Heute dann noch einmal ein „Corona-Tag“, und zwar mit zwei Entscheidungen zur U-Haft und einem weiteren Beschluss, der den neuen § 10 EGStPO betrifft.
Das OLG hat nach Aussetzung der begonnenen Hauptverhandlung die Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO durchgeführt und Haftfortdauer beschlossen. Kurzfassung: Corona ist ein anderer wichtiger Grund i.S. des § 121 StPO:
„Für die Annahme eines „anderen wichtigen Grundes“, der von seinem Gewicht her den in § 121 Abs. 1 StPO namentlich genannten Gründen gleichstehen muss (vgl. Schmitt, aaO, § 121 Rn. 18; Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 121, Rn. 28), kommt es entscheidend darauf an, ob die für die Strafverfolgung verantwortlichen Behörden und Gerichte ihrerseits alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, das Verfahren so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen (vgl. nur BVerfG, Kammerbeschluss vom 4. August 1994 – 2 BvR 1291/94, juris Rn. 13; BGH, Beschluss vom 23. Juli 1991 – AK 29/91, BGHSt 38, 43). Einen wichtigen Grund bilden z. B. nicht behebbare und unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter (Schultheis in Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl., § 121 Rn. 16 mwN; KG Berlin, Beschluss vom 24. Februar 2009 – 1 Ws 25 – 27/09, juris). Auch die Erkrankung eines Verfahrensbeteiligten mit einer hochansteckenden Krankheit, die an sich keinen Hinderungsgrund darstellt, aber eine erhebliche Gefährdung anderer in sich birgt, kann einen solchen Grund darstellen (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30. März 2020 – HEs 1 Ws 84/20, juris Rn. 11 unter Hinweis auf OLG Hamburg, Beschluss vom 20. November 2015 – 1 Ws 148/15, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 17. April 2008 – 4 OBL 18/08, juris: Haftfortdauer bei einer hoch ansteckenden Erkrankung des Angeklagten und Ungewissheit über die Dauer seiner Verhandlungsunfähigkeit). Dem ist nach Auffassung des Senats die Quarantäneanordnung zur Vermeidung der Verbreitung der COVID-19-Pandemie bei einem dem gerichtlichen Spruchkörper angehörenden Richter gleichzusetzen. Hierbei handelt es sich um einen anderen, auf den Verfahrensgang ausstrahlenden Umstand außerhalb des Einwirkungsbereichs der Justiz.
Die in Rede stehende nicht vorhersehbare Quarantänemaßnahme stand der planmäßigen Fortführung der Hauptverhandlung entgegen. Die von der Strafkammer getroffene Entscheidung, die Hauptverhandlung auszusetzen, erfolgte auf Grundlage der Entwicklung der Erkenntnisse der Wissenschaft zu dem neuartigen Coronavirus und dem prognostizierten Fortschreiten der Pandemie und orientierte sich an der maßgeblichen Empfehlung der Landesregierung Baden-Württemberg zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie (vgl. insbesondere den Erlass des Ministeriums der Justiz und für Europa vom 14. März 2020 JUMRI-JUM-1400-3/1/3), was sich in Ermangelung eigener gerichtlicher und sonstig wissenschaftlich augenblicklich vorhandener Sachkunde des Gerichts auch aufdrängt. Nachdem das für die Empfehlung der Landesregierung und den Erlass des Justizministeriums maßgebliche Prinzip der Kontaktvermeidung nicht nur dem unmittelbaren Schutz von erhöht gefährdeten Personen, sondern vornehmlich der gesamtgesellschaftlich notwendigen Verringerung der Infektionsrate dient, bestand die Notwendigkeit einer Aussetzung der Hauptverhandlung, die bei Beginn und Unterbrechung der Hauptverhandlung nicht abzusehen war. Die Aussetzung der Hauptverhandlung war bei den vorliegenden Gegebenheiten unumgänglich. Die rechtliche Möglichkeit einer Unterbrechung der Hauptverhandlung über drei Wochen hinaus (§ 229 Abs. 1 StPO) bestand zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aussetzung der Hauptverhandlung noch nicht, da das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz und Strafverfahrensrecht vom 27. März 2020 erst am 28. März 2020 in Kraft getreten ist (BGBl. 2020 Teil I Nr. 14 vom 27. März 2020, S. 574). Mit diesem Gesetz ist in § 10 des Einführungsgesetzes zur Strafprozessordnung (EGStPO) nunmehr ein befristeter Hemmungstatbestand für die Unterbrechung einer strafgerichtlichen Hauptverhandlung geschaffen worden, der auf die aktuellen Maßnahmen zur Vermeidung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 abstellt. Damit soll verhindert werden, dass eine Hauptverhandlung aufgrund der aktuellen Einschränkungen des öffentlichen Lebens ausgesetzt und neu begonnen werden muss. Der Tatbestand ist weit gefasst und erfasst sämtliche Gründe, die der ordnungsgemäßen Durchführung einer Hauptverhandlung aufgrund von Infektionsschutzmaßnahmen entgegenstehen (vgl. BT- Drucks. 19/18110, S. 32 f.). Unter Zugrundelegung und Berücksichtigung dieser Erwägungen sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Entscheidung der Strafkammer vom 23. März 2020 leichtfertig oder unter Verkennung der hohen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts des inhaftierten Angeklagten getroffen wurde.
