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Verkehrsrecht I: Polizeiflucht als Alleinrennen?, oder: Absicht, maximale Geschwindigkeit zu fahren

Heute mache ich dann mal wieder einen „Verkehrsrechtstag“, also drei Entscheidungen zu verkehrsrechtlichen Fragen.

Ich beginne mit dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 14.10.2022 – 1 OLG 2 Ss 27/22, der eine Verurteilung wegen Verstoßes gegen § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB zum Gegenstand hat. Der Angeklagte wurde am 03.06.2021 gegen 1.48 Uhr von einer Polizeistreife auf einem Parkplatz angetroffen, wo er mit seinem Pkw Mercedes-Benz mit durchdrehenden Reifen fahrend und um Parkplatzbegrenzungen driftend angekommen war. Als der Polizeibeamte an sein Fahrzeug herantrat, um ihn einer Personenkontrolle zu unterziehen, setzte der Angeklagte sein Fahrzeug abrupt aus der Parklücke zurück und beschleunigte den Pkw massiv, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen und sich so der polizeilichen Kontrolle zu entziehen. Mit weit überhöhter Geschwindigkeit missachtete er eine rot zeigende Wechsellichtzeichenanlage, befuhr die sich anschließende Straße mit einer deutlich über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h liegenden Geschwindigkeit, ignorierte eine einmündende Vorfahrtsstraße und überfuhr mit mindestens 70 km/h eine weitere rot anzeigende Wechsellichtzeichenanlage. Nach einer Gesamtfahrtstrecke von 250 m bog der Angeklagte links ab. Dadurch verlor ihn der Polizeibeamte, der mit seinem Fahrzeug die Verfolgung aufgenommen hatte, aus dem Blick. Bei der anschließenden Nahbereichsfahndung wurde der Pkw von einer hinzugerufenen Streifenwagenbesatzung aufgefunden. Das Landgericht hat diesen Sachverhalt rechtlich als verbotenes Kraftfahrzeugrennen gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB gewertet.

Das LG hat den Sachverhalt rechtlich als verbotenes Kraftfahrzeugrennen gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB gewertet. Dem Angeklagten sei es darum gegangen, die gefahrene Geschwindigkeit bis zur Grenze der situativ möglichen Höchstgeschwindigkeit zu steigern, um sich der polizeilichen Kontrolle zu entziehen. Dies resultiere aus der durch den ihn verfolgenden Polizeibeamten festgestellten Geschwindigkeit von mindestens 70 km/h und dem Umstand, dass er ungebremst eine Vorfahrtsstraße sowie zwei rot zeigende Lichtzeichenanlagen bei Nacht überfahren habe. Das Geschehen habe sich auf einer nicht ganz unerheblichen Wegstrecke von etwa 250 m ereignet. Die dagegen gerichtete Revision hatte Erfolg:

„Die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe in der Absicht gehandelt, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung erweist sich als lückenhaft.

1. Bei einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen im Sinne des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB muss die Tathandlung im Sinne einer überschießenden Innentendenz von der Absicht des Täters getragen sein, nach seinen Vorstellungen auf einer nicht unerheblichen Wegstrecke die unter den konkret situativen Gegebenheiten maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Diese Absicht braucht nicht Endziel oder Hauptbeweggrund des Handelns zu sein. Es reicht vielmehr aus, dass der Täter das Erreichen der situativen Grenzgeschwindigkeit als aus seiner Sicht notwendiges Zwischenziel anstrebt, um ein weiteres Handlungsziel zu erreichen. Dies hat zur Folge, dass beim Vorliegen der weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen auch sogenannte Polizeifluchtfälle von der Strafvorschrift erfasst werden, sofern festgestellt werden kann, dass es dem Täter darauf ankam, als notwendiges Zwischenziel für eine erfolgreiche Flucht über eine nicht ganz unerhebliche Wegstrecke die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Dabei ist zu beachten, dass aus einer Fluchtmotivation nicht ohne Weiteres auf die Absicht geschlossen werden kann, die gefahrene Geschwindigkeit bis zur Grenze der situativ möglichen Geschwindigkeit zu steigern (BGH, Beschlüsse vom 17.02.2021 – 4 StR 225/20, BGHSt 66, 27 Rn. 16 f.; vom 24.03.2021 – 4 StR 142/20, juris Rn. 18 f.; vom 29.04.2021 – 4 StR 165/20, NStZ 2021, 615 Rn. 8 f.).

2. Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Vorliegen des Absichtselements ausschließlich auf die Bekundungen des den Angeklagten verfolgenden Polizeibeamten zu dessen Fahrverhalten gestützt. Es hat sich weder mit den auf der zurückgelegten Strecke unter den konkreten Gegebenheiten höchstmöglichen Geschwindigkeiten auseinandergesetzt, noch hat es dargelegt, inwieweit der Angeklagte versucht hat, diese zu erreichen. Allein der Umstand, dass der Angeklagte unter Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und von Vorfahrtsregelungen vor der Polizei flüchtete, genügt nicht, um auf die zur Verwirklichung des Tatbestandes erforderliche Absicht zu schließen. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers sollen bloße Geschwindigkeitsüberschreitungen nicht von der Strafbarkeit erfasst werden, selbst wenn sie erheblich sind (s. BT-Drucks. 18/12964 S. 6). Soweit das Landgericht darauf abgestellt hat, dass der Angeklagte mindestens 70 km/h gefahren sein müsse, weil der Zeuge 60 km/h gefahren sei und sich der Abstand zu dem Angeklagten „rasant“ vergrößert habe, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, ob das Landgericht bei der Würdigung der Zeugenaussage und der darauf aufbauenden Schätzung der vom Angeklagten gefahrenen Geschwindigkeit berücksichtigt hat, dass der Zeuge bei Beginn der Flucht nicht in seinem Fahrzeug gesessen hat, sondern ausgestiegen und an den Pkw des Angeklagten herangetreten war. Die Strafkammer hätte näher in den Blick nehmen müssen, ob und inwieweit die Bewertung der von dem Angeklagten gefahrenen und angestrebten Geschwindigkeiten dadurch erschwert gewesen sein könnte, dass der Zeuge die Verfolgung nicht unmittelbar nach Beginn der Fluchtfahrt hat aufnehmen können und der Angeklagte schon allein deshalb einen Vorsprung hatte.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Das objektive Tatbestandselement der unangepassten Geschwindigkeit meint jede der konkreten Verkehrssituation nach den straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht mehr entsprechende Geschwindigkeit und erfasst sowohl Verstöße gegen die Gebote des § 3 Abs. 1 StVO als auch Überschreitungen der in § 3 Abs. 3 StVO geregelten allgemeinen Höchstgeschwindigkeit (BGH, Beschlüsse vom 17.02.2021 – 4 StR 225/20, BGHSt 66, 27 Rn. 13; vom 24.03.2021 – 4 StR 142/20, juris Rn. 16, jeweils mwN). Soweit der Senat in seiner früheren Entscheidung die Auffassung vertreten hat, dass nicht entscheidend auf die Überschreitung der am Tatort zugelassenen Geschwindigkeit abzustellen sei, sondern darauf, ob das Fahrzeug bei der gefahrenen Geschwindigkeit noch sicher beherrscht werden kann (Beschluss vom 19.05.2020 – 1 OLG 2 Ss 34/20, juris Rn. 8), hält er hieran nicht fest.

b) Soweit die neue Verhandlung ergibt, dass sich der Angeklagte nicht wegen § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbar gemacht hat, wird zu prüfen sein, ob der Angeklagte wegen der Begehung verschiedener Verkehrsordnungswidrigkeiten, insbesondere wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen (§ 49 Abs. 1 Nr. 3, § 3 StVO) sowie Vorfahrts- und Wechsellichtzeichenverstößen (§ 49 Abs. 1 Nr. 2, 8, §§ 8, 37 StVO) zu verurteilen ist. Diese sind wegen der verjährungsunterbrechenden Maßnahmen der ersten Vernehmung am 09.08.2021 (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG) und des Erlasses des Strafbefehls am 21.09.2021 (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 15 OWiG) bis zur erstinstanzlichen Verurteilung am 14.12.2021 nicht verjährt. Seither ruht die Verjährung (§ 32 Abs. 2 OWiG).“

Verkehrsrecht II: Alleinrennen, oder: Höchst mögliche Geschwindigkeit

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt dann auch vom BayObLG. Das hat sich dann im BayObLG, Beschl. v. 22.07.2020 – 207 StRR 245/20 -, in dem es vorrangig um eine Straßenverkehrsgefährdung ging, auch zum verbotenen Kraftfahrzeugrennen in der Form des Alleinrennens (§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB) geäußert.

