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Fahrverbot I: Absehen beim Berufskraftfahrer, oder: Existenzvernichtend muss es sein

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Heute dann mal ein Fahrverbotstag, oder auch ein Tag der Entscheidungen des KG. Denn alle drei Entscheidungen, die ich vorstellen möchte stammen vom KG. Zunächst ist das der KG, Beschl. v. 06.03.2018 – 3 Ws (B) 73/18 – zum Absehen von einem Fahrverbot beim Berufskraftfahrer.

Das AG hatte wegen einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften von dort 60 km/h um 52 km/h eine Geldbuße von 560,00 € festgesetzt, von der Verhängung eines Fahrverbots aber abgesehen, weil dessen Verhängung zu einer massiven Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des Betroffenen führen würde, weshalb eine „existenzvernichtende“ außergewöhnliche Härte vorliege, und zur Begründung insoweit Folgendes ausgeführt:

„Der Betroffene ist als Krankentransportfahrer zwingend auf seine Fahrerlaubnis angewiesen, um seine Tätigkeit ausüben zu können. Ausweislich des in der Hauptverhandlung verlesenen Schreibens des Arbeitgebers des Betroffenen vom 26.1.2017 hat dieser angekündigt, das Arbeitsverhältnis mit dem Betroffenen für den Fall des Führerscheinentzuges zu beenden. Daraus folgt, dass seitens des Arbeitgebers auch keine Bereitschaft besteht, den Betroffenen für die Dauer des Fahrverbotes anderweitig zu beschäftigen. Ausweislich des in der Hauptverhandlung verlesenen Arbeitsvertrages wäre es dem Betroffenen zudem unter Berücksichtigung seines jährlichen Urlaubsanspruches nicht möglich, das Regelfahrverbot von zwei Monaten durch Urlaub zu überbrücken. Darüber hinaus scheiden aufgrund der Art der Tätigkeit des Betroffenen auch grundsätzlich in Betracht zu ziehende Alternativmaßnahmen wie die Beschäftigung eines Fahrers durch, den Betroffenen für die Zeit des Fahrverbotes hier naturgemäß aus. In einer Gesamtwürdigung liegen damit zur Überzeugung des Gerichts besondere Umstände vor die es rechtfertigen hier ausnahmsweise von der Verhängung eines Fahrverbotes abzusehen.“

Das reicht dem KG nicht:

„….. In solchen Fällen kann die Anwendung der Regelbeispielstechnik des Bußgeldkataloges nur dann unangemessen sein, wenn der Sachverhalt zugunsten des Betroffenen so erheblich abweicht, dass er als Ausnahme zu werten ist. Dem tatrichterlichen Beurteilungsspielraum sind jedoch der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit wegen enge Grenzen gesetzt und die gerichtlichen Feststellungen müssen die Annahme eines Ausnahmefalles nachvollziehbar erscheinen lassen (vgl. KG, VRS 108, 286 m.w.N.). Das ist hier nicht der Fall. Das Amtsgericht hat von der Verhängung eines Fahrverbotes mit der Begründung abgesehen, dass bei Anordnung eines Fahrverbots eine „existenzvernichtende“ außergewöhnliche Härte vorliege. Den allein maßgeblichen schriftlichen Urteilsgründen sind die tatsächlichen Voraus-setzungen für eine solche Härte indessen nicht zu entnehmen. Der Arbeitgeber des Betroffenen hat hiernach nur angekündigt, das Arbeitsverhältnis mit dem Betroffenen für den Fall des Führerscheinentzuges zu beenden. Vorliegend geht es indessen nur um ein zweimonatiges Fahrverbot, nicht um den Entzug der Fahrerlaubnis. Den Urteilsgründen ist auch nicht zu entnehmen, warum es dem Betroffenen nicht möglich sein soll, das Fahrverbot unter Inanspruchnahme seines jährlichen Urlaubsanspruches zu überbrücken, denn zu dessen Höhe verhalten sich die Urteilsgründe nicht. Ebenso bleibt unerörtert, ob der Betroffene über seinen Urlaubsanspruch hinaus Mehrarbeit durch Freizeit ausgleichen und ggf. auch unbezahlten Urlaub nehmen könnte. Denn es ist einem Betroffenen zuzumuten, durch – gegebenenfalls unbezahlten – Urlaub die Zeit eines Fahrverbots zu überbrücken und für die finanziellen Belastungen notfalls einen Kredit aufzunehmen (vgl. KG, Beschluss vom 5. November 2014 – 3 Ws (B) 528/14122 Ss 150/14 -). An das Vorliegen einer den Wegfall des Regelfahrverbotes rechtfertigenden Härte ganz außergewöhnlicher Art ist nach der Einführung des § 25 Abs. 2a StVG mit der Möglichkeit, den Beginn der Wirksamkeit des Verbotes innerhalb eines Zeitraums von vier Monaten selbst zu bestimmen, zudem ein noch strengerer Maßstab als in der Vergangenheit anzulegen (vgl. KG, Beschluss vom 23. Dezember 2008 – 3 Ws (B) 478/08 – 2 Ss 320/08 -).“

