussverfügung einen Rücktritt vom versuchten Totschlag angenommen hat (Bl. 2 d. SB), geht die Antragsschrift unter Ziffer 5 zwar lediglich von einer gefährlichen Körper-verletzung aus (Bl. 7 d. SB). Gleichwohl verbleibt die Möglichkeit, dass die Frage des Rücktritts nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme anders bewertet wird und infolgedessen ggf. auch ein versuchter Totschlag als Anlasstat in Betracht kommen könnte.

Bereits vor diesem Hintergrund ist die Beschwerde begründet.

Im Übrigen wäre die Beschwerde aber auch begründet, wenn der Antrag – entsprechend der Auslegung des Landgerichts Lübeck – als Antrag auf Gewährung von Prozesskosten-hilfe für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts verstanden würde.

Soweit sich der Beschluss des Landgerichts Lübeck angesichts der erlittenen Verletzungen des Beschwerdeführers ausschließlich damit auseinandersetzt, ob dieser seine Interessen selbst ausreichend wahrnehmen kann, ist anzumerken, dass es sich insoweit weniger um eine Frage der Unfähigkeit als der Unzumutbarkeit eigener Interessenwahrnehmung handeln dürfte, die als solche insbesondere auf der psychischen Betroffenheit des Nebenklägers durch die Tat beruhen kann (Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt StPO § 397a Rn. 9). Das in der Antragsschrift unter Ziffer 5 geschilderte Tatgeschehen (Bl. 7 d. SB) lässt sowohl wegen der Tat selbst (Messerangriff auf offener Straße) als auch wegen ihrer Folgen (Notwendigkeit einer lebensrettenden Operation) auf eine erhebliche psychische Betroffenheit des Beschwerdeführers schließen, die eine Unzumutbarkeit eigener Interessenwahrnehmung nahelegt.

Jedenfalls aber erscheint die Gewährung von Prozesskostenhilfe mit Blick auf die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten. Eine schwierige Sach- und Rechtslage ist regelmäßig dann gegeben, wenn aus der vernünftigen Sicht des Nebenklägers der Sachverhalt verwickelt ist, Spezialkenntnisse erfordert oder komplizierte bzw. umstrittene Rechts-fragen auftauchen oder Beweisanträge gestellt werden müssen (BeckOK StPO/Weiner StPO § 397a Rn. 20). Angesichts dessen dürfte sich die Sach- und Rechtslage aus der maßgeblichen Sicht des Beschwerdeführers schon allein deshalb als schwierig erweisen, weil hinsichtlich des Tathergangs eine Aussage gegen Aussage Konstellation besteht und der Beschuldigte sich bereits im Rahmen des Ermittlungsverfahrens auf Notwehr berufen hat (Bl. 11 d. SB). Demzufolge steht zu erwarten, dass die Frage etwaiger Notwehr auch Gegenstand der Hauptverhandlung sein wird, zumal auch die Antragsschrift davon ausgeht, dass der Beschwerdeführer dem Beschuldigten unmittelbar vor dem Messerstich einen Faustschlag ins Gesicht versetzt hat (Bl. 7 d. SB).

Hinzu kommt, dass es sich vorliegend um ein Sicherungsverfahren handelt, das per se die Schwierigkeit der Beurteilung der Schuld(un)fähigkeit des Beschuldigten birgt und dafür die Bewertung der Ausführungen eines Sachverständigen erfordert, was aus Sicht eines Nebenklägers tatsächlich wie rechtlich als problematisch einzustufen ist. Rechtlich schwierig wäre insbesondere auch eine im Laufe des Sicherungsverfahrens ggf. notwendige Überleitung in das Strafverfahren gemäß § 416 StPO. Für den Beschwerdeführer gilt dies umso mehr, als dass der Vortrag seines Rechtsanwalts auf eine bestehende Sprachbarriere hin-deutet (Bl. 35 d. SB), die sich angesichts der Komplexität der genannten Schwierigkeiten nicht allein durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers überwinden lassen dürfte.“

Dem tritt der Senat bei.“

Kauf des Pkw nach Bekanntwerden des Dieselskandals, oder: Keine sittenwidrige Schädigung?

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Im „Kessel Buntes“ am heutigen Samstag dann mal wieder  ein paar zivilrechtliche Entscheidungen zu den sog. Dieselfällen.

