Heute dann ein StPO-Tag, und zwar mit zwei OLG-Entscheidungen und einer LG-Entscheiudung zu Zwangsmaßnahmen. In allen geht es um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme.
Ich beginne mit dem OLG Saarbrücken, Beschl. v. 06.07.2022 – 4 Ws 201/22 -, der sich mit U-Haft befasst. Der Angeklagte hatte gegen einen Haftbefehl Rechtsmittel eingelegt. Der Angeklagte wurde am 03.01.2022 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 04.01.2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Am 10. 06.2022 hat die Hauptverhandlung gegen die Angeklagten begonnen; diese dauert weiter an.
In der Sitzung vom 29.06.2022 hat der Verteidiger des Angeklagten Beschwerde gegen den Haftbefehl eingelegt. In dieser Sitzung – dem dritten Termin zur Hauptverhandlung – hat sich der Angeklagte – wie auch der Mitangeklagte K. – erstmals eingelassen und insbesondere Angaben zu seinem Betäubungsmittelkonsum gemacht. Beide Angeklagte haben sich bereit erklärt, aktiv an einer Exploration mitzuwirken und die sie behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbunden. Daraufhin wurden weitere Hauptverhandlungstermine bis zum 06.09.2022 vereinbart und die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens „zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 21, 64 StGB“ beschlossen. Zur Sachverständigen wurde Frau Dr. R. bestellt, die das Gutachten nach Rücksprache mit ihrem Büro im Hauptverhandlungstermin vom 17.08.2022 erstatten soll. Mit der Beschwerde macht der Verteidiger insbesondere geltend, ein solches Gutachten habe bereits früher eingeholt werden müssen, weil Anhaltspunkte für eine Rauschmittelabhängigkeit des Angeklagten schon zuvor bestanden hätten. Mit ähnlicher Argumentation in Bezug auf seinen Mandanten hat der Verteidiger des Mitangeklagten – erfolglos – die Aufhebung des diesen betreffenden Haftbefehls beantragt.
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg. Das OLG führt u.a. aus:
„3. Das Verfahren ist jederzeit mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden. Insbesondere ist es entgegen der Auffassung des Verteidigers nicht auf Versäumnisse der Ermittlungsbehörden zurückzuführen, dass entsprechend den unter I. geschilderten Abläufen erst während laufender Hauptverhandlung die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage einer etwaigen verminderten Schuldfähigkeit der Angeklagten (§ 21 StGB) und zu den Voraussetzungen ihrer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) veranlasst wurde und hierdurch eine – vergleichsweise geringfügige – Verzögerung des Verfahrensabschlusses eingetreten ist.
Zwar ist ein solches Gutachten stets zum frühestmöglichen Zeitpunkt einzuholen, nachdem die Ermittlungen hierzu Anlass geben. Bei der Einholung des Gutachtens ist es zur gebotenen Beschleunigung des Verfahrens zudem unerlässlich, auf eine zeitnahe Erstellung des Gutachtens hinzuwirken. Es sind deshalb mit dem Gutachter Absprachen darüber zu treffen, in welcher Frist ein Gutachten zu erstatten ist und ggfls. zu prüfen, ob eine zeitnähere Gutachtenerstattung durch einen anderen Sachverständigen zu erreichen ist. Der Gutachter ist auf die bestehende Haftsituation hinzuweisen. Gericht und Staatsanwaltschaft haben die zügige Gutachtenerstattung fortwährend zu kontrollieren und den Gutachter zur zügigen Bearbeitung anzuhalten. Es ist ferner zu beachten, dass in Fällen, in denen Entscheidungen wie die Anklageerhebung oder der Eröffnungsbeschluss nicht vom Ergebnis des Gutachtens abhängen, der Eingang des Gutachtens nicht unbedingt abgewartet werden muss, wenn z.B. offenkundig – wie hier – nur eine verminderte Schuldfähigkeit in Betracht kommt (Beschlüsse des 1. Strafsenats vom 18.03.2008 -1 Ws 8/08(H), 22.07.2009 –1 Ws 27/09(H), vom 02.06.2010 -1 Ws 15 und 16/10(H), vom 07.07.2010 – 1 Ws 20/10 (H) und vom 22.04.2015 – 1 Ws 7/15 (H) – juris).
Allerdings hat hinreichender Anlass zur Einholung eines Gutachtens bis zum Hauptverhandlungstermin vom 29.06.2022 nicht bestanden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich keiner der Angeklagten eingelassen, so dass nähere Erkenntnisse zu ihrem Konsumverhalten in Bezug auf Drogen nicht vorgelegen haben. Auch war nicht damit zu rechnen, dass die gegenüber den Ermittlungsbehörden schweigenden Angeklagten einem Sachverständigen gegenüber Angaben machen würden, so dass für diesen als Anknüpfungstatsachen lediglich die Aktenlage zur Verfügung gestanden hätte. Danach war zwar davon auszugehen, dass die Angeklagten in größerem Umfang mit Betäubungsmitteln unterschiedlicher Art Handel getrieben haben; auch hatten die Polizeibeamten bei der Festnahme der Angeklagten den Eindruck, dass diese „augenscheinlich unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln zu stehen schienen“ (Bl. 5 d.A.). Weitere Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagten in einem Ausmaß den Hang haben könnten, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, der eine Maßregel nach § 64 StGB rechtfertigen könnte, bestanden aber zu keinem Zeitpunkt, zumal es aus Sicht des Senats keinen Erfahrungssatz gibt, wonach Personen, die mit Betäubungsmitteln Handel treiben, diese auch immer wieder im Sinne einer eingewurzelten intensiven Neigung in einem Umfang konsumieren, durch den Gesundheit und Leistungsfähigkeit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt werden (Hangbegriff, vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 64 Rn 7, 7a). Noch weniger Anlass bestand für die Annahme, die Angeklagten könnten infolge akuter Intoxikation in ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit beeinträchtigt gewesen sein, zumal insbesondere der Beschwerdeführer noch in der Lage war zu versuchen, Beweismittel vor den Polizeibeamten zu verbergen (vgl. Bl. 4 d.A. letzter Absatz). Eine einzige – vergleichsweise geringfügige – einschlägige Vorverurteilung des im Übrigen erheblich vorgeahndeten Angeklagten datiert aus dem Jahr 2005 und hat für das aktuelle Konsumverhalten keinerlei Aussagekraft. Unter diesen Umständen war weder die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren gehalten, ein Sachverständigengutachten zu den genannten Punkten in Auftrag zu geben, noch musste das Landgericht nach erfolgter Anklageerhebung vor dem Hauptverhandlungstermin vom 29.06.2022 und den darin erfolgten erstmaligen Einlassungen der Angeklagten im Sinne des § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO die Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt erwägen und deswegen einen Sachverständigen hierzu vernehmen, zumal diese Vorschrift (auch) der Vermeidung überflüssiger Begutachtungen durch – nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehende – forensisch erfahrene Sachverständige dient (vgl. BGH, Beschluss vom 23.03.2022 – 6 StR 63/22, NStZ 2022, 432 m. Anm. Schneider).“.