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Corona I: Verfahrensverzögerung wegen Corona, oder: Gibt es eine Entschädigung?

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Heute dann zum Wochenstart zwei Entscheidungen, die mit Corona zu tun haben. Aber mal etwas anderes als Impfpass und Owis, nämlich: Verfahrensverzögerung und Fitness-Studio.

Zunächst hier das BFH, Urt. v. 27.10.2021 – X K 5/20, auf das ich erst jetzt durch eine PM des BFH aufmerksam geworden bin.

In dem vom BFH entschiedenen Verfahren ging es um eine Kage, die der Kläger 2018 gegen Umsatzsteuerbescheide erhoben hatte. Zwei Jahre nach Klageeingang hatte der Kläger eine Verzögerungsrüge wegen der Besorgnis erhoben, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird. Das Klageverfahren wurde dann acht Monate später – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Zustellung des Urteils beendet.

Nachfolgend hat der Kläger dann Klage auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer in Höhe von mindestens 600 EUR erhoben. Er begründete diese im Wesentlichen damit, dass der Entschädigungsanspruch zwar verschuldensunabhängig sei, sodass es nicht auf ein pflichtwidriges Verhalten bzw. Verschulden der mit der Sache befassten Richter ankomme. Somit könne die unangemessene Verfahrensdauer auch nicht mit dem Hinweis auf eine chronische Überlastung der Gerichte, länger bestehende Rückstände oder eine angespannte Personalsituation gerechtfertigt werden. Nach den Erwägungen des Gesetzgebers müssten aber die verfahrensverzögernden Umstände zumindest innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen.

Der BFH hat die Klage abgewiesen. Die mehrmonatige Verzögerung des Ausgangsverfahrens beruhe auf Einschränkungen des finanzgerichtlichen Sitzungsbetriebs ab März 2020. Diese seien Folge der Corona-Pandemie und der zu ihrer Eindämmung ergriffenen Schutzmaßnahmen. Es handele sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da andere öffentliche und private Einrichtungen und Betriebe ebenso betroffen (gewesen) seien. Die Corona-Pandemie sei – jedenfalls zu Beginn – als außergewöhnliches und in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands beispielloses Ereignis anzusehen, die weder in ihrem Eintritt noch in ihren Wirkungen vorhersehbar gewesen wäre. Von einem Organisationsverschulden der Justizbehörden im Hinblick auf die Vorsorge für die Aufrechterhaltung einer stets uneingeschränkten Rechtspflege könne daher ebenfalls nicht ausgegangen werden.

Hier die Leitsätze zu dem BFH-Urteil vom 27.10.2021:

  1. Nach den Erwägungen des Gesetzgebers setzt der (verschuldensunabhängige) Entschädigungsanspruch i.S. des § 198 GVG voraus, dass die Umstände, die zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer geführt haben, innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen müssen.
  2. Eine zu Beginn der Corona-Pandemie hierdurch verursachte Verzögerung beim Sitzungsbetrieb führt nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer i.S. des § 198 Abs. 1 GVG, da sie nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist.
  3. Bei der Corona-Pandemie und den zur Eindämmung getroffenen Schutzmaßnahmen handelt es sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da sie ??was ihr Personal und die Verfahrensbeteiligten anbelangt?? ebenso betroffen ist wie andere öffentliche und private Einrichtungen und Betriebe.

30 Monate Nichtstun im Ermittlungsverfahren, oder: Für die unangemessene Verzögerung 3.000 EUR Cash

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Als zweite Entscheidung dann das OLG Bremen, Urt. v. 20.10.2021 – 1 EK 2/19 – zur Entschädigung für unangemessene Verfahrensdauer. Die Verfahren zu der Problematik nehmen zu. Die §§ 198, 199 GVG sind also in der Praxis angekommen.

Auch hier hat die Klägerin das beklagte Land auf Entschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer nach § 198 GVG in Anspruch genommen. Gegen die Klägerin und ihren Lebensgefährten wurde mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vom 23.02.2015, der Klägerin zugestellt am 25.03.2015, Anklage wegen Anbaus von Betäubungsmitteln und wegen Waffenbesitzes erhoben. Der Bevollmächtigte der Klägerin erhob sodann mehrfach, zuerst am 08.04.2016 und zuletzt am 09.04.2019 Verzögerungsrügen. Am 04.02.2019 übersandte das LG die Akten an die Staatsanwaltschaft zurück mit dem Hinweis, dass sich eine Mitwirkung der Klägerin an der vorgeworfenen Tat aus der Akte nicht ergebe. Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 20.05.2019, gebilligt vom Abteilungsleiter am 22.05.2019, wurde das Verfahren gegen die Klägerin nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, die Nachricht von der Einstellung wurde ihrem Verfahrensbevollmächtigten mit Schreiben vom 27.05.2019 übersandt.