Zunächst der Hinweis auf das BGH, Urt. v. 21.12.2021 – VI ZR 277/20 – zur Haftung eines Automobilherstellers nach § 826 BGB gegenüber dem Käufer nach einem Kauf nach Bekanntwerden des sog. Dieselskandals.

Der Kläger hatte am 14.10. 2015 von einem Autohaus einen gebrauchten Pkw Audi Q3 zum Kaufpreis von 29.000 EUR erworben. Das Fahrzeug war mit einem von der Beklagten entwickelten und hergestellten Dieselmotor der Baureihe EA189 ausgestattet. Dieser enthielt eine Steuerungssoftware, die erkannte, ob das Fahrzeug den für die Emissionsprüfung maßgeblichen Fahrzyklus durchlief oder sich im normalen Straßenverkehr befand. Im Prüfzyklus bewirkte die Software eine im Vergleich zum Normalbetrieb erhöhte Abgasrückführungsrate, wodurch die Grenzwerte der Abgasnorm Euro 5 für Stickoxidemissionen eingehalten werden konnten. Mit seiner Klage verlangt der Kläger im Wesentlichen Schadensersatz in Höhe des für das Fahrzeug gezahlten Kaufpreises Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs, Zinsen, Feststellung des Annahmeverzugs und Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.

Das LG hat die Klage abgewiesen. OLG Köln spricht Schadensersatz zu. Mit der vom OLG zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Ziel der vollständigen Klageabweisung weiter.  Die Revision hatte Erfolg:

„1. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann der Kläger den geltend gemachten Schadensersatzanspruch nicht auf § 826 BGB stützen.

a) Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat (Senatsurteile vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 30 f.; vom 8. Dezember 2020 – VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84 Rn. 12; vom 23. März 2021 – VI ZR 1180/20, VersR 2021, 732 Rn. 12; Senatsbeschluss vom 9. März 2021 – VI ZR 889/20, VersR 2021, 661 Rn. 17 ff.), ist für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als (nicht) sittenwidrig in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln, weshalb ihr das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen ist. Im Falle der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB wird das gesetzliche Schuldverhältnis erst mit Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten begründet, weil der haftungsbegründende Tatbestand des § 826 BGB die Zufügung eines Schadens zwingend voraussetzt. Deshalb kann im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber als nicht sittenwidrig zu werten sein. Eine solche Verhaltensänderung kann somit bereits der Bewertung seines Gesamtverhaltens als sittenwidrig – gerade in Bezug auf den geltend gemachten, erst später eingetretenen Schaden und gerade im Verhältnis zu dem erst später Geschädigten – entgegenstehen und ist nicht erst im Rahmen der Kausalität abhängig von den Vorstellungen des jeweiligen Geschädigten zu berücksichtigen.

b) Bei der demnach gebotenen Gesamtbetrachtung ist auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen das Verhalten der Beklagten gegenüber dem Kläger nicht als sittenwidrig zu beurteilen.

aa) Der Senat hat im Urteil vom 30. Juli 2020 (VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798) auf Grundlage der im dortigen Verfahren getroffenen Feststellungen unter anderem ausgeführt, dass durch die vom Berufungsgericht festgestellte Verhaltensänderung der Beklagten wesentliche Elemente, die das Unwerturteil ihres bisherigen Verhaltens gegenüber bisherigen Käufern begründeten, derart relativiert wurden, dass der Vorwurf der Sittenwidrigkeit bezogen auf ihr Gesamtverhalten gerade gegenüber späteren Käufern und gerade im Hinblick auf den Schaden, der bei diesen durch den Abschluss eines ungewollten Kaufvertrags nach dem 22. September 2015 entstanden sein könnte, nicht mehr gerechtfertigt ist (Senatsurteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 34 ff.).

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts veröffentlichte die Beklagte am 22. September 2015 eine Ad-hoc-Mitteilung, in der sie bekannt gab, dass sie die Aufklärung von Unregelmäßigkeiten einer verwendeten Software bei Diesel-Motoren vorantreibe und die betreffende Steuerungssoftware auch in anderen Diesel-Fahrzeugen des Volkswagen-Konzerns vorhanden sei. Auffällig seien Fahrzeuge mit Motoren vom Typ EA189. In einer Pressemitteilung vom 2. Oktober 2015 gab die Beklagte die Freischaltung von Webseiten auch ihrer Tochterunternehmen zur Ermittlung der individuellen Betroffenheit eines Fahrzeugs bekannt.

