StPO I: Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung, oder: Bild-Ton-Übertragung reicht nicht

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Urhber: Hichhich – Eigenes Werk

Heute dann Verfahrensrecht. Und den Reigen eröffnet der BGH, Beschl. v. 11.12.2018 – 2 StR 250/18, der zum Anwesenheitsrecht des Angeklagten in der Hauptverhandlung Stellung nimmt.

Das LG hatte den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Vor der Vernehmung einer der Geschädigten beschloss die Strafkammer gemäß § 247 Satz 1 StPO die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal für die Dauer dieser Vernehmung. Der Angeklagte erhielt Gelegenheit, die Vernehmung „über Video“ zu verfolgen und über seine Verteidiger Fragen an die Zeugin zu stellen.

Der Angeklagte und eine Verteidigerin nahmen daraufhin in einem Nebenraum Platz, von dem aus sie die Vernehmung der Zeugin durch Bild-Ton-Übertragung verfolgen konnten. Ein weiterer Verteidiger verblieb im Sitzungssaal. Während der Vernehmung wurde ein Brief der Zeugin an ihre Mutter „von der Zeugin in Augenschein genommen und durch den Vorsitzenden verlesen“. Anschließend kam der Angeklagte zurück in den Saal und erklärte auf Befragen, dass er die Vernehmung der Zeugin gut habe verfolgen können und keine weiteren Fragen an diese habe. In der Revision beanstandete der Angeklagte mit der Verfahrensrüge eine Verletzung seines Anwesenheitsrechts. Das Rechtsmittel hatte Erfolg:

„3. Die Rüge ist begründet. Die Verlesung des Briefes der Geschädigten in Abwesenheit des Angeklagten war verfahrensfehlerhaft im Sinne von § 230 Abs. 1, § 247 Satz 1 StPO (a), der Fehler wurde in der Hauptverhandlung nicht geheilt (b) und auf dem Verfahrensfehler beruht das Urteil gemäß § 338 Nr. 5 StPO (c).

a) Das Landgericht hat das Anwesenheitsrecht des Angeklagten durch eine Beweiserhebung, die nicht in seiner Abwesenheit stattfinden durfte, verletzt.

aa) Der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung kommt im deutschen Strafprozess ein hoher Stellenwert zu. Sie ist nicht nur zur Wahrheitsfindung, sondern auch für die Verteidigung des Angeklagten von erheblicher Bedeutung. Deshalb bestimmt § 230 Abs. 1 StPO, das gegen einen ausgebliebenen Angeklagten keine Hauptverhandlung stattfindet. Der Angeklagte hat danach nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Anwesenheit (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2010 – GSSt 1/09, BGHSt 55, 87, 88).

Unter der Anwesenheit des Angeklagten ist dessen geistige und körperliche Präsenz am Verhandlungsort zu verstehen. Die Anwesenheit in einem Nebenraum zum Sitzungssaal genügt nicht; denn auch dies ist ein Fall der Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungszimmer im Sinne von § 247 Satz 1 StPO, der als Ausnahme von der Anwesenheit im Sinne des § 230 Abs. 1 StPO im Gesetz geregelt ist. Dies gilt auch dann, wenn dort für den Angeklagten im Nebenzimmer eine Möglichkeit zur gleichzeitigen Wahrnehmung des Verhandlungsgeschehens im Wege einer Bild-Ton-Übertragung besteht. Die Strafprozessordnung sieht keine Ersetzung der Anwesenheit des Angeklagten im Sitzungszimmer durch eine solche Bild-Ton-Übertragung in einen Nebenraum vor. Sie kennt nur die Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung eines Zeugen, der sich während der Vernehmung an einem anderen Ort befindet (§ 247a StPO). Um einen solchen Fall geht es hier nicht.

Die durch den Beschluss der Strafkammer eingeräumte Möglichkeit für den Angeklagten, „die Verhandlung über Video zu verfolgen“, war zwar geeignet, die nach § 247 Satz 4 StPO gebotene Unterrichtung zu ersetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180, 182 f.). Sie änderte aber nichts an seiner vorübergehenden Abwesenheit im Sinne von § 230 Abs. 1 StPO durch Entfernung aus dem Sitzungszimmer gemäß § 247 Satz 1 StPO.

bb) Das Recht und die Pflicht des Angeklagten zur Anwesenheit am Verhandlungsort kann nach der Strafprozessordnung nur in Ausnahmefällen durchbrochen werden. Nach der eng auszulegenden Ausnahmevorschrift des § 247 Satz 1 StPO (vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 1975 – 5 StR 431/75, BGHSt 26, 218, 220) kann der Angeklagte unter anderem während einer Zeugenvernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt werden, wenn zu befürchten ist, ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen (§ 247 Satz 1 Var. 2 StPO). Die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungszimmer ist dann aber auf die Vernehmung des Zeugen beschränkt. Eine andere Beweiserhebung, wie eine Urkundenverlesung, gehört nicht dazu, auch wenn sie einen sachlichen Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung aufweist. Da im Protokoll der Hauptverhandlung nichts anderes vermerkt ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Verlesung des Briefes der Geschädigten durch den Vorsitzenden zum Zweck des Urkundenbeweises erfolgt ist (vgl. Senat, Urteil vom 18. Oktober 1967 – 2 StR 477/67, BGHSt 21, 332, 333). Dies durfte nicht in Abwesenheit des Angeklagten geschehen.

b) Eine Heilung des Verfahrensfehlers wäre nur durch Wiederholung der Urkundenverlesung in seiner Anwesenheit möglich gewesen (vgl. Erb NStZ 2010, 347; H. E. Müller JR 2007, 79, 80). Eine solche ist nach dem Protokoll der Hauptverhandlung nicht erfolgt…..“