Angeklagt war ein verbotenes Kraftfahrzeugrennen mit Todesfolge Das AG hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) verurteilt. Auf die hiergegen von der Staatsanwaltschaft eingelegte Berufung hat das LG  den Angeklagten der fahrlässigen Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs schuldig gesprochen. Dagegen dann die Revision des Angeklagten, die (vorläufig) Erfolg hatte.

Auszugehen war von folgenden Feststellungen:

„Am 09.06.2018 stand dem Angeklagten das Fahrzeug BMW M 850i, amtl. Kennzeichen pp. der BMW AG zur Verfügung. Das Fahrzeug war am 19.03.2018 erstmals zugelassen worden und hatte einen Kilometerstand von 6.160 km. Die Motorleistung betrug 390 KW, es hatte einen Vierradantrieb. An diesem Tag war er bereits mit dem Fahrzeug in Würzburg und hatte seinen Sohn besucht. Das Fahrzeug war mit diversen Sicherheitssystemen ausgestattet, u.a. einer aktiven Hinterradlenkung, die unterhalb einer Geschwindigkeit von ca. 82 – 88 km/h mit Lenkeinschlag entgegen der Vorderachse mitlenkt, um so die Fahrstabilität bei Kurvenfahrt zu gewährleisten. Weiterhin war das Fahrzeug mit einem Anti-Schleuder-Programm („DSC“) ausgestattet.

Dieses System hatte der Angeklagte händisch deaktiviert.

Mit diesem Fahrzeug fuhr der Angeklagte am 09.06.2018 gegen 22.40 Uhr auf der Kreisstraße LA 45 im Gemeindebereich 84155 Bodenkirchen in Richtung Michlbach. Die Fahrt wurde aufgrund eines Wunsches der Mutter seiner jetzigen Ehefrau und damaligen Verlobten, der Beifahrerin R. V. durchgeführt. Die Fahrstrecke war dem Angeklagten nicht bekannt. Der Angeklagte war zu diesem Zeitpunkt weder alkoholisiert noch stand er unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln. Er und die Beifahrerin waren angeschnallt. Am Unfallort bestand keine Geschwindigkeitsbegrenzung.

Auf Höhe Abschnitt 100, Kilometer 0,9 durchfuhr der Angeklagte in einem Waldstück eine Kurvenkombination aus einer Links-, Rechts- und anschließenden Linkskurve. Die Sichtweite für den Angeklagten betrug ca. 100 m bei einem Lichtkegel von etwa 50 m. Unter grober Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt durchfuhr der Angeklagte die Kurvenkombination mit einer Mindestgeschwindigkeit von 116 km/h unter Ausnutzung der Gegenfahrbahn. Ein sportlicher Normalfahrer hätte diese Kurvenkombination mit einer Geschwindigkeit von maximal 70 km/h durchfahren; ein geschulter, professionell agierender Fahrzeugführer hätte die Kurvenkombination mit einer Maximalgeschwindigkeit von 95 km/h regulär durchfahren können.

Der Angeklagte wäre nicht mehr in der Lage gewesen, bei Gegenverkehr rechtzeitig auszuweichen. Aufgrund der überhöhten Geschwindigkeit geriet das Fahrzeug in der zweiten Linkskurve außer Kontrolle. Der Angeklagte hatte bewusst das AntiSchleuder-Programm ausgeschaltet. Das Fahrzeug brach mit dem Heck nach links aus, der Angeklagte konnte das Fahrzeug nicht mehr abfangen, so dass es nach rechts von der Fahrbahn abkam, dabei noch eine Geschwindigkeit von mindestens 91 km/h hatte und mit einem Baum kollidierte und anschließend auf das Fahrzeugdach fiel. Der Einschlag auf dem Fahrzeugdach hatte, für den Angeklagten vorhersehbar, zur Folge, dass die Beifahrerin R. V. massive Körperverletzungen, insbesondere verbunden mit einer Öffnung der Schädeldecke erlitt und am Unfallort noch verstarb. Der Angeklagte selbst erlitt leichte Schnittverletzungen über dem rechten Auge.
1. Eine Strafbarkeit nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. d StGB setzt einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der konkreten Gefahr und den durch die Unübersichtlichkeit der Strecke begründeten Risiken voraus. Dieser Zusammenhang kann nur festgestellt werden, wenn auszuschließen ist, dass die konkrete Gefahr nur gelegentlich des zu schnellen Fahrens entstanden ist, also positiv festzustellen ist, dass die Gefahr ohne die Unübersichtlichkeit des Streckenverlaufs nicht eingetreten wäre.“

