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Pflichti II: Betreuer, Gesamtstrafe, Strafvollstreckung, oder: 3 x zu Beiordnungsgründen

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Im zweiten Posting dann drei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Die Existenz eines Betreuers mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ macht regelmäßig die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich, und zwar auch dann, wenn es sich bei dem Betreuer um einen Rechtsanwalt handelt.

      1. Einschlägige Rückfalltaten Drogen- oder Alkoholabhängiger müssen einer günstigen Sozialprognose nicht zwingend entgegen stehen, wenn neue tatsächliche Umstände vorliegen, die geeignet sind, die Möglichkeit der Wiedereingliederung im Einzelfall günstig zu beeinflussen.
      2. Zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren.

 

Die (subjektive) Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn zu besorgen ist, dass der Beschuldigte ohne anwaltliche Hilfe seine Rechte alleine nicht ausreichend wahrnehmen kann. Davon ist auszugehen, wenn gegen den Beschuldigten in drei verschiedenen Bundesländern Verfahren anhängig sind, die gesamtstrafenfähig und aus Sicht des Beschuldigten daher koordiniert zu betreiben sind.

Pflichti I: Nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung, oder: LG Bonn, LG Braunschweig, AG Wuppertal

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Und dann in der letzten Woche des Jahres auch noch einmal Pflichtverteidigungsentscheidungen. Das war in 2022 sicherlich ein Hauptthema hier im Blog. Ich danke bei der Gelegenheit allen Kollegen, die Entscheidungen zu den mit den §§ 140 ff. StPO zusammenhängenden Fragen geschickt haben. Ich freue mich auf weitere. Das mag dem ein oder anderen, vor allem wenn es um die Thematik der nachträglichen Bestellung geht, ein wenig langweilig sein. Aber: Es soll ja möglichst klar sein, welche Gerichte ggf. nachträglich beiordnen und welche nicht.

Und daher beginne ich auch heute mit einer Zusammenstellung der Entscheidungen, die mich zu der Themati „Nachträgliche Bestellung“ in den letzten Tagen/Wochen erreicht haben. Und zwar:

Die nachträgliche Bestellung bejaht haben:

Dem Beschuldigten ist zumindest dann nachträglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Entscheidung über den vor Beendigung des Verfahrens gestellten Antrag sachwidrig verzögert worden ist.

Zusatz:

Von dem Beschluss bitte nicht täuschen lassen. Das LG hält nämlich an seiner ständigen (?) Rechtsprechung grundsätzlich fest, dass eine nachträgliche Bestellung nicht zulässig sein soll. Hier gibt es aber ein „Nikolausgeschenk“ an den Kollegen. Und m.E. auf jeden Fall mit Recht. Denn das Hin und Her, das Staatsanwaltschaft und AG hier veanstaltet haben, ist m.E. schlicht rechtswidrig und widerspricht sicherlich dem, was der Gesetzgeber mit der Neuregelung beabsichtigt hatte. Man kann manchmal wirklich nur den Kopf schütteln.

Die nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers ist zulässig, wenn der Bestellungsantrag rechtzeitig gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Bestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und dem Erfordernis der Unverzüglichkeit der Beiordnung nicht genügt worden ist.

Die nachträgliche Bestellung abgelehnt hat:

Die sofortige Beschwerde gegen die nicht erfolgte Bestellung eines Pflichtverteidigers ist wegen prozessualer Überholung nach ihrer Einlegung gegenstandslos, wenn das Strafverfahren nach Beschwerdeeinlegung eingestellt wird. Denn eine nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung kommt nicht in Betracht.

Zusatz:

Dazu muss man m.E. nichts mehr sagen. Ich finde es immer peinlich, wenn die LG nur das „nachbeten“, was das „übergeordnete“ OLG falsch vorgebetet hat. Bei dem angesprochenen „Systemwechsel“ geht es um etwas ganz anderes.

Gebühren nach Freispruch im „Corona-Verfahren“, oder: Unterdurchschnittlich/Rechtsfragen ausgetragen

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Heute dann „RVG-Tag“.

