Heute dann mal ein Tag „Kessel Buntes“ – ja, ich weiß, ist an sich immer Samstags. Aber heute dann auch mal in der Woche, und zwar mit Entscheidungen, die ich in der letzten Zeit von Kollegen übersandt bekommen habe, und die zu verschiedenen Themen.
Und ich starte mit dem LG Saarbrücken, Beschl. v. 11.02.2020 – 3 Qs 11/20 -, den mir der Kollege Marius Müller aus Saarbrücken gestern geschickt. Ich bringe den Beschluss dann gleich heute, weil er m.E. für die Praxis wichtig ist. Es handelt sich nämlich (wahrscheinlich) um einen der ersten zum neuen Recht der Pflichtverteidiggung. Und so etwas kann man als Verteidiger immer gebrauchen.
Im Streit war die Frage einer Bestellung nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO, und zwar Anklage zum Jugendschöffengericht. Das AG hat „gemauert“ und meinte: Es muss nicht beigeordnet werden, § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO gitl nicht auch für das Jugendschöffengericht, zudem ist die Angeklagte nur zufällig wegen des Mitangeklagten beim Jugendschöffengericht (mit)angeklagt. Das LG sieht das – m.E. zutreffend – anders:
„Das als sofortige Beschwerde auszulegende (§ 300 StPO) Rechtsmittel ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 142 Abs. 7 S. 1 StPO) sowie fristgemäß eingelegt (§ 311 Abs. 2 StPO), und hat auch in der Sache Erfolg,
Die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nach § 68 Nr. 1 JGG nF i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nF liegen vor.
1. Nach der Bestimmung des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO in der Fassung des am 13.12.2019 in Kraft getretenen Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, welches die sog. Prozesskostenhilferichtlinie (Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26.11.2010) in deutsches Recht umgesetzt hat, liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung u.a. dann vor, wenn zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Schöffengericht statt-findet. Weiterer Voraussetzungen bedarf es nicht.
a) Bereits nach der bisherigen Rechtslage war gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO aF für den Fall notwendiger Verteidigung allein maßgebend, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht stattfindet. § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO aF erfasste alle Verfahren, die im ersten Rechtszug vor den genannten Gerichten verhandelt wurden, und zwar auch dann, wenn diese Gerichte sachlich unzuständig waren (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 35. Ed. 1.10.2019, StPO § 140 Rn. 3; KK-StP0Millnow, 8. Aufl. 2019, StPO § 140 Rn. 8; KMR-StPO/Hainzmann, 62, EL, § 140, Rn. 7; Lüderssen in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2007, § 140, Rn. 21; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 140, Rn. 11; MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, 1. Aufl. 2014, StPO § 140 Rn. 12; SSW-StPO/Beulke, 4. Aufl. 2020, § 140, Rn. 12). Entscheidend war ausschließlich die tatsächliche Verhandlung bzw. der Anklageadressat und nicht die formelle Zuständigkeit für die erste Instanz (vgl. MüKoStPO/Thomas/Kämpfer aaO).
b) In gleicher Weise findet die Bestimmung in § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nF Anwendung, wonach die Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht eingeschränkt, sondern in zeitlicher und sachlicher Hinsicht erweitert werden sollten. Ausgangspunkt für die Beurteilung ist danach nicht mehr das Hauptverfahren, sondern bereits das Ermittlungs- und das Zwischenverfahren (vgl. BT-Drucks 19/13829, S. 32). In sachlicher Hinsicht bleibt aber die rein tatsächliche Beurteilung maßgebend ist, ob die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor einem der in § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nF genannten Gerichte stattfinden wird (vgl. BT¬Drucks 19/13829, aaO). Dabei geht der Gesetzgeber davon aus, dass immer dann, wenn Anklage zu einem der genannten Gerichte erhoben worden ist, die Erwartung im Sinne der Nr. 1 grundsätzlich gegeben ist (BT-Drucks 19/13829, aaO). Die Beurteilung erfolgt im Zwischenverfahren aus Sicht des Gerichts, bei dem Anklage erhoben ist, wobei die Erwartung dann entfällt, wenn das Gericht zur Auffassung gelangt, dass das Verfahren vor einem nicht unter § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nF genannten Gericht zu eröffnen ist (BT-Drucks 19/13829, aaO).
2. Diese, an den tatsächlichen Verfahrensumständen ausgerichtete Beurteilung, gilt auch im Fall von § 68 Nr. 1 JGG nF. Nach dieser Vorschrift liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung im Jugendstrafverfahren vor, wenn im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde.
a) Bereits nach § 68 Nr. 1 JGG aF verwies die Vorschrift unter anderem auf § 140 Abs. 1 StPO aF (vgl. BeckOK JGG/Noak, 15. Ed. 1.11.2019, JGG § 68 Rn. 19; Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 7. Aufl. 2015, § 68, Rn. 9; Eisenberg JGG, 20. Aufl. 2018, JGG § 68 Rn. 21; Ostendorf, JGG, 10. Aufl. 2016, § 68, Rn. 7). Auch in diesem Zusammenhang kam es nach alter Rechtslage bislang ausschließlich darauf an, ob die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor einem höheren Gericht als dem Amtsgericht stattfindet, mithin war nicht entscheidend, ob die Zuständigkeit in zutreffender Weise angenommen worden ist (vgl. Eisenberg aaO).
b) Hieran hat sich auch durch das am 17.12.2019 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im. Jugendstrafverfahren, das der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 vom 11.05.2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, dient, nichts geändert (vgl. BT-Drucks 19/13837, S. 27). Die Fälle der notwendigen Verteidigung sind in § 68 JGG und § 140 Abs. 1 StPO vom Gesetzgeber selbst abstrakt festgelegt (BT-Drucks 19/13837, aaO). In diesen Fällen der vom Gesetz bestimmten notwendigen Verteidigung kann nicht von der Unterstützung durch einen Rechtsbeistand abgewichen werden (BT-Drucks 19/13837, aaO).
c) Auch vermittelt die Bestimmung des § 68 Nr. 5 JGG nF keinen ausschließenden Vorrang vor der Regelung in § 68 Nr. 1 JGG. Gegen eine solche Annahme spricht bereits die Systematik der Bestimmung. Sowohl in der bisherigen Fassung als auch in der aktuellen Fassung ist die Aufzählung in den Nummern 1 bis 5 alternativ („oder“). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Gesetzesbegründung. Auch Sinn und Zweck sprechen dafür, § 68 Nr. 5 JGG nF keine Vorrangstellung gegenüber § 68 Nr. 1 JGG nF einzuräumen. Denn durch den Verweis des § 68 Nr. 1 JGG nF auf § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nF soll der Beschuldigte im Jugendstrafverfahren den gleichen Schutz wie ein Erwachsener genießen. Kommt es aber bei einem Erwachsenen — wie dargelegt — bei einem Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nF nicht auf die Straferwartung, sondern auf den Umstand an, dass zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht stattfindet, so kann im Jugendstrafverfahren über § 68 Nr. 1 JGG nF nichts anderes gelten.
Ausgehend hiervon ist der Angeklagten pp. ebenfalls ein Pflichtverteidiger beizuordnen. Entscheidend ist allein, dass — wie hier – eine Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem (Jugend-) Schöffengericht zu erwarten ist.“