Ausweislich der Darlegungen im Vorlageschreiben der Vorsitzenden vom 23. März 2020 und des damit vorgelegten Telefonvermerks vom 23. März 2020 zwischen dem Berichterstatter und dem Präsidenten des Landgerichts ist von einem Ende der Quarantäne mit Ablauf des 5. April 2020 auszugehen. Insoweit ist nichts dagegen zu erinnern, dass sich die Strafkammer bei der Aussetzungsentscheidung offenbar von der Annahme leiten ließ, nach Beendigung der Quarantänemaßnahme Anfang April eine Neuterminierung vornehmen zu können. Aus dem Erlass des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 14. März 2020 und der Verordnung der Landesregierung Baden-Württemberg über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (CoronaVO) vom 17. März 2020, wonach öffentliche Schulen oder Hochschulen (§§ 1 und 2 CoronaVO) sowie andere Einrichtungen (§ 4 CoronaVO) am 20. April 2020 wieder ihren Betrieb aufnehmen können sollen, ergeben sich zumindest nachvollziehbare Hinweise darauf, dass die Gefährdungslage ab Ende April 2020 die Durchführung der Hauptverhandlung in dieser Sache zulassen könnte. Zwar ist dies wegen der dynamischen, in weiten Teilen unvorhersehbaren Entwicklung der Pandemie und ihrer Auswirkungen keineswegs sicher. Jeglicher Grundlage entbehrt diese optimistische Annahme jedoch nicht (so auch OLG Karlsruhe, aaO, Rn. 13). Im Übrigen sind bevorstehende, bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt absehbare weitere Verfahrensverzögerungen – die nicht anders zu behandeln wären als bereits eingetretene (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 29. November 2005 – 2 BvR 1737/05, juris Rn. 32 mwN) – nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund ist mit einem zeitnahen Neubeginn der Hauptverhandlung zu rechnen und von einer straffen, den verfassungsgerichtlichen Vorgaben zur notwendigen Verhandlungsdichte in Haftsachen genügenden Terminierung auszugehen.
Der Senat geht davon aus, dass die Strafkammer unverzüglich nach Rückgabe der Akten einen neuen Termin zur Hauptverhandlung bestimmen wird und das Verfahren schnellstmöglich durchgeführt und jedenfalls in erster Instanz beendet werden kann.
Wenngleich eine bereits erfolgte Terminabsprache bzw. detaillierte Angaben zur Terminauslastung der Strafkammer wünschenswert gewesen wären, ist die Schwelle zu einer nicht hinnehmbaren Verfahrensverzögerung vor dem Hintergrund des bisherigen Verfahrensganges bei der erforderlichen Gesamtschau und Gesamtabwägung unter Berücksichtigung des hohen Gewichts der Tatvorwürfe sowie der durch die Neuterminierung bewirkten Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus noch nicht überschritten. Bei seiner Beurteilung hat der Senat überdies berücksichtigt, dass sich der Angeklagte bei dem nach der derzeitigen Beurteilung frühestmöglichen Beginn der Hauptverhandlung Anfang Mai 2020 längstens acht Monate in Untersuchungshaft befunden haben wird. Dies ist vorliegend noch vertretbar, da der Strafkammer eine frühere Neuterminierung aufgrund der beschriebenen Gegebenheiten nicht möglich war, was angesichts der relativ geringen Verzögerung noch hinnehmbar ist.
Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:
Falls die Hauptverhandlung entgegen der Erwartungen nicht zeitnah durchgeführt werden kann, werden strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein. So wird das Gericht zu prüfen haben, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken; eine Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, GVG § 169 Rn. 5) kann in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen werden. Jedenfalls sind die Anstrengungen und die der Durchführung der Hauptverhandlung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 Abs. 1 und 2 StPO sowie dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen.“