Den beginne ich mit dem LG Braunschweig, Beschl. v. 08.06.2021 – 2b Qs 160/21. Den Beschluss hätte ich auch an einem Montag unter der Thematik „Corona“ vorstellen können. Denn es geht um die Erstattung der anwaltlichen Gebühren nach einem Freispruch wegen eines Verstoßes gegen die Corona-VO Niedersachsen. Gegen den Betroffenen war ein Bußgeldbescheid erlassen worden, weil er sich mit zwei weiteren Personen in einem Pkw befunden und dabei nicht den erforderlichen Mindestabstand eingehalten habe. Mit dem Bescheid wurde eine Geldbuße in Höhe von 200,00 EUR festgesetzt.

Nach Freispruch hatte der Verteidiger die notwendigen Auslagen geltend gemacht und zwar für sich als Abtretungsempfänger. Festgesetzt worden ist zugunsten des Betroffenen, und zwar nur in einer geringeren Höhe als beantragt. Lassen wir mal die Frage der Abtretung außen vor – insoweit bitte selbst lesen, was das LG auf die sofortige Beschwerde meint – was m.E. falsch ist. Hier soll es nur um die Gebührenhöhe gehen. Dazu wird ausgeführt:

„2. Die vom Verteidiger angesetzten Gebühren sind unbillig gemäß § 14 Abs. 1 S. 4 RVG.

Unter Berücksichtigung des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit liegt jedenfalls insgesamt eine unterdurchschnittliche Angelegenheit vor. Es handelt sich nämlich um ein einfach gelagertes Ordnungswidrigkeitsverfahren, das keiner besonderen Vorbereitung bedurfte. Inhaltlich war lediglich zu klären, ob der gemeinsame Aufenthalt von drei Personen in einem privaten Pkw einen Aufenthalt im öffentlichen Raum darstellt, wobei es sich um eine reine Rechtsfrage handelte. über die es zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits Ausführungen in zwei Beschlüssen des Amtsgerichts Stuttgart (Az.: 4 OWi 177 Js 68534/20) und Amtsgericht Reutlingen (4 OWi 23 Js 16246/20) gab. Es handelte sich daher auch nicht um eine. wie der Verteidiger meint, nicht ausgetragene Rechtsfrage. Darüber hinaus ergibt sich aus der Akte kein Hinweis darauf, dass an dem Verfahren ein besonderes öffentliches Interesse bestand. Die Dauer der Hauptverhandlung betrug lediglich 10 Minuten, wobei Zeugen nicht vernommen worden sind und der Betroffene von dem persönlichen Erscheinen entbunden worden ist. Der Schriftverkehr mit dem Verteidiger beschränkte sich auf den Einspruchsschriftsatz vom 29.06.2020 und eine Einspruchsbegründung vom 02.07.2020 deren Inhalt äußerst überschaubar war. Der Aktenumfang war mit 34 Blatt bis zum Beginn der Hauptverhandlung gering, wobei sich ein nicht unerheblicher Teil des Umfanges aus den Folgen der teilweisen mehrfachen Heftung von ergänzenden Sachverhaltsmitteilungen/Stellungnahmen ergab.

Die Bedeutung der Angelegenheit für den Betroffenen ist angesichts der verhängten Geldbuße in Höhe von 200,00 € noch als unterdurchschnittlich zu bewerten. Es drohten weder berufliche noch andere einschneidende Konsequenzen. Der Verteidiger hat in der Beschwerdeschrift vom 23.05.2021 zwar vorgetragen, dass die Angelegenheit für den Betroffenen von hoher Bedeutung gewesen sei, da im Wiederholungsfalle (anders als im Verkehrsordnungswidrigkeitenrecht) dramatische Bußgelderhöhungen gedroht hätten. Dieses Vorbringen ist jedoch zu allgemein gehalten, um daraus ein billiges Ermessen für die Gebührenbestimmung abzuleiten. Der Verteidiger hat bereits nicht vorgetragen, warum es bei dem Betroffenen im Verurteilungsfalle zu Wiederholungsfällen hätte kommen sollen, wäre er doch in diesem Falle besonders sensibilisiert gewesen.

