Die zweite Entscheidung kommt mit dem BayObLG, Beschl. v. 11.06.2019 – 202 ObOWi 874/19 -, aus Bayern.
Gegenstand der Entscheidung ist die Ablehnung eines Beweisantrags im Bußgeldverfahren wegen Verspätung gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG. Der Betroffene ist vom AG wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt worden. Außerdem hat das AG ein Fahrverbot festgesetzt. Im Zusammenhang damit hatte der Betroffene die Vernehmung von zwei Zeugen zum Beweis der Tatsache, dass die Verhängung eines Fahrverbotes für ihn unweigerlich mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes verbunden sei, beantragt. Das AG hat diesen Beweisantrag gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG mit der Begründung abgelehnt, er sei ohne verständigen Grund so spät vorgebracht worden, dass die Beweiserhebung zur Aussetzung der Hauptverhandlung führen würde.
Das „gefällt“ dem BayObLG nicht. Es hat aufgehoben:
„b) Die gerichtliche Ablehnungsentscheidung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die auf § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG gestützte Ablehnung eines Beweisantrages setzt voraus, dass das Gericht den Sachverhalt nach dem Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme als geklärt ansieht und dass nach seiner freien Würdigung das Beweismittel oder die zu beweisende Tatsache ohne verständigen Grund so spät vorgebracht worden sind, dass die Beweiserhebung zur Aussetzung des Verfahrens führen würde. Nach der Begründung des Regierungsentwurfs soll damit verhindert werden, dass Beweismittel, deren Vorhandensein und Bedeutung dem Betroffenen längst bekannt sind, bewusst zurückgehalten werden, um eine Aussetzung der Hauptverhandlung zu erzwingen. Das Gesetz legt dem Betroffenen daher in gewissem Umfang eine Mitwirkungspflicht auf, deren bewusste Verletzung eine Ablehnung des Beweisantrags nach sich ziehen kann (vgl. KK/Senge OWiG 5. Aufl. § 77 Rn. 18 unter Hinweis auf BT-Drs. 10/2652 S. 23; ebenso Rebmann/Roth/Herrmann OWiG 3. Aufl. § 77 Rn. 12; vgl. auch Böttcher NStZ 1986, 393).
aa) Dass das Amtsgericht vorliegend ersichtlich davon ausgegangen ist, der Betroffene habe die ihm obliegende Mitwirkungspflicht verletzt, weil er dem Amtsgericht – obwohl es ihm möglich und zumutbar gewesen wäre – seine Einwendungen gegen die Verhängung eines Fahrverbotes nicht so rechtzeitig vor dem Hauptverhandlungstermin mitgeteilt hat, dass das Amtsgericht gegebenenfalls die Ladung der beiden Zeugen zum Hauptverhandlungstermin hätte bewirken können, begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken (vgl. hierzu auch BVerfG NJW 1992, 2811; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2000, 275; OLG Hamm, Beschl. v. 08.01.2008 – 2 Ss OWi 864/17 = NZV 2008, 160 = ZfSch 2008, 169 = StraFo 2008, 122 = VRS 114 [2008], 55; OLG Hamm, Beschl. v. 28.03.2010 – 3 RBs 28/09 bei juris).
bb) Allerdings hat das Amtsgericht in seinem Ablehnungsbeschluss nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die Durchführung der beantragten Beweiserhebung zu einer Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 228 StPO führen würde. Die bloße Notwendigkeit einer Unterbrechung der Hauptverhandlung im Sinne des § 229 StPO genügt insoweit nicht (Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 77 Rn. 20; Rebmann/Roth/Hermanna.O. Rn. 13; Deutscher NZV 1999, 187; OLG Hamm, Beschl. v. 08.01.2008 – 2 Ss OWi 864/17 = NZV 2008, 160 = ZfSch 2008, 169 = StraFo 2008, 122 = VRS 114 [2008], 55 und 03.02.2015 – 1 RBs 18/15 = DAR 2015, 275). Der Richter muss sich deshalb vor einer auf § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG gestützten Ablehnung Gewissheit darüber verschaffen, ob die Hauptverhandlung mit der beantragten Beweiserhebung innerhalb der Frist des § 229 Abs. 1 StPO fortgeführt werden kann (OLG Hamm, Beschl. vom 04.05.2010 – 2 RBs 35/10 bei juris). Für die Frage, ob die beantragte Beweiserhebung zur Aussetzung der Hauptverhandlung führt, ist maßgebend, ob ein seine Aufgaben pflichtbewusst erfüllender Richter auch bei angemessener Mehrarbeit (ohne Aufhebung anderer Termine oder Vernachlässigung sonstiger Pflichten) den Fortsetzungstermin zur Durchführung der Beweisaufnahme ansetzen könnte (OLG Hamm, Beschl. v. 03.02.2015 – 1 RBs 18/15 = DAR 2015, 275; vgl. auch BeckOK/Hettenbach OWiG 22. Ed. [Stand: 15.3.2019] § 77 Rn. 19). Ohne eine solche Prüfung, die sich vorliegend weder aus dem Ablehnungsbeschluss noch aus dem Hauptverhandlungsprotokoll oder den Urteilsgründen ergibt, durfte der Beweisantrag des Betroffenen nicht gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG zurückgewiesen werden (KG, Beschl. v. 17.04.2018 – 122 Ss 46/18 = VRS 133 [2017], 149). Bereits dieser Umstand verhilft der Verfahrensrüge zum Erfolg.
cc) Die auf § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG gestützte Ablehnung eines Beweisantrages als verspätet erfordert aber neben den in der Bestimmung ausdrücklich genannten tatbestandlichen Voraussetzungen, dass die dem Gericht obliegende Aufklärungspflicht die Erhebung des beantragten Beweises nicht gebietet (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2000, 275; OLG Düsseldorf VerkMitt 1989, 28 Nr 35; vgl. auch KK/Senge77 Rn. 19; Blum/Gassner/Seith OWiG § 77 Rn. 36; Haus/Krumm/Quarch Gesamtes Verkehrsrecht 2. Aufl. 2017 § 77 OWiG Rn. 36; einschränkend Göhler/Seitz/Bauer § 77 Rn. 20 und Rebmann/Roth/Hermann § 77 Rn. 12). Verletzt ist die Aufklärungspflicht, wenn das Gericht davon absieht, Beweise zu erheben, deren Benutzung sich nach der Sachlage aufdrängt oder zumindest nahe liegt (Göhler/Seitz/Bauer § 77 Rn. 4).
Wie sich aus der insoweit lückenhaften Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils zur Frage des Vorliegens eines Härtefalls, die der Senat aufgrund der ebenfalls erhobenen unausgeführten Sachrüge heranziehen kann, ergibt, hätte es sich der Tatrichterin unter Beachtung der Aufklärungspflicht aufdrängen müssen, der beantragten Beweiserhebung nachzugehen. ….“