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Selbständiges Einziehungsverfahren nach § 29a OWiG, oder: Abrechnungsvariante 4.0

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In Rechtsprechung und Literatur ist die Frage, welche Gebühren der Rechtsanwalt abrechnen kann, der den Betroffenen allein im selbständigen Einziehungsverfahren nach § 29a OWiG verteidigt hat, wenn eine Geldbuße nicht festgesetzt worden ist, umstritten. Das LG Hamburg hat zu den bislang vertretenen Auffassungen nun mit dem LG Hamburg, Beschl. v. 18.10.2021 – 612 Qs 100/20 – noch eine weitere Abrechnungsvariante hinzugefügt. Da der Beschluss mit rund 16 Seiten (!) ein Mammutbeschluss ist, gibt es hier dann nur eine Zusammenfassung:

Einig ist sich die Rechtsprechung in diesen Fällen, dass aufgrund der anwaltlichen Tätigkeit des Verteidigers im Einziehungsverfahren vor dem Gericht des ersten Rechtzugs die Verfahrensgebühr Nr. 5116 Abs. 1 VV RVG entstanden ist.

Die Frage, ob im Rahmen eines selbstständigen Einziehungsverfahren nach § 29a OWiG, bei dem der Verteidiger allein im Einziehungsverfahren tätig wird und eine Geldbuße nicht festgesetzt worden ist, neben dem Gebührentatbestand der Nr. 5116 VV RVG zusätzlich zum einen die Grundgebühr nach Nr. 5100 VV RVG, aber auch die weitere Vergütung nach den Nr. 5101-5114 VV RVG anfallen kann, wird aber dann sowohl in Rechtsprechung als auch Literatur uneinheitlich beurteilt, und zwar wie folgt:

  • Nach einer Ansicht sollen für die anwaltliche Tätigkeit in diesen Fällen allein die Gebühren nach Nr. 5116 VV RVG entstehen (OLG Karlsruhe AGS 2013, 173 = RVGreport 2012, 301 = StRR 2012, 279 = VRR 2012, 319 m. jew. abl. Anm. Burhoff; LG Kassel RVGreport 2019, 343; LG Koblenz AGS 2018, 494 = RVGreport 2018, 386; Krumm, in: Mayer/Kroiß, RVG, 8. Aufl. 2021, Vorbemerkung 5 Rn. 3),
  • Nach anderer Ansicht sollen sowohl die Gebühr nach Nr. 5100 VV RVG als auch die Gebühren Nr. 5101-5114 VV RVG anfallen (LG Karlsruhe AGS 2013, 230 = VRR 2013, 238 = RVGreport 2013, 234 = DAR 2013, 358 = RVGprofessionell 2013, 119 = StRR 2013, 310; LG Oldenburg AGS 2014, 65 = JurBüro 2013, 135 = RVGreport 2013, 62 = VRR 2013, 159 = StRR 2013, 314 = RVGprofessionell 2013, 153; LG Stuttgart RVGreport 2020, 347 = DAR 2020, 358 = RVGprofessionell 2020, 131; LG Trier, RVGreport 2016, 385 = VRR 10/2016,20; Burhoff, in: Gerold/Schmidt, 25. Aufl. 2021, RVG W 5116 Rn. 1; Knaudt, in: BeckOK RVG, 53. Ed. 1.9.2021, RVG VV Vorbemerkung 5 Rn. 5.1).
  • Nach einer vermittelnden Ansicht können neben der Verfahrensgebühr 5116 VV RVG auch die Grundgebühr nach Nr. 5100 VV RVG, nicht aber die weiteren Gebühren für anwaltliche Tätigkeiten im Verwaltungsverfahren und gerichtlichen Verfahren nach Nr. 5101 – 5114 VV RVG geltend gemacht werden (LG Freiburg AGS 2020, 122 = StRR 6/2020, 31 = JurBüro 2020, 130 = RVGprofessionell 2020, 69 = RVGreport 2020, 461).

Das LG Hamburg toppt das nun noch und fügt noch eine Variante 4 hinzu: Es geht nämlich für diese Fälle davon aus,