Die Revision des Angeklagten hatte Erfolg. Nach Auffassung des BayObLG tragen die Feststellungen des LG tragen eine Verurteilung des Angeklagten unter dem Gesichtspunkt des § 315c Abs. 1 Nr. 2d StGB nicht.

Dazu sagt das BayObLG in seinem Leitsatz 1:

Eine Strafbarkeit nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. d StGB setzt einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der konkreten Gefahr und den durch die Unübersichtlichkeit der Strecke begründeten Risiken voraus. Dieser Zusammenhang kann nur festgestellt werden, wenn auszuschließen ist, dass die konkrete Gefahr nur gelegentlich des zu schnellen Fahrens entstanden ist, also positiv festzustellen ist, dass die Gefahr ohne die Unübersichtlichkeit des Streckenverlaufs nicht eingetreten wäre. „

Den Zusammenhang sieht das BayObLG nicht und hat aufgehoben.

Es führt dann zu § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB aus:

„c) Die in der Anklage ursprünglich angenommene Strafbarkeit nach § 315d Abs. 1 Nr. 3, Abs. 5 StGB, hinter der eine Strafbarkeit nach § 222 StGB zurücktreten würde (Fischer, a. a. O. § 222 Rn. 34), kommt nicht in Betracht. Die Feststellung, die Getötete habe sich „bewusst in das Fahrzeug gesetzt um zu sehen, was das Fahrzeug könne“, legt zwar nahe, dass der Angeklagte mit seiner Fahrweise das Fahrzeug an seine Grenze führen wollte. Eine höchstmögliche Geschwindigkeit im Sinne von § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB will erreichen, wer möglichst schnell fahren will (Fischer, a. a. O., § 315d Rn. 17). Dabei geht es nicht um die höchste bauartbedingt erreichbare Geschwindigkeit auf freier Strecke, sondern um die nach den objektiven Umständen (Fischer a. a. O. § 315d StGB, Rn. 18), insbesondere nach dem Streckenverlauf höchst mögliche erreichbare Geschwindigkeit. Darauf, ob der Angeklagte in dieser Situation – wie in der Anklageschrift angenommen – ein „Driften“ des Fahrzeugs angestrebt hat oder nicht, kommt es für die Tatbestandsmäßigkeit im Sinne von § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht zwingend an, auch wenn darin ein Indiz für die Bejahung des Tatbestands zu sehen sein kann.

Die Anwendung des § 315d Abs. 5 StGB setzt aber darüber hinaus voraus, dass dem Angeklagten nicht nur im Hinblick auf den Verkehrsverstoß, sondern auch hinsichtlich der Herbeiführung der konkreten Gefährdung Vorsatz anzulasten wäre. Das Bewusstsein irgendeiner möglichen Gefahr genügt nicht. Vielmehr setzt Vorsatz in diesem Sinne voraus, dass dem Angeklagten die Kenntnis der Umstände, die einen konkreten Gefahrenerfolg als naheliegende Möglichkeit erscheinen lassen, anzulasten ist (so für die gleichgelagerte Fragestellung bei § 315c Abs. 1 StGB BGH, Beschl. v. 18. November 2017, 4 StR 542/97, NStZ-RR 1998, 150, juris Rn. 8 m. w. N.). Nach den Feststellungen des Landgerichts kannte der Angeklagte die Strecke nicht, so dass das Vorliegen des Verbrechenstatbestands nach § 315d Abs. 5 StGB auszuschließen ist, unabhängig davon, ob dem Angeklagten nachgewiesen werden kann, dass er im Sinne von § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB mit seiner Fahrweise eine höchstmögliche Geschwindigkeit erreichen wollte.“