Wiederholtes Absehen vom Fahrverbot, oder: Da war das OLG aber „angefressen“

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Dem OLG Bamberg, Beschl. v. 07.08.2017 – 3 Ss OWi 996/17 – merkt man so richtig, wie angefressen das OLG war über die amtsgerichtliche Entscheidung, über die es in der Rechtsbeschwerde zu bedinden hatte. An sich eine ganz normale Fahrverbotssache, aber: Die Sache ist zum zweiten Mal beim OLG und der Amtsrichter hat nicht das getan, was das OLG in seiner ersten Aufhebung geschrieben hat. Und da liest man da Formulierungen wie „evident rechtsfehlerhaft“, „schlechterdings unhaltbar“, „gänzlich unnötige Verfahrensverzögerungen“ usw.:

Das angefochtene Urteil weist in mehrfacher Hinsicht durchgreifende Rechtsmängel auf und kann daher insgesamt keinen Bestand haben.

a) Es ist bereits rechtsfehlerhaft, dass das AG im angefochtenen Urteil eine Entscheidung zum Schuldspruch getroffen hat. Denn der Schuldspruch war aufgrund des Umstands, dass die StA ihr Rechtsmittel gegen das Urteil des AG im ersten Verfahrensgang wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hatte, worauf der Senat bereits mit seinem Beschluss vom 03.11.2016 hingewiesen hat, rechtskräftig. Aufgrund der deshalb eingetretenen horizontalen Teilrechtskraft hätte sich das AG mit dieser Frage überhaupt nicht mehr beschäftigen dürfen.

b) Aber auch der Rechtsfolgenausspruch ist evident rechtsfehlerhaft. Die Gründe des AG zum Absehen vom Fahrverbot, die im Wesentlichen die gleichen Erwägungen, die bereits zur Aufhebung der ersten Entscheidung des AG vom 25.07.2016 in diesem Verfahren geführt haben, beinhalten, sind schon aus den im Senatsbeschluss vom 03.11.2016 dargelegten Gründen nicht tragfähig. Sie weisen überdies einen weiteren gravierenden Rechtsverstoß auf, der für sich allein schon zur Kassation der angefochtenen Entscheidung führen muss. Denn das Urteil setzt sich über das geltende Recht dadurch hinweg, dass es die fehlerhaften Gründe der amtsgerichtlichen Entscheidung im ersten Verfahrensgang wiederholt und damit die Bindungswirkung der Senatsentscheidung vom 03.11.2016, die ihr nach § 79 III 1 OWiG i.V.m. § 358 I StPO zukommt, gänzlich ignoriert.

aa) Soweit das AG einem nicht näher erläuterten „angespannten Zustand“ der Betr., den es zudem ohne jede Beweiswürdigung einfach nur als „glaubhaft“ übernommen hat, Relevanz für das Absehen vom dem an sich gemäß § 4 II 2 BKatV verwirkten Regelfahrverbot beimisst, ist dies aus den Gründen, die der Senat in seiner Entscheidung vom 03.11.2016 bereits eingehend aufgezeigt hat, schlechterdings unhaltbar.

bb) Aber auch die weiteren Umstände zur beruflichen Situation der Betr., die das AG heranzieht, stellen nicht einmal im Ansatz ausreichende Gründe dar, vom verwirkten Regelfahrverbot abzusehen. Die diesbezüglichen Feststellungen sind zu pauschal und lückenhaft, lassen jede Beweiswürdigung vermissen und sind im Übrigen a priori ohne rechtliche Relevanz.

