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500-Blatt-Formel, oder: Was schert mich mein Geschwätz von gestern, jedenfalls aber: 500-Blatt-Formel, ade!

Heute am „Gebührenfreitag“ zwei nicht so schöne Entscheidungen. Bei dem OLG Düsseldorf, Beschl. v. 19.04.2016 – 3 AR 256 u. 257 u.  258 u. 259/16, den mir der Kollege B.Jäger aus Düsseldorf übersandt habe, war ich mir nicht so klar, wie ich das Posting eröffnen soll. Mit „Was schert mich mein Geschwätz von gestern?“ oder: „Da geht sie hin die schöne 500 Blatt-Formel“. Denn es geht um Pauschgebühr (§ 51 RVG) und die Frage: Wie wird eigentlich die Einarbeitung in umfangreiche Akten bewertet? Das OLG hatte diese Formel im OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.06.2015 – III 3 AR 65/14 entwickelt, war davon aber schon im OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.05.2016 – 3 AR 118/16 – nach Kritik ein wenig abgerückt. Nun hat es sich ganz abgewendet, aus welchen Gründen auch immer. Ich vermute, dass die Neubesetzung des Senatsvorsitzes nicht ganz ohne Einfluss ist/war. Denn seitdem der gewechselt hat, hat sich m.E. die Rechtsprechung zur Pauschgebühr aus Düsseldorf nicht unbedingt verbessert. Also würde auch passen. „Neue Besen kehren gut“. Nun ja, ob gut, lassen wir mal dahin stehen.

Jedenfalls gilt: 500-Blatt-Formel, ade:

„bb) Ein mit den Gebühren nach dem Vergütungsverzeichnis nicht angemessen abgegoltenes Schwergewicht der Arbeit der Pflichtverteidiger lag hier jedoch ohne Zweifel in der erstmaligen Einarbeitung in die Ermittlungsakten, die sich bis zum Beginn der Hauptverhandlung auf ca. 96.000 Seiten beliefen und damit im Vergleich zu einem normalen „Rechtsfall“ i. §. d. Nr. 4100 VV als weit überdurchschnittlich umfangreich erwiesen. Es liegt daher auf der Hand, dass die Antragsteller für diese Tätigkeit mit dem zumindest überwiegenden Teil ihrer Arbeitskraft für längere Zeit gebunden waren, so dass die gesetzlichen Gebühren für diesen Verfahrensabschnitt unzumutbar sind.

Der Senat bemisst die für diesen Verfahrensabschnitt zu gewährende Pauschvergütung allerdings nicht länger nach der von ihm entwickelten „500-Blatt-Formel“. Im Versuch der Schaffung einer objektiven Bewertungsgrundlage war der Senat davon ausgegangen, dass vom Pflichtverteidiger angesichts der Höhe der Grundgebühr der Nr. 4100 W das Studium einer Akte von nicht mehr als 500 Blatt erwartet werden könne, so dass diese Grundgebühr dem Gesamtumfang der Akten entsprechend verhältnismäßig erhöht wurde (vgl. im Einzelnen Senatsbeschluss vom 23. Juni 2015 — 111-3 AR 65/14; s.o.). Diese mathematische Herangehensweise ist nicht nur von anderen Oberlandesgerichten mangels hinreichender Eignung „für die Findung eines an sämtlichen Gesichtspunkten und am Gesamtgepräge eines konkreten Falles orientierten billigen und zumutbaren Ausgleichs für die entfaltete anwaltliche Tätigkeit“ abgelehnt worden (vgl. etwa OLG Stuttgart, Beschluss vom 4. Juli 2016 — 4 ARS 91/15 juris). Auch führt sie in Umfangsverfahren heutigen Zuschnitts, die — gerade im Bereich der Kommunikationsüberwachung — von flächendeckender Informationssammlung mit umfassendem Datenbestand geprägt sind, zu keinen hinreichend angemessenen Ergebnissen. Die Akteninhalte sind nicht mehr in ihrer Gesamtheit per se klassischer Lesestoff, sondern bedürfen in großen Teilen lediglich der kursorischen Erfassung und sind Grundlage für computergestützte Recherchen. Dieses Bild ergibt sich auch im vorliegenden Verfahren. Der Senat hat die gesamten zu Beginn der Hauptverhandlung existenten ca. 96.000 Blatt Akten und Beiakten einer aufwändigen stichprobenartigen Sichtkontrolle unterzogen und dabei festgestellt, dass nur etwa ein Drittel davon eigentliches Lesematerial enthält. Der restliche (Groß-)Teil besteht aus Deckblättern, teilbeschrifteten Seiten, Doppeln, Fotos, Quittungen, Formularen und Vertragsbedingungen, Tabellen, TKO-Ereignis- und E-Mail-Listen sowie sonstigen technischen Daten. Wenn natürlich auch diese Aktenbestandteile eine gewisse geistige Aufmerksamkeit der Antragsteller erforderten, so handelt es sich doch nicht um diejenigen Akteninhalte, deren sachgerechte Bewertung der Senat durch die Schaffung der „500-Blatt-FormeI“ bewirken wollte. Schließlich tritt hinzu, dass sich der Senat in den vergangenen Jahren wiederholt in anderen Verfahren mit Fällen zu befassen hatte, in denen Pflichtverteidiger unter Berufung auf die „500-Blatt-Formel — etwa für das (angebliche) Studium von (auf ihren Antrag) beigezogenen Akten aus anderen Großverfahren, die nach Mitteilung des Tatgerichts im Wesentlichen ohne Bedeutung für das zu entscheidende Verfahren blieben — weit überhöhte Pauschanträge in zum Teil sechsstelliger Höhe stellten.

Der Senat kehrt daher zu einer Bemessung der Pauschgebühr durch Bewertung der konkreten Vorbereitungstätigkeit des Pflichtverteidigers — insbesondere durch die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall — zurück. Zwar kann der Senat sich hierzu naturgemäß nicht wie zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung in die Verfahrensakten einarbeiten — tatrichterlich war er hier selbst nicht zuständig. Die vorgenannte stichprobenartig durchgeführte Sichtprüfung der Akten bietet aber eine hinreichend tragfähige Grundlage zur Ausübung des insoweit bestehenden pflichtgemäßen Ermessens. Sie ergibt, dass das Verfahren selbst im Vergleich mit anderen erstinstanzlichen OLG-Staatsschutzverfahren einen höchst außergewöhnlichen Umfang hatte. Es handelte sich um eines der umfangreichsten Al Qaida-Verfahren in Deutschland, das schon vom ermittelnden Bundeskriminalamt mit größtem Aufwand betrieben wurde und angesichts der nicht geständigen Angeklagten zu einer aufwändigen und anspruchsvollen Beweisaufnahme und -würdigung führte. Vor diesem Hintergrund erscheinen die von den Antragstellern zum Teil ins Feld geführten   mehrere Hundert Stunden für die Einarbeitung nicht aus der Luft gegriffen.“

Ich frage mich bei solchen Rechtsprechungsänderungen immer: Warum eigentlich und: Hat sich niemand bei „Einführung“ der 500-Blatt-Formel Gedanken gemacht, wohin die führen kann? Aber egal, mit einem Federstrich entscheidet man sich anders, obwohl man die Formel ja auch sicherlich noch einschränkend hätte anwenden können. Aber allein ein Windchen aus Stuttgart führt dazu, dass man seine eigene Auffassung aufgibt. Allerdings – und das darf man nicht übersehen: Es war dann auch wohl Verfahren, in denen von Verteidigern nicht mit Augenmaß mit dieser Formel umgegangen worden ist. Das ist dann das Ergebnis.