Heute mal wieder ein Tag der StPO-Entscheidungen, den ich mit dem BGH, Beschl. v. 06.10.2020 – 4 StR 168/20 – eröffne. Gegenstand des Revisionsverfahrens war ein Urteil des LG Bielefeld. Das hatte den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Körperverletzung und in einem Fall in Tateinheit mit Beleidigung, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung, Beleidigung und mit Bedrohung sowie wegen Körperverletzung und Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Es hatte zudem die Unterbringunge des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und den Vorwegvollzug der Strafe von einem Jahr angeordnet. Ferner hatte das LG eine Adhäsionsentscheidung getroffen.
Dagegen die Revision des Angeklagten, die beim BGH Erfolg hatte: Der BGH beanstandet zwar die Verurteilung wegen Totschlags u.a. nicht, aber wegen der übrigen Delikte passt dem BGH so einiges nicht:
„1. Während der Schuld- und Strafausspruch im Übrigen keinen sachlichrechtlichen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist, hält seine Verurteilung im Fall II. 2. g) wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung sowie wegen Beleidigung rechtlicher Prüfung nicht stand.
Nach den insoweit getroffenen Feststellungen des Landgerichts geriet der Angeklagte auf einem Platz in B. in eine Auseinandersetzung und wurde daraufhin von Polizeibeamten zur Verhinderung von Straftaten dem Zentralen Polizeigewahrsam des Polizeipräsidiums zugeführt. Dort kam er der Aufforderung, sein Mobiltelefon auszuhändigen, nicht nach und beschimpfte einen der Polizeibeamten u.a. als „Nazi“. Im Anschluss daran wehrte sich der Angeklagte gegen den Versuch, ihn vom Aufnahmeraum in die Gewahrsamszelle zu verbringen, und trat kräftig und gezielt gegen die Beine der Polizeibeamten, wodurch einer von diesen Verletzungen erlitt.
a) Der (tatmehrheitlichen) Verurteilung wegen Beleidigung steht ein Verfahrenshindernis entgegen. Das Verfahren ist deshalb insoweit einzustellen.
Es fehlt an dem nach § 194 Abs. 1 Satz 1 StGB, § 158 Abs. 2 StPO erforderlichen schriftlichen Strafantrag des Verletzten. Das Schriftformerfordernis des § 158 Abs. 2 StPO verlangt grundsätzlich die Unterschrift des Antragstellers (vgl. BGH, Beschluss vom 6. November 2019 – 4 StR 392/19, Rn. 2 mwN). In der von PHK R. am 13. Januar 2019 aufgenommenen Strafanzeige findet sich zwar unterhalb der Angabe der Personalien des geschädigten Polizeibeamten der formularmäßige Vermerk „Ich stelle Strafantrag“; eine Unterschrift des Verletzten ist indes nicht beigefügt. Ein Fall, in dem eine Lockerung des Erfordernisses einer eigenhändigen Unterzeichnung des Strafantrags in Betracht kommt (vgl. RGSt 71, 358; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 158 Rn. 11 mwN; MüKo-StPO/Kölbel, 1. Aufl., § 158 Rn. 44), liegt nicht vor.
b) Soweit das Landgericht den Angeklagten in diesem Fall wegen tateinheitlich mit einer Körperverletzung begangenen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB) verurteilt hat, liegt ein Darlegungsmangel vor, weil die Strafkammer keine Feststellungen zur Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme des Angeklagten getroffen hat.
Eine Ingewahrsamnahme nach polizeirechtlichen Vorschriften ist eine Vollstreckungshandlung im Sinne des § 114 Abs. 3 StGB. Hierunter fällt jede Handlung einer dazu berufenen Person, welche die notfalls zwangsweise durchsetzbare Verwirklichung des im Einzelfall bereits konkretisierten Staatswillens bezweckt (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juni 2020 – 5 StR 157/20, NJW 2020, 2347; Urteil vom 6. Mai 1982 – 4 StR 127/82, NStZ 1982, 328, jeweils mwN). Dies ist bei dem Vollzug eines polizeirechtlichen Gewahrsams der Fall. Infolgedessen ist nach § 114 Abs. 3 StGB die Vorschrift des § 113 Abs. 3 StGB entsprechend anwendbar, wonach die Tat nicht als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte strafbar ist, wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig ist.
Das Landgericht hat nur festgestellt, dass der Angeklagte in den frühen Morgenstunden des Tattages „in eine Auseinandersetzung“ geraten war und „infolgedessen“ durch Polizeibeamte zur Verhinderung von Straftaten dem Zentralen Polizeigewahrsam des Polizeipräsidiums Bielefeld zugeführt wurde. Feststellungen zu den Hintergründen, die eine Prüfung ermöglichen, ob die Voraussetzungen des Gewahrsams nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW vorgelegen haben, hat das Landgericht nicht getroffen. Mit der Frage hat es sich auch an anderer Stelle des Urteils nicht befasst.
Damit unterliegt auch die für sich genommen rechtsfehlerfreie tateinheitliche Verurteilung wegen Körperverletzung der Aufhebung (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juli 2019 – 1 StR 265/18, Rn. 25; Urteil vom 29. August 2007 – 5 StR 103/07, Rn. 51).“
Tja, man sollte bei einer Verurteilung wegen Beleidigung dann vielleicht doch mal prüfen, ob der erforderliche Strafantrag vorliegt; immerhin sollten sich der Vorsitzende und der Berichterstatter die Akte ja „angesehen“ haben.
Und: Bei solchen Entscheidungen frage ich mich immer, warum man eigentlich nicht von der segensreichen Vorschrift des § 154 StPO Gebrauch macht. Das würde manches vereinfachen. Aber nein: Die Verurteilung wegen Beleidigung muss dann auch noch sein.
§ 154 (hier wohl: § 154a) hätte sich aufgedrängt … aber ehrlicherweise hätte sie sich auch dem BGH und dem GBA aufdrängen müssen und man hätte sich die Aufhebung damit sparen können. Die hat dann offenbar eher erzieherische Gründe.
Aber wenn die StA und die Kammer sich selbst Steine in den Weg legen wollen – getreu dem Motto „Dem wird nix geschenkt“ – das hat man dann davon.
Ich kann mir auf Anhieb nur ganz wenige Delikte vorstellen, die neben einem Tötungsdelikt überhaupt ins Gewicht fallen und nicht von vornherein im § 154 versenkt gehören. Straßenverkehrskrams vielleicht, wenn man auch noch an den Führerschein hin muss – andererseits, wo soll er denn noch fahren? Im Innenhof der JVA? Die Sperre dürfte in aller Regel kürzer sein als der Zweidritteltermin…
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