Bereits die Mitteilung der Beklagten vom 22. September 2015 war objektiv geeignet, das Vertrauen potentieller Käufer von Gebrauchtwagen mit VW-Dieselmotoren in eine vorschriftsgemäße Abgastechnik zu zerstören, diesbezügliche Arglosigkeit also zu beseitigen. Aufgrund der Verlautbarung und ihrer als sicher vorherzusehenden medialen Verbreitung war typischerweise nicht mehr damit zu rechnen, dass Käufer von gebrauchten VW-Fahrzeugen mit Dieselmotoren die Erfüllung der hier maßgeblichen gesetzlichen Vorgaben noch als selbstverständlich voraussetzen würden. Für die Ausnutzung einer diesbezüglichen Arglosigkeit war damit kein Raum mehr; hierauf konnte das geänderte Verhalten der Beklagten nicht mehr gerichtet sein (vgl. Senatsbeschluss vom 14. September 2021 – VI ZR 491/20, juris Rn. 11 mwN).

bb) Aus dem Umstand, dass der Kläger im Streitfall ein Fahrzeug der Marke Audi und nicht der Marke Volkswagen erworben hat, folgt nichts Anderes. Aus den Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich, dass die Beklagte ihre Verhaltensänderung nicht auf ihre Kernmarke Volkswagen beschränkt, sondern im Gegenteil bereits in ihrer Ad-hoc-Mitteilung vom 22. September 2015 darauf hingewiesen hat, dass die betreffende Steuerungssoftware auch in anderen Diesel-Fahrzeugen des Volkswagen-Konzerns vorhanden und der Motor vom Typ EA189 auffällig sei. Das mit der Ad-hoc-Mitteilung vom 22. September 2015 geänderte Verhalten der Beklagten war damit auch hinsichtlich der streitgegenständlichen Konzernmarke nicht mehr darauf angelegt, das Kraftfahrtbundesamt und arglose Erwerber zu täuschen (vgl. Senatsurteile vom 8. Dezember 2020 – VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84 Rn. 17; vom 23. März 2021 – VI ZR 1180/20, VersR 2021, 732 Rn. 15).

Dass die Beklagte möglicherweise auch im Hinblick auf die von ihrer Kernmarke Volkswagen abweichenden Marken ihrer Konzerntöchter weitere Schritte zu einer klareren Aufklärung potentieller, mit der Konzernstruktur und dem Markenportfolio der Beklagten nicht vertrauten Fahrzeugkäufer hätte unternehmen können, steht der Verneinung eines objektiv sittenwidrigen Vorgehens im Verhältnis zum Kläger und im Hinblick auf den von diesem im Oktober 2015 abgeschlossenen Kaufvertrag ebenso wenig entgegen wie der Umstand, dass nicht jeder potentielle Käufer subjektiv verlässlich über die Verwendungsbreite der unzulässigen Abschalteinrichtung in den verschiedenen Marken der Beklagten informiert wurde (Senatsurteile vom 8. Dezember 2020 – VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84 Rn. 18; vom 23. März 2021 – VI ZR 1180/20, VersR 2021, 732 Rn. 16; Senatsbeschluss vom 9. März 2021 – VI ZR 889/20, VersR 2021, 667 Rn. 20 ff.). Darauf, ob dem Kläger beim Kauf des Fahrzeugs im Oktober 2015 die Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten und die Berichterstattung ab dem 22. September 2015 bekannt waren, kommt es – entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – nicht an.

2. Der Klageanspruch ergibt sich auch nicht aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 VO 715/2007/EG oder aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB, § 31 BGB (Senatsurteil vom 8. Dezember 2020 – VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84 Rn. 20 mwN; Senatsbeschluss vom 15. Juni 2021 – VI ZR 566/20, juris Rn. 7 f.).“

Dazu passen dann:

