Die zweite Entscheidung, der OLG Naumburg, Beschl. v. 30.06.2020 – 1 Rv 94/20 -, hat mir mal wieder der Kollege Funck geschickt. Er behandelt einen Fall aus der Hauptverhandlung, nämlich das Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO).
Das AG verurteilt den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe. Dagegen die Revision, die Erfolg hat:
„Zu Recht rügt die Revision einen Verstoß gegen § 261 StPO. Das Amtsgericht legt seinem Urteil Beweismittel zugrunde, namentlich das Betäubungsmittelgutachten des Landeskriminalamts vom 20. August 2019, die es nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht hat. Das Amtsgericht hat zwar durch Beschluss das Selbstleseverfahren im Sinne des § 249 Abs. 2 StPO unter anderem für dieses Behördengutachten angeordnet. Es hat sodann aber nicht festgestellt, dass die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben.
Die Verfahrensrüge ist zulässig im Sinne des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO erhoben worden. Der mitgeteilte Verfahrensablauf ist, wie sich dem auf die Verfahrensrüge hin eröffneten und auch durch die Revision mitgeteilten Inhalt des Hauptverhandlungsprotokolls entnehmen lässt, zutreffend wiedergegeben.
Die Rüge ist auch nicht deshalb unzulässig, weil eine vorherige Entscheidung des Gerichts gemäß § 249 Abs. 2 S, 2 StPO oder § 238 Abs. 2 StPO nicht herbeigeführt wurde (s. OLG Celle, Beschluss vom 3. Februar 2016 — 2 Ss 211/15, BeckRS 2016, 108236). Denn dies ist nur dann der Fall, wenn es darum geht, ob die Anordnung des Selbstleseverfahren als solches zulässig war (dann § 249 Abs. 2 S. 2 StPO) oder die Art und Weise der Durchführung des Selbstleseverfahren beanstandet werden soll (dann § 238 Abs. 2 StPO). Das ist hier nicht der Fall.
Die Rüge ist auch begründet. Im Urteil heißt es, dass die Feststellungen bezüglich der Qualität und Quantität der sichergestellten Betäubungsmittel aufgrund des in die Beweisaufnahme eingeführten Behördengutachtens vom 20. August 2019 getroffen worden seien (UA Seite 10). Dies verletzt § 261 StPO, weil aufgrund der negativen Beweiskraft des Protokolls (vergleiche § 274 StPO) davon auszugehen ist, dass das Gutachten nicht zur Kenntnis gelangt und es dem Revisionsgericht auch verwehrt ist, dies im Wege des Freibeweises zu erforschen (BGH, Beschluss vom 7. Juli 2004 – 5 StR 412/03, in: NStZ 2005, 160),
Die Revision trägt im Übrigen auch, was erforderlich ist (vgl. MüKoStPO/Kreicker, 1. Aufl. 2016, StPO § 249 Rn. 79), vor, dass der Inhalt des Gutachtens nicht auf andere Weise in die Hauptverhandlung eingeführt wurde. Auch geben weder das Hauptverhandlungsprotokoll noch die entsprechende Formulierung im Urteil („die Feststellungen […] hat das Gericht aufgrund des in die Beweisaufnahme eingeführten Behördengutachtens […] getroffen“) einen Anhaltspunkt dafür, dass die hier relevanten Teile des Gutachtens im Wege des Vorhalts bei der Vernehmung des Angeklagten oder der Zeugen in die Hauptverhandlung eingeführt worden sein könnten.“