Die genauen Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Betroffenen sind unbekannt. Sie bleiben daher als Gebührenbemessungskriterien außer Betracht. Für die Angemessenheit einer Gebühr ist der Rechtsanwalt darlegungs- und beweispflichtig.“

Dazu nur: Die Ausführungen des LG zur Gebührenbemessung sind ebenfalls falsch. Sie kranken schon daran, dass das LG den falschen Maßstab zugrunde legt. Auszugehen ist nämlich auch im Bußgeldverfahren von der Mittelgebühr. Auf der Grundlage sind dann die Umstände des Einzelfalls heranzuziehen. Dabei hat dann m.E. die Schwierigkeit des Verfahrens hier so erhebliches Gewicht, dass – selbst wenn die anderen Umstände unterdurchschnittlich wären, was sie nicht sind – die geringfügige Überschreitung der Mittelgebühr durch den Verteidiger zumindest aber die Mittelgebühr gerechtfertigt gewesen wäre. Denn zum Zeitpunkt der Beauftragung des Verteidigers haben, was das LG geflissentlich übersieht, die beiden von ihm erwähnten Entscheidungen des AG Stuttgart und des AG Reutlingen noch nicht vorgelegen, auch gab es noch keine OLG-Rechtsprechung zu der Problematik, so dass die anstehenden Rechtsfragen eben doch „nicht ausgetragen“ waren und eine umfassende Auseinandersetzung auch mit der verfassungsrechtlichen Problematik erforderten. Das mag heute nach einem Jahr „Pandemie-Rechtsprechung anders sein. Im Frühjahr 2020 waren die Fragen Neuland.

Fazit: Gewogen und zu leicht befunden. Und: Ganz schlaues LG.

Pflichti III: Beiordnungsgründe, oder: Thematik Gesamtstrafe und Strafvollstreckung

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Und im dritten Posting dann noch einige Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen des § 140 StPO, und zwar:

Zunächst Problematik „Gesamtstrafe“.

  • Im LG Koblenz, Beschl. v. 31.03.2021 -10 Qs 20/21 – war nocht einmal über die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in den Fällen einer ggf. erforderlichen nachträglichen Gesamtstrafenbildung zu entscheiden. Das LG lehnt die Bestellung ab, da das Verfahren, in dem um die Bestellung gestritten wurde, nach § 154 StPO eingestellt war und damit eine Gesamtstrafenbildung nicht zu erwarten war. So brauchte man sich nicht in der Frage der nahcträglichen Bestellung positionieren.
  • Das LG Leipzig führt im LG Leipzig, Beschl. v. 14.4.2021 – 6 Qs 29/21 – noch einmal aus, dass unter Beachtung der früheren Rechtsprechung zum Rechtsbegriff der „Schwere der Tat“ eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers gibt, wobei diese Grenze auch gilt, wenn sie nur wegen einer erforderlichen Gesamtstrafenbildung erreicht wird. 

Zweiter Themenkreis: Beiordnung im Strafvollstreckungsverfahren

  • Im LG Düsseldorf, Beschl. v.20.04.2021 – 4 Qs 8/21– geht es ebenfalls um das Strafvollstreckungsverfahren. Nach Auffassung des LG liegt ein Fall notwendiger Verteidigung entsprechend § 140 Abs. 2 StPO im Vollstreckungsverfahren insbesondere dann vor, wenn die Schwere der Tat oder die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage oder die Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, das gebietet. Das hat das LG bei einem 61 Jahre alten Veruretilten, der durch die Beifügung von Arztbriefen und Gutachten dargelegt hatte, dass er an paranoider Schizophrenie (ICD-10: F20.08) erkrankt und insoweit in fortdauernder Behandlung ist, bejaht. Frage: Warum braucht man dafür eigentlich ein Landgericht?

 

Pflichti II: Bestellung wegen „Schwere der Tat“, oder: Gesamtstrafenfall

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Und als zweite Entscheidung zu Pflichtverteidigungsfragen dann hier der LG Braunschweig, Beschl. v. 20.08.2020 – 9 Qs 159/20, in dem es um die Bestellung wegen Schwere der Tat in den Gesamtstrafenfällen geht. Das AG hatte abgelehnt. Das LG schließt sich an:

„Die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 140 Abs. 1, Abs. 2 StPO liegen nicht vor, insbesondere ist eine Beiordnung des Verteidigers auch nicht aufgrund der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten.