    1. Jedenfalls dadurch, dass die Audi AG am 25.01.2018 ihre Vertragshändler und Servicepartner nicht nur von den Rückrufanordnungen des Kraftfahrtbundesamts (KBA) für die Audi Modelle mit V6- und V8-TDI-Motoren unterrichtet, sondern hierbei zugleich eine ausdrücklich so bezeichnete sowie anhand eines Musterschreibens („Beipack-zettel“) erläuterte „Hinweispflicht“ gegenüber den Kunden statuiert hatte, hat das Unternehmen einen radikalen Strategiewechsel vollzogen und auch nach außen erkennbar sein Verhalten so grundlegend geändert, dass ab diesem Zeitpunkt der auf das Gesamtverhalten bezogene Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht mehr gerechtfertigt ist.
    2. Ob und in welchem Umfang ein späterer Käufer entsprechend den Anweisungen der Audi AG tatsächlich aufgeklärt wurde, ist unerheblich. Es kommt weder auf seine Kenntnisse vom „Dieselskandal“ im Allgemeinen noch auf seine Vorstellungen von der Betroffenheit des Fahrzeugs im Besonderen an. Nach-dem die Audi AG ihren grundlegenden Strategiewechsel vollzogen hatte, wurde einem späteren Erwerber unabhängig von seinem Wissensstand und seinem subjektiven Vorstellungsbild nicht sittenwidrig ein Schaden zugefügt.

 1. Wer erst 2019 ein erstmals 2014 – also vor Aufdeckung des Dieselabgas-Skandals – zugelassenes Diesel-Kraftfahrzeug erwirbt, erleidet nicht einen gemäß § 826 BGB als „ungewollte Verbindlichkeit“ ersatzfähigen Schaden, sollte sich nach dem Erwerb herausstellen, dass das Fahrzeug mit einer unzulässigen Abgas-Abschaltung ausgerüstet war und deshalb etwa auf Veranlassung des Kraftfahrtbundesamtes ein Software-Update aufgespielt werden muss. Sein Erwerb war erkennbar von vornherein mit diesem Risiko belastet.

2. Ein Schadensersatzanspruch gemäß § 826 BGB käme in einer derartigen Konstellation erst dann in Betracht, wenn eine unzulässige Abschalteinrichtung nicht mehr durch technische Maßnahmen wie ein Software-Update zu beseitigen ist und deshalb die Stilllegung des Fahrzeugs erfolgt.

Hinweispflichten des Rechtsanwalts im Unfallmandat, oder: Fristablauf in der Unfallversicherung?

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Im zweiten Posting stelle ich das OLG Schleswig, Urt. v. 10.02.2022 – 11 U 73/21 – vor.

Gestritten wird um um Ansprüche wegen Pflichtverletzung aus einem Anwaltsvertrag. Der Kläger wurde als Motorradfahrer bei einem Verkehrsunfall mit einem Auto schwer verletzt. Der Beklagte zu 2, der zu diesem Zeitpunkt als Anwalt in Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit der Beklagten zu 1 tätig war, vertrat den Kläger bei der Abwicklung der Unfallschäden. Der Kläger war Inhaber einer Unfallversicherung bei der X-Versicherung, diese Gesellschaft war auch Haftpflichtversicherer des Unfallgegners. Der Unfallversicherer wies den Kläger mehrfach schriftlich darauf hin, dass Leistungen ausgeschlossen seien, wenn nicht eine ärztliche Feststellung der Invalidität erfolge. Die Schreiben des Versicherers übersandte der Kläger an den Beklagten zu 2., der gegenüber dem Unfallversicherer nicht tätig wurde. Der Versicherer lehnte später Leistungen ab, da die Invalidität nicht innerhalb der hierfür vereinbarten Frist festgestellt worden sei.

Mit der Klage verlangt der Kläger von den Beklagten Schadensersatz wegen fehlerhafter Beratung bei der Abwicklung der Unfallfolgen. Der Kläger hat dem Beklagten zu 2 vorgeworfen, dieser habe ihm wiederholt mitgeteilt, dass zunächst die Schuldfrage bei dem Unfall geklärt werden müsse. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte beim OLG keinen Erfolg:

„Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagten aus einem Anwaltsvertrag, denn die beklagten Anwälte haben keine vertraglichen Pflichten schuldhaft verletzt.

1. Eine zum Schadensersatz verpflichtende Pflichtverletzung besteht nicht deshalb, weil die Beklagten vom Kläger ausdrücklich oder schlüssig beauftragt worden sind, seine Ansprüche gegenüber dem Unfallversicherer durchzusetzen oder ihn hinsichtlich der Durchsetzung dieser Ansprüche zu beraten, beides aber unterlassen haben. Es steht nicht fest, dass sich das Mandat der Beklagten auf diesen Gegenstand erstreckte.