(1) Das AG teilt bereits nicht mit, welche Schichtzeiten die Betr. aufgrund ihres Probearbeitsverhältnisses konkret zu absolvieren hat und wie die Verbindungen des öffentlichen Nahverkehrs konkret sind. Die Urteilsgründe beschränken sich auf die nichtssagende Wertung, „zu den Schichtzeiten der Betr. gebe es nur unzureichend öffentliche Verkehrsmittel“. Damit enthält es den gleichen Fehler, der schon zur Aufhebung des ersten amtsgerichtlichen Urteils vom 25.07.2016 geführt hat.

(2) Im Übrigen unterbleibt jede auch nur im Ansatz nachvollziehbare Beweiswürdigung. Das AG möchte stattdessen auf irgendwelche Unterlagen bei den Akten, die es als „Auszüge“ bezeichnet, verweisen. Diese Vorgehensweise stellt einen zusätzlichen Verstoß gegen § 46 I OWiG i.V.m. § 267 I 1 StPO dar. Hiernach muss das Urteil klar, erschöpfend und aus sich heraus verständlich sein; gebotene eigene Urteilsfeststellungen oder Würdigungen dürfen – von der hier nicht einschlägigen Ausnahmekonstellation bei Abbildungen gem. § 267 I 3 StPO abgesehen – nicht durch Bezugnahmen auf den Akteninhalt ersetzt werden, weil das Rechtsbeschwerdegericht anderenfalls nicht in die Lage versetzt wird, das Urteil einer sachlich-rechtlichen Nachprüfung zu unterziehen (vgl. nur BGH, Urt. v. 02.12.2005 – 5 StR 268/05 = NStZ-RR 2007, 22; KK/Kuckein StPO 7. Aufl. § 267 Rn. 3; LR/Stuckenberg StPO 26. Aufl. § 267 Rn. 11, 12; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 60. Aufl. § 267 Rn. 2, jeweils m.w.N.).

(3) Ferner ist die nicht mit Tatsachen belegte Wertung des Tatrichters, eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle sei „nicht möglich bzw. der Betr. nicht zumutbar“ auch in sich widersprüchlich, weil sich die Beurteilung der Zumutbarkeit nach der Logik gar nicht mehr stellen kann, wenn die Unmöglichkeit feststünde.

(4) Darüber hinaus trifft das AG keine Feststellungen dazu, ob ggf. anderweitige Möglichkeiten, etwa Mitfahrgelegenheiten oder die Inanspruchnahme von Fahrdiensten durch Verwandte und Freunde, bestehen, um den Weg zur Arbeitsstätte zurückzulegen. Damit weist das Urteil wiederholt das identische Feststellungsdefizit auf, welches bereits zur Aufhebung des Urteils im ersten Verfahrensgang geführt hatte.

(5) Schließlich stellt das AG noch nicht einmal fest, dass der Arbeitsplatz durch die Verhängung und Vollstreckung des Fahrverbots überhaupt gefährdet wäre, was allenfalls ein theoretisch denkbarer Ansatzpunkt wäre, um eine außergewöhnliche Härte bejahen zu können.

2. Nachdem durch die fehlerhafte Verfahrensweise seitens des AG gänzlich unnötige Verfahrensverzögerungen eingetreten sind, sieht der Senat davon ab, die Sache erneut an das AG zurückzuverweisen, sondern macht von der Möglichkeit zur eigenen Sachentscheidung (§ 79 VI OWiG) Gebrauch.

a) Die Regelgeldbuße für den verwirklichten Geschwindigkeitsverstoß von 80 € (Nr. 11.3.5 Anl. § 1 I BKatV) hat der Senat im Hinblick auf die einschlägige Vorahndung maßvoll auf 160 € erhöht.