Über die Verteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO entscheidet der Vorsitzende nach pflichtgemäßen Ermessen, wobei seinem Beurteilungsspielraum durch den Rechtsbegriff der Schwere der Tat Grenzen gesetzt sind (Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 61. Aufl. 2018, § 140 Rn. 22 m. w. N.). Die Schwere der Tat beurteilt sich nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung (BGH, Urteil vom 29. 6. 1954 – 5 StR 207/54, NJW 1954, 1415). Nach herrschender Meinung ist die Erwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe die Grenze, ab der ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist (OLG Naumburg, Beschluss vom 19.09.2011 – 2 Ws 245/11, BeckRs 2013, 00134; OLG München, Beschluss vom 13. 12. 2005 – 5St RR 129/05, NJW 2006, 789; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 06.07.1994 – 5 Ss 232/94 – 77/94 I, NStZ 1995, 147; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung; 61. Aufl. 2018, § 140 Rn. 23 m. w. N.). Die Schwelle von einem Jahr Freiheitsstrafe gilt auch bei Gesamtstrafenbildung, denn maßgeblich ist der Umfang der Rechtsfolgen, die insgesamt an den Verfahrensgegenstand geknüpft sind, nicht die Höhe der Einzelstrafen (BeckOK StPO/Krawczyk, 36. Ed. 1.1.2020, StPO § 140 Rn. 24).

Die Gesamtstrafenbildung richtet sich nach § 54 StGB. Ihre Bildung ist ein eigenständiger Strafzumessungsakt, der sich — innerhalb des von § 54 StGB genannten Rahmens — nicht an der Summe der Einzelstrafen oder an rechnerischen Grundsätzen zu orientieren hat, sondern an gesamtstrafenspezifischen Kriterien (vgl. EGH, BGH, Beschluss vom 21. 10. 2009 – 2 StR 377/09, NStZ-RR 2010, 40; Fischer, Strafgesetzbuch, 67. Aufl. 2020, § 54 Rn 7f. m. w. N.). Die Strafzumessung obliegt dem Ermessen des Tatgerichts, das sich dabei an § 46 StGB zu orientieren hat.

Eine fehlerhafte Beurteilung der Straferwartung aufgrund der Aktenlage liegt nicht vor. Die Erhöhung der Einsatzstrafe kann umso geringer ausfallen, je mehr — wie hier – zwischen den Taten ein enger zeitlicher, sachlicher und situativer Zusammenhang besteht (Fischer, Strafgesetzbuch, 67. Aufl. 2020, § 54 Rn. 7a m. w. N.). Die Bemessung der Gesamtstrafe ist im Wege einer Gesamtschau des Unrechtsgehalts und Schuldumfangs vorzunehmen (ebd.).

Unter Berücksichtigung der weiteren gegen den Angeschuldigten geführten Verfahren ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr im Rahmen einer Gesamtstrafenbildung nicht annähernd ersichtlich. Es handelt sich jeweils um kleinere Vergehen des nicht vorbestraften Angeschuldigtem in engem zeitlichem und sachlichem Zusammenhang. Die Einschätzung der Staatsanwaltschaft, dass jeweils nur mit Geldstrafen zu rechnen ist, ist dabei nicht verfehlt.

Das Verfahren weist auch keine besondere Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage auf. Es handelt sich in sachlicher Hinsicht um ein auch für den Laien überschaubares Verfahren mit einem einfach gelagerten Vorwurf. Auch in rechtlicher Hinsicht besteht keine besondere Schwierigkeit. Der Strafbefehl umfasst lediglich zwei Tatbestände, den der (einfachen) Körperverletzung und den der Nötigung, die auch für den Laien begreifbar sind.

Eine Pflichtverteidigerbestellung war auch nicht auf den ersten Antrag von Rechtsanwalt pp. vom 15.04.2020 unter Berücksichtigung des § 141 Abs. 1, Abs. 2 StPO geboten. Die Vorschrift setzt einen Fall notwendiger Verteidigung voraus (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, StPO § 141 Rn. 3). Vorliegend stand von Beginn des Ermittlungsverfahrens an nicht fest, ob ein Raub oder lediglich Körperverletzung und Nötigung vorgeworfen werden können, mithin war zu diesem Zeitpunkt ein Fall notwendiger Verteidigung nicht gegeben.

Auch hier: Meyer-Goßner/Schmitt in der 61. Auflage. Was ist los in Braunschweig?