Überholen bei Sichtbehinderung, oder: Wer haftet wie?

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Die zweite Entscheidung kommt vom LG Saarbrücken. Dieses hat im LG Saarbrücken, Urt. v. 11.01.2019 – 13 S 142/18 -, über das der Kollege Gratz ja schon berichtet hat, über die Haftungsverteilung bei einem „Überholerunfall“ entschieden.

Folgendes Unfallgeschehen liegt der Entscheidung zugrunde: Der Kläger „beabsichtigte … mit seinem Ford C-Max (amtl. Kennz. pp.) nebst Anhänger aus der pp. kommend, nach links in die bevorrechtigte pp. (Zeichen 205) einzubiegen. Die Zeugin pp. befuhr mit ihrem Linienbus die pp. in Richtung pp. . Vor der Einmündung der pp. hielt sie das Fahrzeug an, da ein weiterer Linienbus die hinter der Einmündung befindliche Bushaltebucht blockierte. Sie gab dem an der Seitenlinie der Fahrbahn wartenden Kläger ein Handzeichen dahingehend, dass er gefahrlos in die pp. einfahren könne. Als dieser daraufhin anfuhr und sodann ein Stück über die Sichtlinie des Busses hinausragte, um auf die Gegenfahrbahn der pp. einbiegen zu können, kam es zur Kollision mit dem von der Beklagten zu 1) gesteuerten, bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversicherten Peugeot 106 der Beklagten zu 2) (amtl. Kennz. pp.), der den Linienbus überholen wollte. Dabei wurde der klägerische PKW im rechten Frontbereich, das Beklagtenfahrzeug an der rechten Seite beschädigt.

Mit der Klage hat der Kläger auf der Grundlage eines eigenen Mitverursachungsanteils von 40 % Schadensersatz verlangt. Das AG hat die Klage abgewiesen, da die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinter dem Vorfahrtsverstoß des Klägers zurück trete. Hiergegen die Berufung des Klägers die teilweise Erfolg hatte. Das LG geht von einer Haftungsverteilung von 25% zu Lasten der Beklagten und 75% zu Lasten des Klägers aus:

„1. Das Erstgericht ist zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Beklagten als auch der Kläger grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7 Abs. 1,17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Dies ist zu-treffend und wird von der Berufung auch nicht in Zweifel gezogen.

2. Soweit die Erstrichterin weiterhin im Rahmen der danach gebotenen Haftungsabwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG einen Verstoß des Klägers gegen § 8 Abs. 2 S 2 StVO (Missachtung der Vorfahrt) eingestellt hat, hält auch dies einer Überprüfung durch das Berufungsgericht stand.

a) Zutreffend ist zunächst der Ansatz des Erstgerichts, dass vorliegend für einen Verkehrsverstoß des Klägers ein Anscheinsbeweis streitet. Kommt es im Bereich einer vorfahrtsgeregelten Einmündung zu einer Kollision zwischen dem wartepflichtigen und dem vorfahrtsberechtigten Verkehr, so spricht der Beweis des ersten Anscheins regelmäßig dafür, dass der Wartepflichtige den Unfall durch eine schuld-hafte Vorfahrtsverletzung verursacht hat (vgl. Nachweise in den Kammerurteilen vom 12.07.2013 – 13 S 71/13, NZV 2014, 30, vom 28.03.2014 – 13 S 196/13, NJW 2015, 177, vom 29.04.2016 – 13 S 3/16, juris, vom 07.10.2016, 13 S 35/16, juris und vom 22.09.2017 – 13 S 44/17).

b) Diesen Anscheinsbeweis hat der Kläger nicht erschüttert, wie die Erstrichterin zutreffend festgestellt hat. Hierfür wäre der Nachweis von Tatsachen erforderlich, die die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs eröffnen. Dies ist etwa der Fall, wenn zum Zeitpunkt des Beginns des Abbiegevorgangs der Vorfahrtsberechtigte sich noch außerhalb der Sichtweite des Wartepflichtigen befunden hat oder noch so weit entfernt war, dass die glatte Durchfahrt des Bevorrechtigten nicht beeinträchtigt und dieser auch nicht etwa wegen der drohenden Möglichkeit eines Zusammenstoßes in Verwirrung gebracht, zu Ausgleichsbewegungen oder gar unsachgemäßem Verhalten genötigt wurde (vgl. Nachweise in den Kammerurteilen vom 09.07.2010 – 13 S 16/10 und vom 12.07.2013 – 13 S 71/13).