1.1. Vertragspartner des Klägers sind beide Beklagte geworden, auch wenn die Beratung und Vertretung nur durch den Beklagten zu 2 erfolgte. Zum Zeitpunkt der Mandatierung im Juni 2015 waren die beiden beklagten Rechtsanwälte in Gesellschaft bürgerlichen Rechts tätig.

1.2. Darlegungs- und beweisbelastet für den Umfang des Mandats ist der Kläger, er muss also beweisen, dass sich das Mandat auch auf den Gegenstand „Unfallversicherung“ erstreckte (vgl. Vill in Fischer/Vill/Fischer/Rinkler/Chab Handbuch der Anwaltshaftung, 4. Aufl., § 2 Rn. 32).

Aus den schriftlichen Erklärungen, insbesondere aus der Vollmachtsurkunde ergibt sich kein Hinweis auf eine Mandatierung mit diesem Gegenstand. Zwar wird dort Vollmacht erteilt „wegen Verkehrsunfall“. Nach der Wortbedeutung mag die Interessenvertretung gegenüber dem Unfallversicherer darunter fallen, da auch diese Ansprüche durch den Verkehrsunfall verursacht worden sind, im weitesten Sinne also wegen Verkehrsunfalls bestehen konnten. Bei dieser weiten Auslegung wäre der Mandatsgegenstand indessen kaum einzugrenzen und würde eine Vielzahl von Rechtsverhältnissen umfassen. Denn auch eine mögliche Auseinandersetzung mit einem Krankenversicherer kann durch den Verkehrsunfall verursacht werden, ebenso wie die Auseinandersetzung mit einer Autowerkstatt, sollte es Probleme bei der Reparatur des Autos geben, oder mit dem eigenen Vollkaskoversicherer, sollte dieser eine Regulierung ablehnen. Üblicherweise steht bei der anwaltlichen Vertretung nach Verkehrsunfällen die Auseinandersetzung mit dem Unfallgegner im Vordergrund. Ein darüber hinausgehendes Mandat hätte zur Folge, dass hierfür Rechtsanwaltsgebühren anfallen können, die nicht vom Unfallgegner oder dem eigenen Kfz-Haftpflichtversicherer zu tragen sind. Anders als bei der Auseinandersetzung mit dem Unfallgegner bedarf es für die Interessenwahrnehmung gegenüber einem Unfallversicherer im Regelfall zunächst keiner anwaltlichen Beratung. Es wäre deshalb zu erwarten, dass bei einem Mandat, das sich auch auf die Auseinandersetzung mit den eigenen Versicherern erstreckt, ausdrücklich ein gesonderter Auftrag erteilt wird.

Ein mündlicher Auftrag, auch in Sachen Unfallversicherung zu beraten und zu vertreten, steht ebenfalls nicht fest. Das Landgericht konnte sich nicht die Überzeugung bilden, dass ein solcher mündlicher Auftrag erteilt wurde. An diese Feststellung ist der Senat nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden, da keine konkreten Anhaltspunkte zu Zweifeln an dieser Feststellung vorliegen.

Die Schilderung des Beklagten zu 2, er habe als Reaktion auf die E-Mail in der sich der Kläger über ihn beklagte, mit diesem Kontakt aufgenommen, ist plausibel. Dies gilt auch für die Darstellung des Beklagten zu 2, man sei wegen der durch die Mandatierung entstehenden Kosten so verblieben, dass der Kläger sich selbst darum kümmere, dass der Arzt die notwendigen Angaben gegenüber dem Versicherer mache. Denn zur Wahrung der Frist bedurfte es einer anwaltlichen Tätigkeit tatsächlich nicht. Der Kläger benötigte nur eine formularmäßige ärztliche Bescheinigung. Diese konnte er ohne weiteres selbst beschaffen.