b) Außerdem wurde das Regelfahrverbot wegen wiederholter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers, welches aus § 4 II 2 BKatV folgt, verhängt. Eine Ausnahme hiervon wegen eines Härtefalls in Form einer Existenzgefährdung kann der Senat trotz der völlig unzureichenden Sachverhaltsfeststellungen durch das Tatgericht ausschließen. Dabei ist bereits fraglich, ob die Betr., sollte sie in der Tat keine Möglichkeit haben, anderweitig zur Arbeitsstelle zu gelangen, ihren Arbeitsplatz verlieren würde. Ferner stellt sich auch die Frage, ob bei einem Probearbeitsverhältnis überhaupt von einer gesicherten Existenzgrundlage gesprochen werden kann, deren Verlust eine unzumutbare Härte begründen könnte. Dies alles kann indes dahinstehen, weil sich aus den – wenn auch nur äußerst rudimentären – Feststellungen des AG jedenfalls ergibt, dass es der Betr. ohne weiteres zumutbar ist, sollten ohnehin nicht anderweitige Mitfahrgelegenheiten existieren, die Strecke zur Arbeitsstelle notfalls mit dem Fahrrad zurückzulegen. Denn im Hinblick auf die Entfernung von weniger als 10 km zwischen dem Wohnsitz der Betr. und ihrer Arbeitsstätte ist es ihr auch unter Berücksichtigung ihres Alters von 43 Jahren ohne weiteres zuzumuten, für die begrenzte Dauer von nur einem Monat zur Arbeitsstätte mit einem Fahrrad zu fahren. An die Zumutbarkeit sind insofern auch deshalb keine gesteigerten Anforderungen zu stellen, weil die Betr. einschlägig vorgeahndet ist und durch das dabei verhängte Fahrverbot offensichtlich nicht hinreichend beeindruckt werden konnte. Sonstige Umstände, die es gebieten würden, von dieser Regelfolge ausnahmsweise abzuweichen, oder die Annahme begründen könnten, der Zweck des Fahrverbots könnte allein mit einer gegebenenfalls höheren Geldbuße erreicht werden, liegen nicht vor. Für die Anordnung eines beschränkten Vollstreckungsaufschubs nach § 25 IIa 1 StVG besteht im Hinblick auf die Vorahndung mit einem Fahrverbot innerhalb der Zweijahresfrist kein Raum.“

Angefressen eben 🙂 .

Fahrverbot III: Absehen vom Fahrverbot wegen verkehrspsychologischer Schulung?

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So, und zum Abschluss dann noch einmal das OLG Bamberg, und zwar der OLG Bamberg, Beschl. v. 02.012.2018 – 3 Ss OWi 1704/17. Er behandelt auch das Absehen vom Fahrverbot, und zwar mit der Begründung: Erfolgreiche Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Schulung, reicht das? Das OLG Bamberg scheint kein Freund von diesen Maßnahmen zu sein, denn:

 

„Eine auf eigene Kosten erfolgende freiwillige Teilnahme des Betroffenen an einer verkehrspsychologischen Schulung rechtfertigt für sich allein grundsätzlich nicht das Absehen von einem verwirkten bußgeldrechtlichen Fahrverbot. Eine Ausnahme kann auch dann nur in Betracht kommen, wenn daneben eine Vielzahl weiterer zu Gunsten des Betroffenen sprechender Gesichtspunkte festgestellt werden können.

M.E. zu streng.

Fahrverbot I: „hättest ja deinen Einspruch eher einlegen können, oder: Krankenkraftwagen

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Author Soenke Rahn

Heute gibt es dann drei Fahrverbots-Entscheidungen bzs. Entscheidungen, die mit dem Fahrverbot nach § 25 StVg zu tun haben. Den Anfang mache ich mit dem OLG Bamberg, Beschl. v. 09.11.2017 – 3 Ss OWi 1556/17. Und wie (fast) immer beim OLG Bamberg reichen die (amtlichen) Leitsätze, um zu wissen, um was es in dem Beschluss geht.