Mit Klagschrift vom 21.11.2019, bei Gericht eingegangen am 22.11.2019, hat die Klägerin Klage auf Entschädigung nach § 198 GVG erhoben. Die Klägerin meint, mit der Dauer von vier Jahren habe das Verfahren unangemessen lange gedauert. Sie macht geltend, sich aufgrund der Verzögerungen psychisch erheblich beeinträchtigt gefühlt zu haben. Die Klägerin hat eine Entschädigung von 4.800,- EUR verlangt. Das beklagte Land meint, bei einer Gesamtdauer des Verfahrens von vier Jahren und drei Monate sei schon deswegen keine vierjährige Dauer einer unangemessenen Verzögerung anzunehmen, da zum einen die verbleibende Dauer von drei Monaten unrealistisch kurz sei und zum anderen nicht jede Überschreitung dieser Dauer bereits zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führen könne. Zudem seien auch richterliche Gestaltungsspielräume in der weiteren Bearbeitung zu berücksichtigen ebenso wie Zeiten, in denen die Akte aus anderen Gründen nicht zur Verfügung gestanden habe. Der Zeitraum zwischen der ersten Verzögerungsrüge und der Bearbeitung der Akte ab Januar 2019 sei mit gut 30 Monaten noch nicht so lang, als dass von einer deutlichen Überschreitung der äußersten Grenzen des Angemessenen ausgegangen werden könne. Zudem hat sich die Beklagte darauf berufen, dass die Sechsmonatsfrist für die Klageerhebung nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG nicht eingehalten worden sei, da die Einstellung durch Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 20.5.2019 erfolgt sei und die Mitteilung an den Verteidiger der Klägerin lediglich deklaratorischen Charakter gehabt habe. Das OLG hat das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung von 3.000 EUR verurteilt.

Hier die Leitsätze des OLG:

  1. Die Sechsmonatsfrist für die Klageerhebung nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG wegen unangemessener Verfahrensdauer beginnt im Fall der Erledigung eines Strafverfahrens durch Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO mit dem Zeitpunkt der Verfügung der Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO und es kommt nicht auf das Datum der späteren Bekanntgabe an den Beschuldigten nach § 170 Abs. 2 Satz 2 StPO an. Wird eine Einstellungsverfügung dem zuständigen Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft zur Billigung vorgelegt, erlangt sie Wirkung erst mit dem Datum der Billigung.
  2. Im Regelfall kann bei Einstellung eines Strafverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO nach erfolgter Anklageerhebung ein Zeitraum von 1 Jahr und 9 Monaten vom Eingang der Anklage bei Gericht bis zur Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft aufgrund einer Anregung des Gerichts noch nicht als unangemessen angesehen werden.

M.E. zutreffend. Die Auffassung des beklagten Landes, dass die rund 30 Monate Untätigkeit noch hinnehmbar sei, ist nicht nach zu vollziehen. Es ist einem Beschuldigten eben nicht zuzumuten, dass Verfahrensakten 2 ½ Jahre auf der Fensterbank oder auf der Geschäftsstelle liegen, ohne dass irgendeine Verfahrensförderung erfolgt.Wenn man als Verteidiger Verfahren überhaupt beschleunigen kann, dann sicherlich mit einer Verzögerungsrüge, die nicht vergessen werden sollte. Führt auch sie nicht zu einem schnelleren Verfahrensabschluss ist damit aber zumindest der Grundstein für eine Entschädigung zugunsten des Mandanten gelegt.

Angemessene Verfahrensdauer, oder: Nach Entscheidungsreife darf das Verfahren noch ein Jahr dauern

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Wie haben wir uns gefreut als die §§ 198, 199 GVG eingeführt worden sind und gedacht: Endlich. Endlich gibt es ein Instrument, dass die Gerichte zu schnellerem Arbeiten anhalten wird. Und wie sind wir alle (?) getäuscht/enttäuscht, wenn man sich die Anwendung der Vorschriften durch die Gerichte ansieht. Das ganze Prozedere lohnt sich nicht, denn die §§ 198, 199 GVG sind ein stumpfes Schwert, letztlich m.E. auch vom Gesetzgeber nur eingeführt, um den EGMR und die EU „ruhig zu stellen“. Dass dem so ist, zeigt z.B. der  OLG Frankfurt, Beschl. v. 22.11.2016 – 4 EK 15/16.

Es geht um die Bewilligung von PKH für eine Klage wegen überlanger Verfahrensdauer. Der Antragsteller, der eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt, hatte gem. § 109 StVG die StVK angerufen, nachdem die JVA ihm vollzugsöffnende Maßnahmen versagt hatte. Nach dem Ablauf von Stellungnahmefristen nahm die StVK zunächst für fünf Monate keine verfahrensfördernden Maßnahmen vor. Es folgten dann weitere Schriftsatzwechsel, u.a. wegen einer in Betracht kommenden Teilerledigung, ehe das Verfahren erneut, diesmal für weitere neun Monate und sieben Tage, nicht gefördert wurde.  Letztlich dauerte das Verfahren vom 30.07.2014 bis zum 07.07.2016. Am 08.04.2016 hatte der Antragsteller Verzögerungsrüge erhoben. Nunmehr begehrte er PKH für eine Klage, mit der er wegen überlanger Verfahrensdauer eine Entschädigung in Höhe von 1.200,00 EUR erstreiten will. Das OLG hat unter Ablehnung des Antrags im Übrigen PKH bis zu einer Entschädigungshöhe von 800,00 EUR bewilligt.