  • dass neben der Gebühr nach Nr. 5116 VV RVG sowohl die Grundgebühr (Nr. 5100 VV RVG) als auch die Gebühren für das Verfahren vor der Verwaltungsbehörde (Nr. 5101 – 5106 VV RVG) anfallen können, nicht hingegen die Gebühren für das gerichtliche Verfahren im ersten Rechtszug nach Nr. 5107 – 5114 VV RVG. Das Entstehen der Grundgebühr Nr. 5100 VV RVG begründet das LG mit der Systematik des Teils 5 VV RVG, dem Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen und dem Regelungszweck der Nr. 5116 VV RVG im Einziehungsverfahren.
  • Nach Auffassung des LG besteht grundsätzlich auch ein Anspruch auf Gewährung der Verfahrensgebühr im Verwaltungsverfahren (Nr. 5101-5106 VV RVG). Dies folgt für das LG wiederum aus dem Wortlaut und der Systematik der gesetzlichen Vergütungsverzeichnisse, insbesondere aus der Zusammenschau aus Vorbem. 5 Abs. 1 VV RVG und Vorbem. 5.1 Abs. 2 Satz 2 VV RVG.
  • Nach Auffassung des LG verdient der Verteidiger des Betroffenen im selbständigen Einziehungsverfahren ohne Geldbuße jedoch keine Gebühren für das gerichtliche Verfahren nach Nr. 5107 – 5112 VV RVG. Insofern mangelt es aufgrund des fehlenden festgesetzten Bußgeldes an einer mit Vorbem. 5.1 Abs. 2 VV RVG vergleichbaren Regelung, die auch bei gerichtlichen Verfahren eine Orientierung am mittleren Betrag der in der Bußgeldvorschrift angedrohten Geldbuße erlaubt. Eine analoge Anwendung der Vorbem. 5.1 Abs. 2 Satz 2 VV RVG scheidet nach Auffassung des LG aus, da deren Voraussetzungen nicht vorliegen.

Für mich ist nicht nachvollziehbar, warum man nun noch eine Variante 4 entwicklen muss(te). Denn die entschiedene Frage ist weitgehend ausdiskutiert, wie die o.a. zahlreichen Rechtsprechungsnachweise zeigen.  Zumal von den Gerichten, die auch die Gebühren für das gerichtliche Verfahren gewähren (LG Karlsruhe, LG Oldenburg, LG Stuttgart, LG Trier, jeweils a.a.O.) überzeugend dargelegt worden ist, dass und warum eine analoge Anwendung der Regelung der Vorbem. 5.1 Abs. 2 Satz 2 VV RVG möglich und sinnvoll ist (Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O. Nr. 5116 Rn. 1 und Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, 6. Aufl. 2021, Nr. 5115 VV Rn 5).

Nachträgliche Gesamtstrafenbildung II: Die Gebühren des Verteidigers, oder: Was macht das OLG?

Ich hatte vorhin den LG Cottbus, Beschl. v. 20.04.2018 – 23 KLs 24/14  – vorgestellt (dazu Nachträgliche Gesamtstrafenbildung I: Welche Gebühren verdient der Verteidiger des Erkenntnisverfahrens?). 

Ich denke, niemand ist überrascht, wenn er nun erfährt, dass der Vertreter der Staatskasse natürlich ins Rechstmittel gegangen ist und Beschwerde eingelegt hat. Alles andere wäre eine Überraschung gewesen. Aber: Das hat auch etwas Gutes. Denn nun liegt eine OLG-Entscheidung zu der Problematik vor, nämlich der OLG Brandenburg, Beschl. v. 05.07.2018 – 2 Ws 106/18. Und der sieht es genauso wie das LG Cottbus und ich. Sehr schön:

„Das Landgericht hat mit Recht die vom Pflichtverteidiger geltend gemachte Verfahrensgebühr gemäß RVG-VV Nr. 4204 für die Tätigkeit im Verfahren der nachträglichen Gesamtstrafenbildung als erstattungsfähig bewertet.

Das Verfahren der nachträglichen Gesamtstrafenbildung erfasst die Fälle, in denen die nach § 55 StGB grundsätzlich zwingend gebotene Gesamtstrafenbildung im Erkenntnisverfahren unterblieben ist (Meyer Goßner/Schmitt, 61, § 460 Rn. 1). Das Gesetz ordnet dieses Verfahren ausweislich der Stellung von § 460 StPO im 7. Buch, 1. Abschnitt, der Strafprozessordnung systematisch der „Strafvollstreckung“ zu, was es rechtfertigt, die für das Vollstreckungsverfahren geltende Vergütungsregelung heranzuziehen. Dies entspricht auch der herrschenden, in der Kommentarliteratur vertretenen Auffassung (BeckOK RVG, v. Seltmann/Knaudt, RVG VV 4204 Rn. 3; Stollenwerk in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht 2. Aufl. VV RVG Nr. 4200-4207 Rn. 11; Kremer in: Riedel/Sußbauer, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz 10. Aufl. RVG [VV 4204] Rn. 4; Burhoff StRR 2010, 93). Die vom Landgericht Bonn hierzu vertretene abweichende Auffassung, die in dem dort zu Grunde liegenden Einzelfall auch nicht entscheidungserheblich geworden ist (Beschluss vom 13. März 2017 — 29 Qs 5/17, zitiert nach juris), vermag aus den von der Strafkammer in dem angefochtenen Beschluss zutreffend dargestellten Gründen nicht zu überzeugen.“

Das macht das Argumentieren in diesen Fällen sicherlich leichter.

Und: Das OLG bestätigt inzidenter auch, dass die Pflichtverteidigerbestellung aus dem Erkenntnisverfahren für das Verfahren der nachträglichen Gesamtstrafenbildung fortgilt. Wird häufig übersehen.