aa) Unabhängig davon, dass der Kläger überhaupt nicht vorgetragen hat, die Beklagte sei bei Beginn des Abbiegevorgangs noch außer Sichtweite gewesen oder habe sich in einer so großen Entfernung zum Kollisionsort befunden, dass ein Zusammenstoß nicht zu befürchten gestanden habe, ist nach den erstinstanzlichen Feststellungen jedenfalls davon auszugehen, dass es der Kläger vorliegend versäumt hat – ein langsames Hineintasten in die pp. bis zur Sichtlinie des Linienbusses kann insoweit nach der Zeugenaussage der Busfahrerin pp. zu seinen Gunsten unterstellt werden -, sich vor dem Beginn des eigentlichen Einbiegevorgangs noch einmal durch entsprechende Blickzuwendung nach links bezüglich des von dort herannahenden Verkehrs in dem erforderlichen Umfang zu orientieren. Damit hat er keine ausreichende Sorge dafür getragen, dass der bevorrechtigte Verkehr weder gefährdet noch wesentlich behindert wurde.

bb) Die Vermutung, dass sich dieser Sorgfaltsverstoß auch unfallursächlich ausgewirkt hat, hätte der Kläger allenfalls durch den Nachweis einer deutlich überhöhten Geschwindigkeit der Erstbeklagten er-schüttern können, wenn dadurch Unfallvarianten in Betracht gekommen wären, in denen er, auch bei entsprechender Blickzuwendung, von einem gefahrlosen Herausfahren hätte ausgehen dürfen oder aber die Erstbeklagte bei Beginn des eigentlichen Abbiegevorgangs noch außerhalb der Sichtweite des Klägers gewesen wäre. Dies lässt sich, wie das Erstgericht zutreffend festgestellt hat, den Zeugenaussagen nicht entnehmen. Auch ansonsten liegen keinerlei Hinweise auf eine überhöhte Geschwindigkeit vor, weshalb von einer ursprünglich beantragten Einholung eines Sachverständigengutachtens weitere Er-kenntnisse nicht zu erwarten waren. Dementsprechend hat der Kläger diesen Beweisantrag in der zwe-ten Instanz letztlich nicht mehr aufrechterhalten.

3. Im Ergebnis nicht zu beanstanden ist ferner, dass die Erstrichterin im Rahmen der Haftungsabwägung keinen schuldhaften Verkehrsverstoß der Beklagten mit einbezogen hat.

a) Auf einen etwaigen Verstoß der Erstbeklagten gegen §§ 20 Abs. 1, Abs. 5 StVO kann sich der Kläger nicht berufen, da die Vorschrift dem Schutz von Fußgängern dient (Spelz in: Freymann/Wellner, juris-PK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 20 StVO, Rn. 9), nicht aber dem des einmündenden Kraftverkehrs.

b) Gleiches gilt, soweit der Kläger behauptet hat, die Erstbeklagte habe die durchgezogene Mittellinie der Fahrbahn überfahren, als sie an dem Bus vorbeigefahren sei (§ 41 StVO, Zeichen 295). Die Fahrstreifenbegrenzung dient dem Schutz des Gegenverkehrs, nicht aber dem des nachfolgenden, einbiegen-den, kreuzenden oder querenden Verkehrs (vgl. Lafontaine in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 41 StVO, Rn. 307).

Auch lässt sich hieraus kein unmittelbares Überholverbot ableiten (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 1987 – VI ZR 66/86MDR 1987, 1018; OLG Hamm VRS 54, 458; zur durchgezogenen Linie auch Saarländisches Oberlandesgericht, Urteil vom 9. Oktober 2001 – 4 U 10/01 – 2). Eine solche Markierung schützt allenfalls dort, wo sie sich wegen der Enge der Fahrbahn faktisch wie ein Überholverbot auswirkt, lediglich das Vertrauen des Vorausfahrenden, an dieser Stelle nicht mit einem Überholtwerden rechnen zu müssen (BGH, Urteil vom 28. April 1987 – VI ZR 66/86MDR 1987, 1018; Kammerurteil vom 14.09.2012 -13 S 54/11 m.w.N.). Dies gilt allerdings nicht für den querenden Verkehr.

c) Ein Überholverbot aufgrund unklarer Verkehrslage i.S.v. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ist entgegen der klägerischen Auffassung vorliegend ebenfalls nicht zu bejahen.

aa) Unklar ist nach allgemeiner Auffassung eine Verkehrslage, wenn der Fahrzeugführer nach allen objektiven Umständen des Einzelfalles mit einem gefahrlosen Überholen nicht rechnen kann. Hiervon ist insbesondere auszugehen, wenn der Überholende nicht verlässlich zu beurteilen vermag, wie ein voraus-fahrendes Fahrzeug oder kreuzender oder einmündender Verkehr sogleich fahren wird oder er beispiels-weise die zum Überholen benötigte Strecke aufgrund Sichtbehinderungen nicht vollständig überblicken kann (Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 5 StVO, Rn. 40).