Die Darstellung des Beklagten zu 2 ist ausreichend detailliert, so dass er damit einer möglichen sekundären Darlegungslast genügt hat. Dem Kläger obliegt deshalb der Beweis seiner abweichenden Darstellung. Einen solchen Beweis hat der Kläger aber nicht in geeigneter Weise angeboten. Da für seine Darstellung kein sogenannter Anbeweis spricht, war er hierzu auch nicht als Partei zu vernehmen. Dass sich der Beklagte in seinem Schreiben vom 09.10.2017 noch gar nicht auf die jetzt behauptete telefonische Beratung berufen hat, fällt zwar auf, begründet aber noch keinen ausreichenden Anbeweis dafür, dass es eine solche Beratung nicht gegeben hat.

1.3. Die Beklagten haften nicht wegen der Verletzung von Hinweis- oder Warnpflichten, denn der Kläger war über den Fristablauf und dessen Folgen informiert.

Auch wenn ein Rechtsanwalt nur eingeschränkt beauftragt ist, besteht eine Nebenpflicht, den Auftraggeber auf mögliche Fristversäumnisse hinzuweisen. Dies gilt bei drohenden Nachteilen durch die Versäumung einer Ausschlussfrist in den allgemeinen Bedingungen einer Unfallversicherung (vgl. Vill, a.a.O., § 2 Rn. 171). Dabei hat der Anwalt grundsätzlich von der Belehrungsbedürftigkeit des Mandanten auszugehen.

Den anwaltlichen Berater trifft aber in der Regel keine weitere Beratungspflicht gegenüber seinem Mandaten, wenn diesem die Risiken bereits hinreichend deutlich geworden sind (vgl. Vill a.a.O. § 2 Rn. 95). So stellte es sich für den Beklagten zu 2 dar. Den beiden Schreiben des Unfallversicherers durfte der Beklagte zu 2 entnehmen, dass der Kläger selbst den Unfall gegenüber dem Unfallversicherer gemeldet hatte und der Unfallversicherer daraufhin den Kläger zweimal schriftlich über die Ausschlussfrist belehrt hatte. Der Beklagte zu 2 hatte keinen Grund zu der Annahme, dass der Kläger diese inhaltlich einfachen Hinweise nicht verstanden habe oder vor Fristablauf wieder vergessen würde. Spätestens durch seine handschriftliche Beschwerde, dass er nicht auch vom Beklagten auf die Frist hingewiesen worden sei, hat der Kläger dokumentiert, dass er inzwischen Bescheid wusste.

Der Beklagte zu 2 musste auch nicht in der bis zum Fristablauf noch verbleibenden Zeit von gut einem Monat sicherstellen, dass der Kläger die Frist nicht wieder vergessen würde.“.

Wiedereinsetzung I: Automatisches Windows-Update, oder: Update verhindert fristgerechten bea-Versand

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Heute köcheln im „Kessel Buntes“ dann zwei Entscheidungen zur Wiedereinsetzung. Ich könnte zwar auch Entscheidungen zu den „Dieselfällen“ vorstellen, aber da muss ich erst mal schauen, ob sich die „lohnen“. Ich räume ein, ich habe da den Überblick verloren. 🙂

Als erstes hier die Entscheidung aus dem Zivilrecht. M.E. ganz interessant, da es eine Problematik behandelt, die so bisher noch nicht entschieden ist.

Es geht um Schadensersatz Land wegen von der Klägerin behauptetet Pflichtverletzungen von Beamten der Staatsanwaltschaft Kiel im Zusammenhang mit bzw. im Nachgang von Durchsuchungen. Der Gegenstandswert ist erheblich, es werden allein rund 385.000 EUR Verdienstausfall geltend gemacht. Das LG hat die Klage abgewiesen. Dagegen die Berufung der Klägerin. Die Berufungsbegründung hätte am 15.04.2021 eingehen müssen. Sie gehr aber erst am 16.04.2021 um 00:25 Uhr ein. Grund: Ein plötzliches Windowsupdate verhindert den fristgerechten Versand der Begründungsschrift mit dem beA. Der Vertreter der Klägerin beantragt Wiedereinsetzung, die das OLG mit dem OLG Schleswig, Urt. v. 14.12.2021 – 11 U 19/21 – gewährt.

„Die Berufung ist zulässig.

Zwar ist die Berufungsbegründung nicht bis zum Ablauf der Frist am 15.04.2021, sondern erst am Folgetag um 00:25:47 Uhr eingegangen. Auf den zulässigen, insbesondere innerhalb der Monatsfrist nach § 234 Abs. 1 S. 2 ZPO gestellten Antrag vom 29.04.2021 war der Klägerin aber nach § 233 S. 1 ZPO Wiedereinsetzung in diese Frist zu gewähren.