Es geht im Wesentlichen um Folgendes: Einmal um die Frage, ob eine Ausnahme vom Fahrverbot für „Krankenkraftwagen“ möglich/zulässig ist und, wie damit umzugehen ist, dass das AG dem Betroffenen die Einspruchseinlegung vorhält und deshalb nicht vom Fahrverbot absieht. Das zu das OLG:

  1. „Der Umstand, dass ein Betroffener von ihm zustehenden Verteidigungsmöglichkeiten (hier: Einspruch gegen den Bußgeldbescheid) Gebrauch gemacht hat, darf bei der Frage, ob im Einzelfall ein Absehen vom Fahrverbot oder eine sonstige Fahrverbotsprivilegierung in Betracht kommt, nicht zum Nachteil des Betroffenen berücksichtigt werden.
  2. Die Versagung einer Fahrverbotsprivilegierung mit der Begründung, der Betroffene habe mit Blick auf den Antritt eines Arbeitsverhältnisses einen Härtefall aufgrund einer durch das Fahrverbot konkret drohenden Kündigung durch Hinnahme des Bußgeldbescheids und die hierdurch mögliche Verbüßung des Fahrverbots noch vor Antritt der Tätigkeit verhindern können, stellt eine im Rahmen des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG ermessensfehlerhafte Verwertung zulässigen Verteidigungsverhaltens zum Nachteil des Betroffenen dar.
  3. ‚Krankenkraftwagen‘ können aufgrund ihrer über den bloßen Verwendungszweck und ihre Ausrüstung hinausgehende bauartbedingten Abgrenzbarkeit von anderen Fahrzeugen derselben Fahrzeugart oder -klasse als Kraftfahrzeuge „einer bestimmten Art“ gemäß § 25 I 1 StVG vom bußgeldrechtlichen Fahrverbot ausgenommen werden (u.a. Anschluss an BayObLG, Beschl. v. 21.06.1989 – 2 Ob OWi 167/89 = ZfS 1989, 359 = NJW 1989, 2959 = DAR 1989, 428 = VRS 77 [1989], 456 = VM 1990, Nr.14 und OLG Düsseldorf, Beschl. v. 24.09.2007 – 2 Ss [OWi] 118/07 = NZV 2008, 104 = DAR 2008, 154 = VRS 113 [2007], 442 = VM 2008, Nr. 23 = OLGSt StVG § 25 Nr. 38).“

Wenn man müssen muss, oder: Harndrang versus Fahrverbot

Ich eröffne die 45 KW. dann mit der Harndrang-Entscheidung des OLG, die schon in einigen Blogs gelaufen ist und – was klar ist – noch in weiteren laufen wird. Es geht um das Absehen vom Fahrverbot nach einem Geschwindigkeitsverstoß. Der Betroffene – ein Rechtsanwalt – hatte gegenüber dem Fahverbot geltend gemacht – so die Ausführungen des OLG:

„Das Amtsgericht hat unter Zugrundelegung der unwiderlegt hingenommenen Angaben des als Rechtsanwalt tätigen Betroffenen, er verfüge nach einer Prostataoperation nur noch über eine eingeschränkte Kontinenz und habe während der tatgegenständlichen Fahrt von Q zu einem Termin nach L starken, schmerzhaften Harndrang verspürt, so dass er nur noch darauf fokussiert gewesen sei, „rechts ran fahren“ zu können, wobei er eine entsprechende Gelegenheit zum Anhalten auf der Bundesstraße wegen dichten Verkehrs nicht gefunden habe, eine Notstandslage verneint. Im Rahmen der Begründung zum Fahrverbot führt das Amtsgericht aus, dass der Betroffene Tatsachen, welche die Indizwirkung des § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV widerlegen könnten nicht vorgetragen hätte und auch sonstige Umstände, die ausnahmsweise ein Absehen vom Fahrverbot gem. § 4 Abs. 4 BKatV rechtfertigen könnten, weder dargelegt noch sonst ersichtlich seien.

Das OLG Hamm sieht im OLG Hamm, Beschl. v. 10.10.2017 – 4 RBs 326/17 – einen Erörterungsmangel:

