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Richterliche Vernehmung einer Zeugin – Ausschluss des Beschuldigten?

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Gegen den Beschuldigten ist ein Ermittlungsverfahren anhängig wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung in zwei Fällen. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft soll die Zeugin S. richterlich vernommen werden. Das AG Waldshut-Tiengen hat den Beschuldigten von der richterlichen Vernehmung der Zeugin gemäß § 168c Abs. 3 StPO ausgeschlossen, da zu befürchten sei, dass die Zeugin in Gegenwart des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen und von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen werde. Der LG Waldhut-Tiengen. Beschl. v. 09.10.2013 – 1 Qs 68/13 – sieht das anders:

„Wegen der Bedeutung des Anspruchs auf Anwesenheit ist die Ausschließungsmöglichkeit eng auszulegen (Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 168c Rn. 16). Es soll verhindert werden, dass im vorbereitenden Verfahren unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) und unter Außerachtlassung des Grundsatzes der Waffengleichzeit zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem ein für den weiteren Verlauf des Strafverfahrens möglicherweise entscheidendes Beweisergebnis herbeigeführt werden kann, ohne dass dem Beschuldigten und/oder seinem Verteidiger zuvor Gelegenheit gegeben war, hierauf Einfluss zu nehmen (Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl., § 168c Rn. 1; BGHSt 26, 332, 335).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist ein Ausschluss des Beschuldigten nur dann möglich, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Zeuge in Gegenwart des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen werde oder wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass der Beschuldigte seine Anwesenheit oder sein durch die Anwesenheit erlangtes Wissen dazu missbrauchen würde, durch Verdunkelungshandlungen — etwa durch Beseitigung oder Verfälschung von Beweismitteln oder durch unzulässige Beeinflussung von Zeugen oder Sachverständigen — die Ermittlung des Sachverhalts zu erschweren (Löwe-Rosenberg, aaO., § 168c Rn. 15; Karlsruher Kommentar, aaO., § 168c Rn. 6; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 168c Rn. 3). Dies gilt auch dann, wenn konkreter Anlass für die Befürchtung besteht, der Zeuge werde bei Anwesenheit des Beschuldigten voraussichtlich von seinem Aussage- bzw. Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen (Karlsruher Kommentar, aaO., § 168c Rn. 6; Löwe-Rosenberg, aaO, § 168c Rn. 16a).

Nach Aktenlage ist nicht erkennbar, dass ein solcher Ausschlussgrund vorliegt. Die Aussagebereitschaft der 20-jährigen Zeugin hat im Laufe des Ermittlungsverfahrens bereits mehrfach geschwankt, ohne dass dies gerade auf eine Anwesenheit des Beschuldigten hätte zurückgeführt werden können, zumal er bei den bisherigen polizeilichen Vernehmungen ohnehin nicht anwesend war. Bereits nach der Anzeigeerstattung am 26.04.2013 hatte die Zeugin angekündigt, von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen (AS 59a), war dann aber doch zu einer weiteren kriminalpolizeilichen Vernehmung am 30.04.2013 bereit gewesen, bevor sie — noch vor der Durchführung der bereits Anfang Mai 2013 erstmals beantragten richterlichen Vernehmung — am 03.05.2013 erklärte, ihre Anzeige zurückzuziehen (AS 105 f.). Der Umstand, dass die Zeugin in ihrer E-Mail an die Kriminalpolizei vom 03.05.2013 erklärte, dass sie „gerade mit den Nerven am Ende“ sei und „mit der Sache nix zu tun haben“ wolle, lässt eher darauf schließen, dass sie wegen der allgemeinen Belastungen, denen sie als Zeugin in einem Ermittlungsverfahren wegen möglicherweise zu ihrem Nachteil begangener Sexualdelikte ausgesetzt ist, keine Aussage machen wollte, und zwar unabhängig von der Anwesenheit des Beschuldigten bei einer Vernehmung. Als sie sich schließlich am 31.05.2013 wieder telefonisch bei KOK’in von G. meldete und erklärte, dass sie jetzt doch bereit sei auszusagen, begründete sie dies auch damit, dass ihre Cousine sie inzwischen unterstütze (AS 215). Konkrete Ankündigungen der Zeugin , wonach sie in Anwesenheit des Beschuldigten von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen werde, sind bislang nicht bekannt.

Ebenso wenig ist ersichtlich, dass der Beschuldigte die Zeugin im Laufe des Ermittlungsverfahrens bedroht oder anderweitig beeinflusst haben könnte. Soweit er bereits im Rahmen des von der Zeugin geschilderten Tatgeschehens geäußert haben soll, dass er — wenn sie ihn anzeige — die Familie auseinander bringen werde, indem er den Großvater und die Eltern der Zeugin gegeneinander aufhetze, ist das damit verbundene Drohpotential dadurch erledigt, dass die Zeugin ungeachtet dieser Drohung Anzeige erstattet hat.“

Akteneinsicht erforderlich? – dann gibt es einen Pflichtverteidiger

Quasi einen Klassiker bzw. zumindest eine häufige Fallgestaltung behandelt der LG Waldshut-Tiengen, Beschl. v. 19.09.2013 – 1 Qs 62/13, nämlich die Frage der Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis nicht umfassend vorbereitet werden kann. Das LG hat dem Angeklagten in dem Fall wegen Schwierigkeit der Sachlage i.S. des § 140 Abs. 2 StPO einen Pflichtverteidiger bestellt:

„Als schwierig ist die Sachlage eines Verfahrens u. a. dann zu bewerten, wenn die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis nicht umfassend vorbereitet werden kann. Da nur ein Verteidiger Akteneinsicht erhält, würde die Nichtbeiordnung eines Verteidigers in derartigen Fällen dem Gebot eines fairen Verfahrens widersprechen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 140 Rn. 27 m. w. N.).

So liegen die Dinge auch hier: Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, er habe für seine damalige Lebensgefährtin xxx durch unrichtige Angaben über das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft Sozialleistungen erschlichen, auf die kein Anspruch bestanden habe. Ein Angeklagter, der – worauf die Ausführungen der Verteidigung hindeuten – den Tatvorwurf in der Hauptverhandlung bestreiten wird, besitzt in einem solchen Fall wenig Möglichkeit, sich durch eigene Äußerungen zur Sachlage zu verteidigen. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den Belastungsindizien und deren lückenlose Gesamtwürdigung sind dann von besonderer Bedeutung. Gemessen daran ist eine ordnungsgemäße Verteidigung nur dann möglich, wenn sich der Angeklagte mit den Ermittlungsergebnissen vor der Hauptverhandlung ähnlich hat befassen können wie Gericht und Staatsanwaltschaft. Dies lässt sich – zumal hier nicht nur Aktenteile aus der Strafakte, welche dem Angeklagten zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung in Kopie zur Verfügung gestellt werden könnten, sondern auch die beigezogenen Akten des Sozialgerichts Freiburg von Bedeutung sind – nur durch Akteneinsicht bewerkstelligen, und das Recht hierzu hat allein der Verteidiger (§ 147 StPO).