Das OLG meint schon, dass das Verfahren zu lang war, und zwar sei die Verfahrensdauer als um insgesamt acht Monate und sieben Tage unangemessen zu lang anzusehen. Zur „zulässigen“/zu langen Verfahrensdauer führt das OLG aus, dass nicht jede Abweichung von einer optimalen Verfahrensführung ausreicht. Die Verfahrensdauer müsse vielmehr eine Grenze überschreiten, die sich unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls, insbesondere Art, Inhalt und Umfang der zu treffenden Entscheidung, sowie der rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeit und Bedeutung des zugrunde liegenden Rechtsstreits für den Betroffenen als sachlich nicht mehr gerechtfertigt oder unverhältnismäßig darstellt. Dem Richter stehe zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ein weiter Gestaltungsraum zu.

Hinsichtlich der Person des Entscheidenden ist ein objektivierter Maßstab anzulegen, abzustellen ist mithin auf den Zeitraum, den ein pflichtgetreuer Durchschnittsrichter für die Erarbeitung einer derartigen Entscheidung benötigt (vgl. BGH, Urteil vom 22.05.1986, III ZR 237/84, Rn. 29 – zitiert nach Juris). Darüber hinaus ist diesem ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen, denn nicht nur rechtliche oder tatsächliche Beurteilungen eines Richters, sondern auch die Verfahrensführung als solche kann angesichts des verfassungsrechtlichen Grundsatzes richterlicher Unabhängigkeit nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft werden (OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 08.05.2013, 4 EntV 18/12, Rn. 46 – zitiert nach Juris). Nach der Rechtsprechung des Senats ist einem Gericht in der Regel ein Zeitraum von einem Jahr (ab Entscheidungsreife) zuzubilligen, binnen dessen eine ausbleibende Entscheidung als noch nicht unangemessen erscheint (OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 25.09.2013, 4 EntV 11/12 – zitiert nach Juris, für Verfahren nach § 109 StVollzG und Urteil vom 08.05.2013, 4 EntV 18/12, Rn. 46 ff. – zitiert nach Juris, für zivilrechtliches Prozesskostenhilfeverfahren). Eine Abweichung von dieser Regelfrist von einem Jahr kommt vor allem dann in Betracht, wenn der Verfahrensgegenstand für die Partei aus besonderen Gründen in besonderer Weise eilbedürftig ist oder umgekehrt ohne besondere Bedeutung ist (zum Vorstehenden insgesamt: OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.07.2016, 4 EK 6/16, Rn. 29 – zitiert nach Juris).

Aber:

„Eine Abweichung von dieser Regelfrist von einem Jahr kommt vor allem dann in Betracht, wenn der Verfahrensgegenstand für die Partei aus besonderen Gründen in besonderer Weise eilbedürftig ist oder umgekehrt ohne besondere Bedeutung ist (zum Vorstehenden insgesamt: OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.07.2016, 4 EK 6/16, Rn. 29 – zitiert nach Juris).“

Auf der Grundlage hat das OLG der StVK dann statt der Regelfrist von einem Jahr lediglich eine kürzere Entscheidungsfrist von sechs Monaten zugebilligt. Und der Antragsteller kann für acht Monate unangemessene Verfahrensverzögerung eine Entschädigung in Höhe von insgesamt 800,00 EUR verlangen.

Wenn ich die Ausführungen des OLG lese, schwillt mir der Kamm. Abgesehen davon, dass die Rechtsprechung – auch die des BGH – der (eigenen) Justiz schon grundsätzlich sehr großzügige Bearbeitungszeiten einräumt, frage ich mich hier: Wieso soll eigentlich ein Gericht nach Entscheidungsreife (!) nochmal ein Jahr Zeit haben für die Entscheidung? Entscheidungsreife liegt doch vor. Warum wird dann nicht zügig entschieden bzw. muss entschieden werden? Alles andere ist doch Augenwischerei, vor allem wenn man dann noch die weiteren Hintertürchen wie Schwierigkeit und Umfang der Sache sieht, mit denen man bei Bedarf recht problemlos einen noch längeren Zeitraum rechtfertigen kann.  Und bitte schön. Verfahren „für die Partei ….. ohne besondere Bedeutung“ sind überhaupt nicht eilbedürftig und dürfen also bis zum St. Nimmerleinstag liegen bleiben? Der EGMR wird sich auf weitere Eingänge aus Deutschland freuen.

Was ist positiv an der Entscheidung? Nun, das Land hat wohl eingesehen, dass mehr als schlampig gearbeitet worden ist. Denn: „Der Antragsgegner hat zu dem Antrag unter dem 14.11.2016 (Bl. 13ff. d. A.) Stellung genommen. Sie tritt dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht entgegen, zumal die Voraussetzungen für die Bewilligung der beantragten Prozesskostenhilfe in Höhe des begehrten Entschädigungsbetrages gegeben sein dürften.“ Das OLG weiß es natürlich mal wieder besser und gewährt nur PKH bis zu einer Entschädigungshöhe von 800,00 EUR .