„Die Begründung im angefochtenen Urteil zum Rechtsfolgenausspruch weist einen durchgreifenden Erörterungsmangel zu Lasten des Betroffenen auf. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein sehr starker Drang zur Verrichtung der Notdurft, der durch die besondere körperliche Disposition des Betroffenen bedingt ist (etwa: Krankheit, Gebrechen oder Schwangerschaft) und der ursächlich für die Geschwindigkeitsüberschreitung war (in dem Sinne, dass so versucht wurde, baldmöglichst eine Toilette aufsuchen zu können oder der Betroffene abgelenkt war), ein Grund sein kann, vom Regelfahrverbot abzusehen (vgl. OLG Saarbrücken NStZ-RR 1997, 379; AG Bad Segeberg, Urt. v. 04.05.2012 -5 OWi 552 Js 43380/11 (181/11) – juris). Dies ist aber keineswegs der Normalfall. Der bloße Umstand einer bestimmten körperlichen Disposition reicht hier noch nicht, da ansonsten der hiervon betroffene Personenkreis gleichsam einen „Freibrief“ für pflichtwidriges Verhalten im Straßenverkehr erhalten würde. Grundsätzlich muss der Betroffene mit einer solchen körperlichen Disposition seine Fahrt entsprechend planen, gewisse Unwägbarkeiten (wie etwa Stau, Umleitungen etc.) in seine Planungen einstellen und entsprechende Vorkehrungen treffen oder ggf. auf anfänglich auftretenden Harm- oder Stuhldrang rechtzeitig reagieren, damit ihn ein starker Drang zur Verrichtung der Notdurft nicht zu pflichtwidrigem Verhalten verleitet (vgl. etwa: AG Lüdinghausen NZV 2014, 481). Die Formulierungen im angefochtenen Urteil, dass Umstände, „die ein Absehen vom Fahrverbot gem. § 4 Abs. 4 BKatV hätten rechtfertigen können“, „weder dargelegt noch sonst ersichtlich“ seien, obwohl sie doch nach den Urteilsfeststellungen zumindest im Ansatz vorgetragen worden waren, lassen allerdings besorgen, dass der Tatrichter sie insoweit, d.h. bei der Rechtsfolgenbemessung, überhaupt nicht in seine Erwägungen mit einbezogen hat.

Der Senat kann letztlich nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen, dass der Tatrichter bei Berücksichtigung der genannten Umstände bei der Rechtsfolgenbemessung zu einer dem Betroffenen günstigeren Entscheidung gekommen wäre.

Der neue Tatrichter wird im Rahmen seiner Abwägung u.a. zu berücksichtigen haben, wie lange der Harndrang den Betroffenen schon „quälte“, ob der Betroffene in Kenntnis der bevorstehenden Fahrt und Unwägbarkeiten, mit denen immer zu rechnen ist (wie etwa Stau oder Umleitungen), etwa größere Mengen Flüssigkeit zu sich genommen hat (ggf. kann hier der Vortrag aus der Rechtsbeschwerdebegründungsschrift zu weiterer Aufklärung beitragen), inwieweit ein Anhalten am Fahrbahnrand zur Verrichtung der Notdurft eine Gefährdung des Betroffenen durch den Verkehr auf der Bundesstraße bedeutet hätte (vgl. insoweit: OLG Düsseldorf NZV 2008, 470, 471), ob ein Abfahren von der Bundesstraße ab dem Zeitpunkt des Auftretens des Harndrangs auf eine Nebenstraße zur Verrichtung der Notdurft möglich gewesen wäre, aber auch den Umstand, dass der Betroffene den neuen Verstoß nur rund drei Monate nach Ahndung des vorherigen Geschwindigkeitsverstoßes begangen hat. Weiter wird auch zu prüfen sein, ob das Auftreten von sehr dringendem Harndrang eine Situation ist, in welche der Betroffene häufiger kommt. Dann müsste er sich hierauf entsprechend einstellen und es würde das Maß seiner Pflichtwidrigkeit geradezu erhöhen, wenn er dann gleichwohl ein KFZ führt, obwohl er – wie er selbst angegeben hat – wegen des quälenden Harndrangs so „abgelenkt“ gewesen war, dass er der zulässigen Höchstgeschwindigkeit keine Beachtung mehr schenken konnte. Auch wird die in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht aufgrund der Einlassung des Betroffenen zu Tage getretenen Einstellung, dass wenn ihn starker Harndrang quäle, dann „Wichtigeres im Vordergrund“ stehe (als offenbar die Einhaltung von Pflichten im Straßenverkehr) zu werten sein.“

Also: Zweiter Durchgang. Mal sehen, wie das AG nun mit dem „Müssen müssen“ umgeht und ob wir von der Sache noch einmal etwas lesen.