Die Klägerin hat nach § 236 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 ZPO ausreichend glaubhaft gemacht, dass sie an der Fristwahrung ohne eigenes oder ihr zuzurechnendes Verschulden verhindert war. Sie hat nämlich durch Vorlage der Originale der eidesstattlichen Versicherungen ihres Prozessbevollmächtigten und der beiden weiteren Mitglieder von dessen Bürogemeinschaft glaubhaft gemacht, dass der Prozessbevollmächtigte die Begründungsschrift am Tag des Fristablaufs um 23.48 Uhr versandfertig in eine Zwischenablage kopiert und sich sodann zwecks Versendung von seinem Büroarbeitsplatz zum Computerarbeitsplatz im Empfangsbereich seiner Kanzlei begeben hat, der als einziger Arbeitsplatz das für die Benutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs erforderliche Chipkartenlesegerät aufwies. Erst dort hat der Prozessbevollmächtigte feststellen können, dass der Rechner gerade mit einem automatischen Windows-Update beschäftigt war. Dieses Update war erst nach Mitternacht abgeschlossen, so dass auch die Berufungsbegründung erst nach Mitternacht hat versandt werden können. Die Klägerin hat auch glaubhaft gemacht, dass wegen einer Besetztmeldung des gerichtlichen Faxgeräts die Berufungsbegründung vor Ablauf des 15.04.2021 nicht vollständig per Fax hat übermittelt werden können.

Entgegen der Bewertung durch das beklagte Land und dessen Streithelferinnen ist es dem Prozessbevollmächtigten nicht als Verschulden vorzuwerfen, dass er nicht mit dem verhängnisvollen automatischen Update rechnete und es deshalb nicht rechtzeitig verhinderte.“

OWi III: Mehr als 2 1/2 Jahre Abstand zum Verstoß, oder: Kein Fahrverbot und auch keine erhöhte Geldbuße

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Und dann hier noch der OLG Schleswig, Beschl. v. 22.10.2021 – I OLG 230/21 – zum Absehen vom Fahrverbot nach langer Verfahrensdauer und zur Erhjöhung der Geldbuße. Das AG hatte hier zwar wegen der langen Verfahrensdauer – mehr als 2 1/2 Jahre – vom Fahrverbot abgesehen, aber es hatte die Geldbuße erhöht. Das geht nicht, sagt das OLG:

„3. Auch der Ausspruch über die Rechtsfolgen ist – unabhängig von der Schuldform – rechtsfehlerhaft, indem das Amtsgericht von der Verhängung des Regelfahrverbots abgesehen und statt-dessen die Regelgeldbuße verdoppelt hat.

Zwar ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Amtsgericht von der Verhängung des Regelfahrverbots von einem Monat gemäß § 4 Abs. 3 BKatV abgesehen hat, weil seit der Tat mehr als zwei Jahre verstrichen sind. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats und der übrigen Oberlandesgerichte.

Allerdings kommt eine Erhöhung der Geldbuße wegen des Absehens vom Fahrverbot gemäß § 4 Abs. 4 BKatV dann nicht mehr in Betracht, wenn es der Anordnung eines Fahrverbots wegen des langen Zeitablaufs zwischen der Tat und deren Ahndung zur erzieherischen Wirkung auf den Betroffenen nicht mehr bedarf. Da die Denkzettel- und Warnungsfunktion des Fahrverbots entfallen ist, hat auch eine Erhöhung der Geldbuße zur Erreichung dieses spezialpräventiven Zweckes zu unterbleiben (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 2. Juli 2007 – 3 Ss OWi 360/07 -, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 14. Februar 2006, DAR 2006, 337; OLG Celle, Beschluss vom 23. Dezember 2004, VRS 108, 118, 121). Denn sowohl die Anordnung eines Regelfahrverbots als auch das ausnahmsweise Absehen davon bei gleichzeitiger Erhöhung der Geldbuße können ihren Strafcharakter nur dann erfüllen, wenn sie sich in einem kurzen zeitlichen Abstand zur Tat auf den Betroffenen auswirken. Das ist bei einer Zeitdauer von mehr als 2 1/2 Jahren – wie im vorliegenden Sachverhalt – jedenfalls nicht mehr der Fall.“