bb) Der Linienbus der Zeugin pp. stand bei der Annäherung der Erstbeklagten unstreitig auf der rechten Fahrspur der pp. . Nach Angaben des Lebensgefährten der Erstbeklagten, des Zeugen pp. (Beifahrer), hatte er den rechten Blinker betätigt. Anzeichen dafür, dass der Bus anfahren würde, lagen unstreitig nicht vor. Zwar versperrte dieser Bus die Sicht des nachfolgenden Verkehrs auf die Einmündung der pp. und damit auch auf den dort wartenden Kläger, der Straßenverlauf der linken Fahrspur war aus Sicht der Erstbeklagten jedoch geradlinig und frei überschaubar. Konkrete Anzeichen, die Anlass zu der Befürchtung gegeben hätten, die vorfahrtsberechtigte Erstbeklagte könne ihre Fahrt nicht ungehindert fortsetzen, waren nicht vorhanden. Allein die Möglichkeit, dass vor dem wartenden Bus ein Fahrzeug die bevorrechtigte Fahrbahn queren könnte, rechtfertigt eine unklare Verkehrslage und ein daraus folgendes Überholverbot für den fließenden Verkehr auf der pp. in der konkreten Situation nicht (vgl. auch Kammerurteil vom 23. Januar 2015 – 13 S 170/14).

d) Ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO ist gleichfalls nicht feststellbar. Dass die Erstbeklagte z.B. einen zu geringen Seitenabstand eingehalten hätte, so dass dem Kläger ein ungefährdetes Vortasten bis zum Überblick überhaupt nicht möglich gewesen wäre, behaupten weder Klage noch Berufung.

Ob vorliegend ein Anwendungsfall der so genannten Lückenrechtsprechung gegeben ist, wonach sich derjenige, der an einer Kolonne aus mehreren Fahrzeugen vorbeifährt, bei erkennbaren Verkehrslücken innerhalb der Kolonne in Höhe von Kreuzungen und Einmündungen diesen Lücken nur mit gespannter Aufmerksamkeit und unter Beachtung einer Geschwindigkeit nähern darf, die ihm notfalls ein sofortiges Anhalten, auch vor unvorsichtig aus der Lücke herausfahrenden Fahrzeugen ermöglicht (vgl. Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 5 StVO, Rn. 48; Kammerurteil vom 5. Dezember 2014 – 13 S 80/14), kann hier dahin stehen. Denn es kann mangels fehlender Kenntnis und mangels Möglichkeiten einer Rekonstruktion bzgl. des exakten Fahrverhaltens der beiden unfallbeteiligten Fahrzeuge und insbesondere deren Entfernung zueinander im Zeitpunkt der erstmaligen Reaktionsaufforderung an die Erstbeklagte nicht mehr beweissicher geklärt werden, ob diese bei entsprechender Sorgfalt den Unfall hätte vermeiden können. Dies geht zulasten des insoweit beweisbelasteten Klägers.

4. Nicht anzuschließen vermag sich die Kammer allerdings der Auffassung der Erstrichterin, die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs trete vorliegend angesichts des Verkehrsverstoßes des Klägers zu-rück. Zwar ist es zutreffend, dass ein Verstoß gegen die Vorfahrtsregelung die Alleinhaftung des Wartepflichtigen rechtfertigen kann (vgl. z.B. Kammer Urteil vom 09.06.2017 – 13 S 39/17). Diese Beurteilung folgt aus der besonderen Bedeutung der Vorfahrtsregelung, die dem wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer die Pflicht zu erhöhter Sorgfalt auferlegt und deren Verletzung daher besonders schwer wiegt (so bereits BGH, Urteil vom 18.09.1964 – VI ZR 132/63, VersR 1964, 1195; vgl. auch BGH, Urteil vom 23.06.1987 – VI ZR 296/86, VersR 1988, 79). Vorliegend hat sich allerdings die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs verschuldensunabhängig bereits dadurch erhöht, dass die Beklagte zu 1) an dem Linienbus der Zeugin pp., der die Sicht auf den davor befindlichen Verkehrsraum teilweise versperrte, vorbeifuhr und sich schon dadurch in eine, im Unfall realisierte, gefahrträchtige Verkehrssituation begeben hatte, zumal auch eine Unterbrechung in der Mittellinie der Fahrbahn signalisierte, dass in diesem Bereich ein Kreuzen der Fahrbahn grundsätzlich möglich war. Dem trägt eine Haftungsverteilung von 25% zu Lasten der Beklagten und 75% zu La92 Abs. 1, 100 Abs. 4 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzel-fall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).“